Auch im jüngsten Entwurf der neuen Störfallverordnung werden zum Problem der Achtungsabstände keine Regelungen dazu getroffen, wie der angemessene Abstand zu berechnen ist und unter welchen Voraussetzungen er unterschritten werden darf.

Auch im jüngsten Entwurf der neuen Störfallverordnung werden zum Problem der Achtungsabstände keine Regelungen dazu getroffen, wie der angemessene Abstand zu berechnen ist und unter welchen Voraussetzungen er unterschritten werden darf. (Bild: Tom Bayer und alphaspirit – Fotolia)

  • Der Gesetzgeber überarbeitet das Störfallrecht derzeit mit Nachdruck, denn die Frist zur Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie  in deutsches Recht ist bereits am 31.05.2015 abgelaufen.
  • Unter der Rechtsunsicherheit leiden nicht nur alle Störfallbetriebe, sondern ebenso Vorhabenträger, die im Einwirkungsbereich von Störfallanlagen ihr schutzwürdiges Projekt verwirklichen wollen.
  • Im Einwirkungsbereich von Störfallanlagen muss die Abstandsthematik unabhängig davon behandelt werden, ob das Vorhaben im Innen-, im Außen- oder im beplanten Bereich liegt.
Wenn der angemessene Sicherheitsabstand zwischen Betriebsbereich und zu schützendem Objekt durch die neue Errichtung oder wesentliche Änderung einer Anlage unterschritten wird, ist künftig immer ein Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen. Bild: Industrieblick – Fotolia

Wenn der angemessene Sicherheitsabstand zwischen Betriebsbereich und zu schützendem Objekt durch die neue Errichtung oder wesentliche Änderung einer Anlage unterschritten wird, ist künftig immer ein Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen. Bild: Industrieblick – Fotolia

Der Gesetzgeber überarbeitet das Störfallrecht derzeit mit Nachdruck, denn die Frist zur Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie  in deutsches Recht ist bereits am 31.05.2015 abgelaufen. Die Einführung des GHS (global harmonized system) zur Einstufung von Gefahrstoffen, die zum 01.06.2015 durch die CLP-Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 bewirkt wurde, hat ein neues Störfallrecht erforderlich gemacht. Art 13 Abs. 2 der Seveso-III-Richtlinie fordert wie schon Art 12 der Vorgängerrichtlinie 96/82/EG einen angemessenen Abstand zwischen Störfallbetrieben auf der einen und bestimmten schutzwürdigen Nutzungen auf der anderen Seite. Zu schützen sind namentlich Wohngebiete, öffentlich genutzte Gebäude und Gebiete, Erholungsgebiete und – soweit möglich – auch die Hauptverkehrswege.

Mängel der neuen zu erwartenden Störfall-Verordnung

Bedauerlich ist, dass der Verordnungsgeber auch im jüngsten Entwurf der neuen Störfallverordnung vom 17.08.2016  zum Problem der Achtungsabstände zwar viele neue Verfahrensregelungen einführen, aber keine Regelung dazu treffen will, wie der angemessene Abstand zu berechnen ist und unter welchen Voraussetzungen er unterschritten werden darf. Dieses Thema soll zu einem späteren Zeitpunkt in einer TA Abstand geregelt werden. Zumindest für die Zwischenzeit bis zur Verabschiedung der TA Abstand, zu der es bislang noch keinen Entwurf gibt, erzeugt dieser Rechtsbereich erhebliche Rechtsunsicherheiten. Die Praxis greift hier häufig auf die Leitfäden der Kommission für Anlagensicherheit (KAS-18  und KAS-33 ) zurück, die allerdings keine materielle Rechtsqualität besitzen. Sie wirken wie antizipierte Sachverständigengutachten, können also im konkreten Einzelfall widerlegt werden.

Unter der Rechtsunsicherheit leiden nicht nur alle Störfallbetriebe, sondern ebenso Vorhabenträger, die – wie z. B. private Bauherren – im Einwirkungsbereich von Störfallanlagen ihr schutzwürdiges Projekt verwirklichen wollen. Das Thema der Achtungsabstände betrifft nämlich nicht nur Störfallbetriebe, sondern ebenso Vorhaben, die sich im Umfeld einer Störfallanlage befinden. Damit sind auch Projekte außerhalb von Industrieparks, die für die Aufnahme von Störfallbetrieben bestens geeignet sind und wo sich daher viele Störfallanlagen befinden, mit dieser Thematik befasst.

Abstandserfordernisse der Rechtsprechung

Die Leitlinien zum Vollzug dieses Rechtes haben der EuGH und das BVerwG in den Jahren 2011 und 2012 bestimmt. Zunächst hat der EuGH im Urteil vom 15.09.2011 im Fall Mücksch (Rs. C-53/10) den deutschen Gesetzesvollzug darüber aufklären müssen, dass das Thema der Achtungsabstände keinesfalls, wie bis dahin angenommen, nur die Bauleitplanung betrifft. In Deutschland wurde die damalige EU-Vorschrift alleine durch die Planungsvorschrift des § 50 BImSchG umgesetzt. Diese legt den für die Bauleitplanung wichtigen Trennungsgrundsatz fest, wonach Wohngebiete nicht unmittelbar an Industrie- und Gewerbegebiete angrenzen dürfen. Das reichte, so der EuGH, zur Umsetzung der Seveso-II-RL aber nicht aus, denn das Thema des angemessenen Abstands stellt sich auch in jedem einzelnen Genehmigungsverfahren.

Dies betrifft einerseits Genehmigungsverfahren für die Störfallanlagen selbst, aber ebenso Genehmigungsverfahren für benachbarte Vorhaben, die zu den schutzbedürftigen Vorhaben zählen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die jeweilige Genehmigung in einem immissionsschutzrechtlichen Verfahren oder in einem Baugenehmigungsverfahren zu erteilen ist. Das bedeutet, dass seitdem auch Baubehörden, die über Vorhaben im Einwirkungsbereich von Störfallanlagen zu entscheiden haben, mit dem Störfallthema befasst sein können. Damit haben sie in der Vergangenheit aber keine Erfahrungen sammeln können, denn Störfallrecht war bislang nur ein Thema für Immissionsschutz- und Planungsbehörden. Viele Sachbearbeiter in den Baubehörden sind daher mit dem Thema strukturell überfordert. Unterdessen gibt es in Deutschland aber eine Plattform, bei der sich Vorhabenträger ebenso wie Genehmigungsbehörden fachkundigen Rat einholen können.

Die Baugenehmigungsbehörde muss das Thema nur dann nicht vertiefen, wenn der angemessene Achtungsabstand bereits zuvor im Bauleitplanverfahren bestimmt wurde. Das ist aber bei vielen Bebauungsplänen nicht der Fall und generell dann nicht, soweit es sich um ein Vorhaben im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) oder um ein Vorhaben im Außenbereich (§ 35 BauGB) handelt.

Ausnahmsweise Unterschreitung der Achtungsabstände

Die Berücksichtigung erforderlicher Abstände führt nicht zur Unzulässigkeit aller Vorhaben, die bestimmte Abstände unterschreiten. Der EuGH erlaubt es den Mitgliedstaaten, bei der Abstandsbestimmung auch andere Faktoren in Rechnung zu stellen und auf der Grundlage des konkreten Einzelfalls Vorhaben zu genehmigen, die verhältnismäßig nah an Störfallanlagen dran liegen. Auch gilt kein striktes Verschlechterungsverbot. Die „angemessenen Abstände“ sind nach der Richtlinie „langfristig“ zu wahren, also nicht im Sinne strikter Genehmigungsanforderungen zu verstehen. Gefordert wird aber, dass die Genehmigungsbehörde sich im Genehmigungsverfahren Gedanken dazu macht und hier unter Einbeziehung aller Einzelfaktoren zu einem vertretbaren Mindestabstand gelangt. Der EuGH gestattet ausdrücklich die Berücksichtigung „sozioökonomischer Faktoren“, ohne dass das weiter präzisiert wird. So können etwa die wirtschaftliche Bedeutung der Investition oder die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen für geringere Abstände zwischen Störfallanlagen und schutzwürdigen Nutzungen sprechen.

Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 20.12.2012 (4 C 11.11) weitere Einzelheiten dazu festgelegt und vor allem entschieden, dass der Behörde bei der Bestimmung des angemessenen Abstandes kein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht, weil es sich um eine gerichtlich vollständig überprüfbare Gesetzesanwendung handelt. Gefordert wird eine „nachvollziehende“ Abwägung der Störfallbelange mit den nicht störfallspezifischen Belangen, insbesondere solchen sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Art („sozioökonomische Faktoren“).

So hat das VG Düsseldorf im Beschluss vom 16.12.2011 (25 L 581/11) eine Kindertagesstätte, die in einem Abstand von nur 100 Metern von einem Chemiewerk errichtet werden sollte, nicht als rücksichtlos und damit nicht genehmigungsfähig eingestuft.

Folgerungen für Genehmigungsverfahren in und neben Industrieparks

Nach dieser Rechtsprechung ist nun eine richtlinienkonforme Auslegung des gesamten Genehmigungsrechts gefordert. Im Einwirkungsbereich von Störfallanlagen muss die Abstandsthematik unabhängig davon behandelt werden, ob das Vorhaben im Innen-, im Außen- oder im beplanten Bereich liegt. Vorhandene Bebauungspläne sind insoweit anzupassen. Vor allem ältere Bebauungspläne, bei deren Aufstellung dies noch kein Thema war, weisen regelmäßig keine einzuhaltenden Abstände auf; dies ist nun im Wege richtlinienkonformer Auslegung der Bebauungspläne nachzuholen.

Die Abstandsthematik spielt aber ebenso eine Rolle in allen immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, etwa soweit IED-Anlagen betroffen sind, denn in diesen Verfahren ist die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens eine mitzuentscheidende Frage.

Eine Einschränkung ist allerdings zu machen: Soweit es sich beim geplanten Vorhaben um einen Störfallbetrieb handelt, bestimmen sich die Anforderungen, die zur Vermeidung von Störfällen und zur Begrenzung der Auswirkungen sogenannter Dennoch-Störfälle zu ergreifen sind, alleine nach den Regeln der Störfall-Verordnung. Daneben bedarf es dann nicht zusätzlich noch der Berücksichtigung der Abstandsrechtsprechung des EuGH. Allerdings werden diese Anforderungen in den Fällen höher und strenger ausfallen, bei denen der Achtungsabstand nach KAS-18 unterschritten ist,  als im Fall der Einhaltung der dort vorgesehenen Abstandsklassen.

Wenn der angemessene Sicherheitsabstand zwischen Betriebsbereich und zu schützendem Objekt durch die neue Errichtung oder wesentliche Änderung einer Anlage unterschritten wird, ist künftig immer ein Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen. Dies ist auch derzeit schon der Fall, weil die entsprechenden Regelungen der Seveso-III-Richtlinie zur Öffentlichkeitsbeteiligung wegen der nicht erfolgten rechtzeitigen Umsetzung in deutsches Recht unmittelbar gelten. Dies erweitert automatisch die Rechtsschutzmöglichkeiten betroffener Anwohner und anerkannter Umweltverbände. Es dürfte daher zukünftig immer schwieriger werden, solche Vorhaben erfolgreich durchzuführen. Auch nach dem erfolgreichen Durchlaufen des Genehmigungsverfahrens muss dann immer noch mit einer gerichtlichen Kontrolle solcher Entscheidungen gerechnet werden. Auch für Bestandsanlagen wird die Situation schwieriger, weil es bei der Einhaltung der genannten Kriterien keinen Bestandsschutz gibt, was von Seiten der Industrie heftig kritisiert wird.

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