August 2012
„Automatisierer müssen heraus aus ihrem selbstgeschaffenen Ghetto und sich weit öffnen!“ Dieter Schaudel nimmt in der CT-Kolumne „Bits

„Automatisierer müssen heraus aus ihrem selbstgeschaffenen Ghetto und sich weit öffnen!“ Dieter Schaudel nimmt in der CT-Kolumne „Bits & Bites“ zu aktuellen Themen der Automatisierungstechnik Stellung

Die VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA) hat derzeit über 21.000 zugeordnete VDI- und VDE-Mitglieder – weniger als 500 davon kamen zu deren Hauptereignis Automation  2012 im Juni nach Baden-Baden, also keine 2,4 Prozent; ZVEI und Namur sind Mitveranstalter. Gerade mal 24 der über 200 deutschen Professoren der Automation hatten sich angemeldet und selbst diese waren nicht alle zugegen. „Oberchefs“ aus der Industrie? Nicht mal eine Handvoll. Fernsehen? Wirtschaftspresse? Fehlanzeige! Fachpresse? Kaum Chefs, mehr „zweite Reihe“ oder freie Mitarbeiter. Dabei waren Programm und Organisation vom Feinsten: 90 Vorträge im Hauptprogramm, dazu je 18 Vorträge bei „Industrielle Robotik“ und „Wireless Automation“ sowie 22 Poster, alle hochklassig und praxisorientiert – und am Abend ein höchst vergnüglicher Beitrag über die Physik des Fußballspiels. Kein faustischer Theaterdirektor kann mehr bieten! Und trotzdem – unter 500 Teilnehmer. „Hannover Messe“ und „Achema“ taugen nicht als Ausrede: In den Vorjahren war es nicht besser.

Wir haben gelernt: Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Also werden (wieder einmal) der sich neu konstituierende Vorstand und Beirat der GMA und die Verantwortlichen der Mitveranstalter eine sehr schöne, wirklich komplexe Aufgabe haben:  ernsthaft darüber nachzudenken, ob „weiter so“ für den Kongress Automation 2013 gelten solle oder ob nicht doch (endlich) ein ganz neues Konzept für die ganze Veranstaltung her muss, um gegen die Erosion der Automation (oder Automatisierungstechnik) anzugehen.

Erosion der Automation

„Erosion der Automation“ – mancher wird jetzt verständnislos den Kopf schütteln: „Wir sichern die Zukunft“ ist doch gerade als Parole ausgegeben worden!  Ja, ähnlich haben vor 20 Jahren die Feinwerktechniker auch argumentiert, bevor sie von Mikrosystemtechnik und Mechatronik überrollt wurden – und haben dabei noch gestritten, ob es denn nun Feinwerktechnik heiße oder Feinmechanik … Heute steht m. E. „die Automation“ vor einem ähnlichen Dilemma, in den Bits & „Bites“ „Königskinder“ in der CT 1/2 2012 wurde bereits darauf hingewiesen.

Mir hat der Kongress wieder gezeigt, welch bescheidene Rolle inzwischen die Automatisierer im großen Konzert der Technologien in Deutschland und weltweit spielen. Zwei exemplarische Beispiele:

Einige Wireless-Vorträge bestätigten mir, warum es nicht vorangeht. Sehr schwarz-weiß und sinngemäß zusammengefasst: Klettner (BASF) sagt: „Solange ihr Hersteller euch nicht auf einen Standard einigt, bleibt diese Enabler-Technologie bei uns in der Nische.“ Küper (Emerson Process Management) sagt, es seien doch alle Probleme mit Wireless-Hart gelöst, kauft doch endlich. Hasegawa (Yokogawa) sagt, Wire­less-Hart sei in wirklich industriellen Anlagen eigentlich Spielkram, und wenn man etwas Professionelles machen wolle, dann müsse man ISA 100 wählen; im Übrigen glaube er nicht daran, dass es einen Kompromiss zwischen den drei konkurrierenden Wire­less-Systemen für die Prozessindustrien geben werde – wobei ich vermute, dass kein Systemhersteller wirklich eine Einigung auf einen Standard will (wer es nicht glaubt, der lese das „Heathrow Team Memorandum of Understanding“ vom Januar diesen Jahres). Und Hakemeyer (Phoenix) sagt, was das ETSI (European Telecommunications Standards Institute) bei der Normung im 2,4-GHz-Band (ETSI EN 300 328) derzeit veranstalte, sei aus Sicht der Prozessindustrie erratisch, könne aber auf Jahre hinaus gravierende negative Auswirkungen auf Wireless-Hart, ISA 100 und Bluetooth und damit auf die Investitionssicherheit haben – und die deutsche Prozessindustrie und ihre Verbände seien hier machtlos. Und in dieser Kakophonie soll ein Anwender investieren?

Deutsche Akademie für Technikwissenschaften ohne Automatisierer

Nur drei Vorträge (aus Universitäten) gab es zu „Cyber-Physical Systems“. Dabei laufen dafür seit 2006 in USA millionenschwere nationale Forschungsprogramme, in denen „Control“ ein Schwerpunkt ist. In der 297-seitigen Studie „Integrierte Forschungsagenda Cyber-Physical Systems“  der Acatech (Deutsche Akademie für Technikwissenschaften), inzwischen Grundlage für große deutsche Forschungsprogramme, wird kein einziger Automatisierer als Autor genannt. Und so dienten die (sehr guten) Kongressvorträge erst einmal dazu, grundsätzlich aufzuklären, um was es überhaupt geht. Denn auch  im aktuellen Thesenpapier „Automation 2020″ der GMA kommt der Begriff überhaupt nicht vor („Industrie 4.0″ auch nicht). Offenbar haben wir Automatisierer zugelassen, dass dieses große Zukunftsgebiet (die nächste industrielle Revolution) von den Informatikern ge- und betrieben wird. Und dazu fällt einem Professor in der Diskussion nur ein, dass „wir“ das alles ja schon längst gemacht haben und es sich nur um alten Wein in neuen Schläuchen handele – in völliger Verkennung dessen, was Internet und Embedded Systems neu fordern und ermöglichen. Und bei der Acatech, der selbsternannten „Stimme der Technikwissenschaften“, findet sich im Präsidium und den Präsidialausschüssen kein Einziger, im vielköpfigen Senat und bei den vielen Mitgliedern noch nicht einmal eine Handvoll Automatisierer. Machterosion pur.

Für mich führt kein Weg daran vorbei: Die Automatisierer müssen heraus aus ihrem selbstgeschaffenen Ghetto, sich weit öffnen für die Informatik, die Mechatronik, die Mikrosystemtechnik, die Verfahrens- und Fertigungstechnik. Damit sie nicht den Weg gehen, den die Feinwerktechnik einst ging.

dieter.schaudel@schaudelconsult.de

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