Mai 2011
Mai 2011

Dieter Schaudel nimmt in seiner Kolumne "Bits & Bites" in der CT zu aktuellen Themen der Prozessautomatisierung Stellung

Gut, die Chemie hat mehr Geld, eine weltweit besser organisierte Lobby, ist sichtbarer im öffentlichen Bewusstsein (und sei es nur wegen des Plastikmülls im Mittelmeer). Aber weit und breit ist keine Initiative zu sehen, um die positiven Leistungen der Automatisierer ins rechte Licht zu rücken – noch nicht einmal als „Versorgungsschiff“ beim „Jahr-der-Chemie-Geschwader“, das mit mächtigen Bugwellen um die Welt kreuzt.

Wie? Ihr Selbstbewusstsein als Ingenieur, als Naturwissenschaftler, als Automatisierer ist nicht angekratzt? Wo Ihnen doch ständig die „-ologen“ und die Medienschaffenden um die Ohren hauen, dass auf „die Technik“ in dieser Welt kein Verlass mehr sei und erst recht nicht auf die dafür verantwortlichen Fachleute? Fukushima, Deep Water Horizon, Asse, Tschernobyl, Stuxnet, … beschämen Sie nicht, gehen Ihnen gerade am A…llerwertesten vorbei? Auch dass auf der Welt täglich etwa 3000 (!) Menschen im Straßenverkehr sterben? Ja, dann sind Sie vielleicht einer von denen, die sich zwar mit Fakten bestens auskennen, die das aber besser für sich behalten. Einer von denen, die nicht widersprechen, wenn aus vorgeblichen Kostengründen an der Security oder an der Revision gespart wird – „wenn es eine Versicherungslösung gibt, wird nicht investiert“, so der O-Ton eines hochrangigen Chemiemanagers (nicht Ingenieur!). Sind Sie vielleicht gar einer von denen, die wegschauen, wenn Sie in der Anlage entdecken, dass Messgeräte gar nicht angeschlossen sind und der Prozess deshalb „auf Strich“ läuft (x-mal habe ich das in Anlagen selbst angetroffen)? Oder sind Sie vielleicht auch einer von denen, die noch nie von der VDI-Richtline 3780 „Technikbewertung“ gehört haben, die es seit elf Jahren gibt?

Warum geben Ingenieure und Naturwissenschaftler immer klein bei?

Wo sind wir Ingenieure und Naturwissenschaftler nur hingekommen? Geht es uns einfach zu gut, so dass wir gar nicht mehr „das Undenkbare denken“ wollen, von können einmal ganz abgesehen? Warum geben wir immer klein bei, wenn Ignoranten mit Dollarzeichen in ihren Augen unsere sauber erarbeiteten Fakten vom Tisch wischen? Warum ziehen wir uns viel zu oft zurück auf die Kleinkinderposition: „Geschieht meinem Papa ganz recht, wenn ich mir die Finger abfriere“? Sind wir vielleicht deshalb Ingenieur geworden und nicht Banker?

Schon einmal etwas von den „Ethischen Grundsätzen des Ingenieurs“ gehört? (Ja, die sind vom VDI, in der letzten Fassung aus dem Jahr 2002.) Wenn nicht, dann wären Sie in bester (?) Gesellschaft: Als ich vor geraumer Zeit bei einem Ethik-Vortrag vor hochmögendem Kreis der ZVEI-Automatisierer um Handzeichen bat, wer denn die Richtlinie kenne, da hob sich keine der 300 Hände. Keine einzige. Genauso wenig wie bei meiner Frage nach der Technikbewertung-Richtlinie. So ist halt die Welt: „Erst kommt das Fressen. Und dann kommt die Moral“ (Bert Brecht). Wobei heute wohl statt „Moral“ „Geld“ stehen würde. Allerdings erleben wir scheinbar (ich sage bewusst: scheinbar) zumindest in Deutschland derzeit so etwas wie eine Wende. Ich traue dem „Stuttgart-21-Effekt“ noch nicht. Und ich glaube auch nicht, dass es plötzlich so viele „Gutmenschen“ geben soll – für Massenaufmärsche gibt es in Deutschland ja auch in jüngerer Zeit unrühmliche Beispiele, wo hinterher auch keiner dabei gewesen sein will. Auch hier wird am Ende die Wahrheit konkret sein: zum Beispiel wenn die Hochspannungsleitung übers eigene Häusle geführt werden soll …

Woran liegt es, dass „die Ethik des Ingenieurs“ an praktisch keiner unserer „Hohen Schulen“ gelehrt wird? Woran liegt es, dass in den wenigsten Firmen gleich bei der Einstellung und dann immer wieder „Ethik“, „Werte“ und „Verantwortung“ den Beschäftigten vermittelt werden? Woran liegt es, dass viele Ingenieure aus Entwicklung, Planung oder Betrieb rhetorisch so schwach sind oder sich so schwach fühlen, dass sie in fast jeder verbalen Auseinandersetzung mit einem Banker, Juristen oder Kaufmann zweiter Sieger werden?

Was tun? Wie kommen wir aus dieser Ecke heraus? Bei den Alten wird da wohl nicht mehr viel zu machen sein. Die wehren sich dann erst wieder richtig oder gehen zur Demo, wenn sie in Rente sind, am besten als Frührentner. Aber sollte nicht gerade der Bologna-Prozess mit seinen Kunstgeschöpfen „Bachelor“ und „Master“ die Absolventen befähigen, „wirtschaftstauglich“ zu sein, auch um sich mit Fakten gegen Meinungen und Ideologien durchzusetzen? Schauen Sie sich selbst das Ergebnis an. Und schauen Sie sich die an, die diese Fähigkeiten im Studium vermitteln sollten …

Nein, ich bleibe dabei: Wir brauchen ein „Jahr der Automation“! Wir müssen wieder lernen, das Unmögliche zu denken, um mindestens das Notwendige durchzusetzen. Alle die Fragen um unseren Selbstwert, um die Gebrauchstauglichkeit der Ingenieurausbildung, um die Verantwortung des Ingenieurs müssen öffentlich diskutiert werden. Wer, wenn nicht wir, muss die Antworten finden, die uns für uns selbst und in der öffentlichen Meinung aus der Ecke der „Versager“, der Katastrophenverantwortlichen, herausholen? Viel Zeit haben wir dafür nicht mehr! Wer geht voran?

Ich freue mich auf Ihre Zustimmung oder Ihren Widerspruch!

dieter.schaudel@schaudelconsult.de

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