- Gemeinsam mit Experten aus den Geschäftsbereichen des Technologiekonzerns werden im Digital Base Camp bei Linde digitale Produkte in einem zweistufigen Prozess entwickelt.
- Innerhalb von drei Monaten muss ein Produkt zum Prototypen entwickelt sein, dann wird entschieden, ob es zur Umsetzung kommt.
- Der Hochgeschwindigkeits-Ansatz zahlt sich aus: Im Fall des neuen Ersatzteil-Marktplatzes dauerte die Umsetzung von der ersten Idee bis zur Produkteinführung nur sieben Monate.
Der sechste Stock im Gebäude 1 auf dem Werksgelände von Linde im Münchener Stadtteil Pullach atmet den Geist der Wirtschaftswunderjahre des vergangenen Jahrhunderts: holzvertäfelte Wände, hohe Fenster der Energieeffizienzklasse G und Toiletten mit Druckspüler. Ein Biotop für digitale Hipster stellt man sich anders vor.
Für Philipp Karmires, Leiter Digitalisierung bei Linde, eine ganz bewusste Entscheidung, sich mit seinem Digitalisierungsteam hier anzusiedeln: „Wir wollten von Anfang an sicherstellen, dass wir kein Fremdkörper sind, sondern eine Abteilung, die mit dem Business zusammen agiert.“ Karmires, der zuvor neun Jahre lang bei Google für das Umsetzen neuer Produkte in die Anwendung sowie für Produkt-Partnerschaften zuständig war, sieht sein Team als eine Boxencrew fürs klassische Geschäft: „Ohne den Impuls vom Business Owner machen wir kein Projekt.“
In drei Monaten zum Prototyp
Gemeinsam mit Experten aus den Geschäftsbereichen des Technologiekonzerns werden im Digital Base Camp digitale Produkte in einem zweistufigen Prozess entwickelt: Innerhalb von drei Monaten muss ein Produkt zum Prototypen entwickelt sein, dann wird entschieden, ob es zur Umsetzung kommt. „Was in dieser Zeit nicht funktioniert, lassen wir wieder los“, so Karmires. Insgesamt 40 solcher Projekte haben die rund 15 Digitalisierungsexperten gemeinsam mit ihren Kollegen von Linde Engineering, Linde Gase, der IT und externen Start-up-Unternehmen seit August 2016 bereits umgesetzt, sieben davon werden inzwischen zu konkreten Produkten weiterentwickelt.
Darunter eine Virtual-Reality-Trainingsumgebung, mit der künftig Anlagenfahrer bereits während der Bauphase für den Betrieb von Produktionsprozessen geschult werden, eine Augmented-Reality-Lösung, mit der Lebensmittelhersteller die Aufstellung von Gefriertrocknern via Tablet-PC sehr einfach planen können, einen Drohnen-Scanner für Gasflaschen oder das neue Linde Plantserv Portal, ein Marktplatz für Ersatzteile, den der Anlagenbauer vor zwei Wochen live geschaltet hat (siehe Textkasten).
Das Digitalisierungsteam besteht zum Teil auch aus Mitarbeitern, die vorher mehrere Jahre im klassischen Linde-Geschäft gearbeitet haben – ergänzt durch Datenspezialisten, Softwareentwickler und Experten aus der Digitalbranche. Ergänzt wird das Team durch Spezialisten von Technologie-Start-ups und Universitäten. Außerdem leitet Karmires ein weiteres Team in Singapur – dort sollen Produkte und Services für die besonders technikaffinen Kunden im asiatischen Raum entwickelt und erprobt werden.
Scrum-Projektmanagement statt Detailplanung
Die Grundmotive der Digitalisierer sind in allen Projekten dieselben: Aus Daten sollen Werte entstehen, das Nutzererlebnis der Kunden soll verbessert werden, und schließlich sollen die technischen Systeme im Internet der Dinge miteinander verbunden werden. „Durch digitale Technologien lassen sich sehr schnell und kostengünstig neue Dinge ausprobieren und entwickeln“, erklärt Philipp Karmires. Die Ideen für neue digitale Projekte kommen oft von Mitarbeitern, die das klassische Tagesgeschäft bei Linde betreiben.
Der Hochgeschwindigkeits-Ansatz zahlt sich aus: Im Fall des Ersatzteil-Marktplatzes dauerte die Umsetzung von der ersten Idee über die dreimonatige Accelerator-Phase bis zum Produktlaunch insgesamt nur sieben Monate. Für Julien Brunel, der auf der Seite von Linde Engineering die Digitalisierungsbemühungen des Anlagenbauers leitet, sind kurze Wege und der ständige Austausch mit den Datenexperten der Schlüssel für die Geschwindigkeit: „Der wesentliche Unterschied zu unseren Anlagenprojekten ist, dass wir zu Beginn eines Digitalisierungsprojekts noch nicht alle Details und Funktionen des späteren Produkts kennen“, erklärt Brunel: „Das fällt uns Ingenieuren am schwersten.“ Im Falle der VR-Lösung für das Training von Anlagenfahrern wurde der Prototyp Trainingsexperten von Linde Engineering und Mitarbeitern von Kunden vorgestellt und erst dann die späteren Funktionen definiert. Die dabei entstandende Wunschliste wurde im Hinblick auf den späteren Trainingserfolg priorisiert und die wichtigsten Funktionen dann in sogenannten „Sprints“ programmiert. Die Vorgehensweise folgt dem „Scrum“-Ansatz, eine Methode für agiles Projektmanagement in Projekten, die nicht von Anfang an komplett geplant werden können.
Doch wie lassen sich Ingenieure, die bislang mit gutem Grund Projekte gleich zu Beginn bis zum Ende durchdenken und erst mit einem detaillierten Plan starten, für solche Methoden begeistern? „Das beste Change Management sind die gemeinsamen Projekte mit dem Kerngeschäft“, erklärt Brunel und berichtet von Kollegen, die beispielsweise das VR-Projekt zunächst skeptisch betrachtet und später im Projekt zu begeisterten Multiplikatoren wurden: „Das ist besser als jede Powerpoint-Präsentation und strahlt in das Unternehmen aus.“
Produkte aus Daten
Digitalisierung bei Linde: Die Projekte
Virtual Reality
Für die Schulung von Betriebspersonal will Linde künftig eine VR-Lösung anbieten, bei der detailgetreue 3D-Simulationen aus den digitalen Plänen von Großanlagen entstehen. Die virtuelle Kopie der Anlage ermöglicht dabei schon während der Bauphase ein realistisches Training. Ein erster Prototyp bildet einen geplanten Teilkomplex der Amur Gas Processing Plant ab – ein Projekt, das Linde im vergangenen Jahr von Gazprom gewonnen hat und das im Osten Russlands realisiert werden soll. Der VR-Trainingssimulator soll künftig Bestandteil des Serviceangebots von Linde Engineering sein. Die dafür benötigte Hardware – inklusive Laptop, VR-Brille und Controllern – lässt sich in einem speziell angepassten Hartschalenkoffer transportieren.
Predictive Maintenance
Viele der Projekte nutzen digitale Daten, die Linde seit Jahren in unterschiedlichen Geschäftsfeldern sammelt. So fließen die Daten von 500.000 Sensoren in Industrieanlagen weltweit in ein neu entwickeltes Predictive-Maintenance-System. Dieses spürt Störungen an Anlagenkomponenten wie Kompressoren, Pumpen, Wärmeübertragern oder Ventilen frühzeitig auf, sodass Techniker Module vorausschauend austauschen können. Die Sensordaten werden dafür von Algorithmen analysiert, die das auf Datenanalysen spezialisierte Karlsruher Start-up Anacision entwickelt hat und die das Erfahrungswissen des Betreibers von Gaserzeugungsanlagen mit mathematischen Analysemethoden kombinieren. Allein in Südostasien erhofft sich der Betreiber durch optimierte Wartungszyklen Einsparungen von fünf Mio. Euro pro Jahr.
Smart Glasses
Um bei Störfällen, Inspektionen und Reparaturen zu helfen, ohne langwierige Anreisen in Kauf zu nehmen, hat Linde die auf Datenbrillen basierenden Systeme Linde GO und Hydro AR entwickelt. Beim von der Engineering Division umgesetzten Projekt Linde GO werden Bilder von der in die Datenbrille eines Mitarbeiters vor Ort integrierten Kamera auf den Bildschirm eines Experten des Anlagenbauers übertragen. Dieser kann so dem Mitarbeiter vor Ort konkrete Anweisungen geben. Hydro AR funktioniert ähnlich und wird speziell für die Wartung von Wassertstoff-Tankstellen genutzt.
Augmented Reality
Ähnlich wie das Online-Spiel Pokémon Go funktioniert die App Freez AR. Mit ihrer Hilfe lassen sich in der Lebensmittelindustrie Froster-Anlagen in die Betriebsumgebung eines Kunden projizieren. So können Vertriebsmitarbeiter Anlagen in ihrem künftigen Umfeld in realer Größe zeigen und deren Funktionen interaktiv demonstrieren. Das Display auf einem Tablet-Computer oder Smartphone zeigt dazu das reale Bild der Kamera, erweitert um animierte Szenen.
Drohnen-Scanner
In Füllwerken den Überblick über die vorhandenen Gasflaschen zu erhalten, ist kein einfaches Unterfangen. Künftig könnte dies mit Hilfe von Drohnen geschehen, die zu festgelegten Zeiten das Gelände des Füllwerks abfliegen und die Barcodes am Kopf der Gasflaschen fotografieren und um GPS-Informationen ergänzt abspeichern.
KI-Liefer-Optimierung und Transport-Sicherheit
Künstliche Intelligenz soll künftig dabei helfen, die Auslieferung von Gasflaschen zu optimieren. Auf Basis vorhandener Daten wurde ein Vorhersage-Algorithmus für Lieferfahrten entwickelt, mit dem der Transport von jährlich fast 90.000 Gasflaschen vermieden wird. Und weil Gase-Transporte wie alle LKW-Fahrten immer auch ein Unfallrisiko bedeuten, haben die Experten mit Hilfe von KI das Programm AI Transport Safety Guardian entwickelt, bei dem ein Algorithmus Informationen über Verkehrsströme, Wetterprognosen, Fahrtenschreibern, Sicherheitsmeldungen und der Routenplanung dazu nutzt, sichere Routen vorzuschlagen.
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