Erdbeben-Risikogebiete in Deutschland

Erdbeben-Risikogebiete in Deutschland (Bild: GFZ Helmholtz- Zentrum Potsdam)

  • Erdbebensicherheit ist ein weniger offensichtlicher, aber dennoch wichtiger Gesichtspunkt für den Chemieanlagenbau in Deutschland.
  • Der Eurocode DIN EN 1998-1/NA gibt die zu berücksichtigenden Auslegungen und Risikobewertungen vor.
  • Industriedienstleister können Betreiber hierbei unterstützen.

Am 9. Juli 2022 überraschte ein Erdbeben der Stärke 4,1 viele Menschen in Baden-Württemberg. Das Epizentrum lag in Hechingen am westlichen Rand der schwäbischen Alb. Die Erschütterungen waren jedoch noch bis ins Elsass zu spüren. Auch wenn es sich dabei im Vergleich zu gefährdeteren Regionen der Welt – z. B. Nepal (Bhaktapur), Japan (Fukushima) oder China (Provinz Yunnan) – nur um ein mäßiges Erdbeben handelte, können daraus bereits Gefahren für den Betrieb von Chemieanlagen resultieren und die Sicherheit von Menschen, Sachwerten und der Umwelt gefährden. Schon vor 65 Jahren wurde in Folge eines Schadenbebens in Euskirchen (Rheinland) die erste deutsche Erdbebennormung eingeführt – die DIN 4149 mit dem Titel „Bauten in deutschen Erdbebengebieten“.

Deutsche Erdbebennormung wird abgelöst

Die Norm kam in Deutschland zur Anwendung, um die Relevanz des Lastfalls Erdbeben für den jeweiligen Anlagenstandort zu prüfen und entsprechende Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Sie definiert vier verschiedene Erdbebenzonen, denen Gebiete in Deutschland zugeordnet werden, wenn dort Beben hinreichend wahrscheinlich eine bestimmte Intensität erreichen können. Nachteil ist, dass viele Regionen Deutschlands keiner Erdbebenzone zugeordnet werden oder auf Grenzverläufen zwischen den Zonen sprunghafte Übergänge auftreten. Zudem stammen die zugehörigen Gefahreneinschätzungen aus Untersuchungen der 1990er Jahre. Die deutsche Norm DIN 4149 für erdbebensicheres Bauen wurde zuletzt Mitte der 2000er Jahre aktualisiert.

Mittlerweile haben sich auf europäischer Ebene neue Methoden zur Evaluierung von Erdbebengefährdungen etabliert, die im Rahmen der Europäisierung der Baunormung im sogenannten Erdbeben Eurocode 8 festgeschrieben sind (in Deutschland: DIN EN 1998). Dieser trägt den Titel „Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben“ und ersetzt die bislang gültige DIN 4149. Der Eurocode definiert grundlegende Regeln der Erdbebenbemessung und erhält im jeweiligen Mitgliedstaat seine Rechtsgültigkeit in Kombination mit dem Nationalen Anhang – hierzulande ist das der deutsche Nationale Anhang DIN EN 1998-1/NA: 2021-07.

Um die lokale Erdbebengefährdung zu beschreiben, berücksichtigt der neue Eurocode die landesspezifischen seismischen Verhältnisse, für die eine zonenfreie Darstellung gewählt wurde. Das ermöglicht eine wesentlich genauere Gefährdungsbeurteilung als zuvor: Definiert wird die Gefahr an Knotenpunkten eines gleichmäßigen Rasternetzes der geografischen Koordinaten mit einer Genauigkeit eines Zehntel Grads zum Quadrat. Daraus resultieren Distanzen zwischen den Knotenpunkten von rund sieben Kilometern in West-Ost- und elf Kilometern in Nord-Süd-Ausrichtung. Ein weiterer Vorteil: Zwischenpunkte können linear interpoliert werden, sodass sich fließende Übergänge zwischen den verschiedenen Intensitätsbereichen ergeben und abrupte Zonengrenzen wegfallen.

Gefährdungen reevaluieren

Mit Auflösung der früheren Grenzverläufe der Erdbebenzonen wird die Berücksichtigung des Lastfalls Erdbeben für einige Chemieanlagen erforderlich bzw. sie müssen für höhere Bodenbeschleunigungen (durch ein Erdbeben hervorgerufene Bewegungen) ausgelegt werden. Hierbei kommt es mitunter vor, dass innerhalb eines Chemieparks weitere Anlagen und Gebäude für den Lastfall Erdbeben auszulegen sind, die vorher unberücksichtigt bleiben konnten. Infolgedessen müssen die Auswirkungen auf die Tragstrukturen, Einbauten und Versorgungsbauwerke teils neu bewertet werden. Die Gefährdungsbeurteilungen nach dem Eurocode 8 beschränken sich nicht nur auf Brownfield-Anlagen (Bestandsanlagen). Auch im Greenfield (neue Standorte) sind die neuen verfahrenstechnischen Systeme zu untersuchen und für den Lastfall Erdbeben auszulegen.

Ein wesentlicher Faktor für die Ermittlung der Erdbebenlasten vor Ort ist der sogenannte Bodenparameter S. Durch die Auflösung der vier Erdbebenzonen muss er vielerorts neu zugeordnet werden. Der Bodenparameter S hilft, die Reaktion eines Bauwerks auf die von einem Erdbeben erzeugten, meist horizontal in verschiedenen Richtungen wirkenden Kräfte (elastisches horizontales Antwortspektrum) zu beschreiben. Dafür berücksichtigt er zum einen die Höhe der spektralen Bodenbeschleunigung, zum anderen bezieht er die Untergrundverhältnisse mit ein, weil sie Einfluss auf die Stärke möglicher Beben haben – in Abhängigkeit von der Beschaffenheit des Baugrundes und des tieferen geologischen Untergrundes. Die Anzahl der möglichen Antwortspektren erhöht sich dadurch von bisher sechs auf jetzt insgesamt 18. Das bedeutet für die Praxis, dass die Untergrundverhältnisse nicht nur neu zu bewerten sind, sondern auch an Bedeutung zunehmen.

Beispiele aus der Praxis

In der Metropolregion Rhein-Neckar am Produktionsstandort des Chemiekonzerns BASF in Ludwigshafen am Rhein ergibt sich nach dem neuen Eurocode zwar eine um 15 Prozent geringere Grundbeschleunigung als nach DIN 4149 (0,34 statt 0,4), andererseits erhöht sie sich um 48 Prozent infolge der Berücksichtigung des neu zugeordneten Bodenparameters S. Daraus resultieren für den Erdbebenfall signifikant höhere Ersatzlasten.

Ähnliches gilt für die Chemieanlagen im Industriepark Frankfurt-Höchst südlich des Mains. Diese fielen bereits in den Geltungsbereich der DIN 4149 und mussten für den Lastfall Erdbeben ausgelegt sein. Unter Anwendung des Erdbeben Eurocodes muss nun von einer um 57 Prozent bzw. sogar 76 Prozent (in Abhängigkeit des Bodenparameters S) größeren Grundbeschleunigung ausgegangen werden, was eine Neubewertung der Erdbebensicherheit dieser Anlagen erfordert. Die nördlich des Mains gelegenen Anlagen waren bisher der Erdbebenzone 0 nach DIN 4149 zugeordnet, Erdbebennachweise waren nicht erforderlich. Mit Einführung des Erdbeben Eurocodes ändert sich dies, sodass auch der nördliche Teil des Industrieparks für den Erdbebenfall auszulegen ist.

Erdbeben Eurocode 1998-1/NA
Erdbeben Eurocode 1998-1/NA: Ermittelte Beschleunigungen und resultierende Ersatzlasten sind etwas höher. (Bild: TÜV SÜD / Redaktion)

Geeignete Maßnahmen ergreifen

Das Antwortspektrum, also die Reaktion eines Gebäudes bzw. einer Anlage auf Erdbebenschwingungen, hängt sowohl vom Material als auch von der Bauweise ab. Vor allem Letztere bedingt die Kraftübertragung innerhalb des Bauwerks und hat einen großen Einfluss auf das Antwortspektrum. Die auftretenden Kräfte dienen im Umkehrschluss als Bemessungskriterien für Bauweise und Materialauswahl und bilden neben erdbebenspezifischen Konstruktionsregeln die Basis für die erdbebensichere Auslegung einer Chemieanlage. Diese hat nicht nur für die Tragstrukturen der Anlage zu erfolgen, sondern auch für die nichttragenden verfahrenstechnischen Einbauten und die Versorgungsbauwerke in der Peripherie, wie zum Beispiel Tanks und Silos mit den dazu gehörigen Leitungs- bzw. Fördersystemen.

Bei der Neubeurteilung der Gefährdungen durch Erdbeben sind alle die Integrität von Komponenten und Systemen einer Chemieanlage bestimmenden Punkte in den Blick zu nehmen. Geeignete Ertüchtigungsmaßnahmen ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Dimensionierungsberechnungen zum Nachweis der ausreichenden Erdbebensicherheit und angepassten Umbaumaßnahmen zur Ertüchtigung der Konstruktion. Dabei ist auch zu berücksichtigen, inwiefern sich dicht beieinander befindliche Komponenten wie eingebaute Apparate, Pumpen und Rohrleitungen schwingungstechnisch beeinflussen. Können zum Beispiel Schwankungen des Inhalts von Behältern oder Bauteilverformungen zum Problem werden? Schlimmstenfalls können Chemikalien durch Risse und undichte Flanschverbindungen austreten und unkontrolliert miteinander reagieren. Entweichen können auch leicht entzündliche Stoffe, was die Brandgefahr erhöht. Auf oben beschriebene Weise festgestellte Ertüchtigungsmaßnahmen können in der Regel bei der nächsten geplanten Revision oder Instandhaltung umgesetzt werden, außer es besteht ein unmittelbares Sicherheitsrisiko.

Unabhängige Expertise einholen

Der Erdbeben Eurocode hilft, das Risiko von Schadenbeben für den jeweiligen Standort präzise zu bestimmen und wirkungsvolle Schutzvorkehrungen treffen zu können. Die baurechtliche Einführung durch die Umsetzung in den jeweiligen Landesbauordnungen wird jedoch vielerorts zu Herausforderungen beim Nachweis der fachgerechten Erdbebenauslegung führen. Expertinnen und Experten von TÜV SÜD Chemie Service unterstützen Betreiber von Chemieanlagen dabei, alle Komponenten und Systeme für den Lastfall Erdbeben richtig auszulegen bzw. sie dafür zu ertüchtigen. Dabei berücksichtigen die Sachverständigen nicht nur die Anforderungen des neuen Erdbeben Eurocodes, sondern auch den im März 2022 erschienenen, überarbeiteten VCI-Leitfaden „Der Lastfall Erdbeben im Anlagenbau“.

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