

Jürgen Scheidt blickt auf vier Jahrzehnte Erfahrung in Führungspositionen des internationalen Großanlagenbaus zurück. Als Inhalber der Scheidt-Beratungsgesellschaft berät er Unternehmen zu Aspekten des Anlagenbaus sowie des Vertrags- und Claimmanagements.
CT: Durch die Maßnahmen rund um die Eindämmung der Covid-19-Pandemie ist für Projekte des Anlagenbaus mit Vertragsstörungen zu rechnen. Was müssen die Beteiligten tun, um keine Ansprüche zu verlieren bzw. höhere Gewalt geltend machen zu können, wenn es zu Verzögerungen kommt?
Hahn: Ob eine höhere Gewalt vorliegt, ist erst einmal kritisch zu betrachten: Wir kämpfen mit den Auswirkungen eines Regierungserlasses, das ist erst einmal keine höhere Gewalt. Ab wann tatsächlich höhere Gewalt geltend gemacht werden kann, muss im Detail im Projektvertrag geprüft werden, da ist keine allgemeingültige Aussage möglich.
Scheidt: Das, was wir im Moment rund um das Coronavirus erleben, ist m. E. ein sogenannter „schwarzer Schwan“: Die Metapher steht für ein Ereignis, das man sich eigentlich niemals hätte vorstellen können. Ob und in welchem Umfang das juristisch als Force majeure interpretiert werden kann und wie dessen Auswirkungen bewertet werden, wird die Gerichte wohl noch jahrelang beschäftigen.
CT: Dennoch haben wir es mit einer Situation zu tun, die alle Menschen gleichermaßen betrifft. Stärkt das nicht das gegenseitige Verständnis unter Projektpartnern?

Jürgen Hahn ist Mitinhaber des Beratungsunternehmens 1155PM consultants und verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung im Claim & Contract Management in industriellen Großprojekte.
Hahn: Das höre ich in den Gesprächen mit Kunden häufig: „Wir halten mit unseren Partnern zusammen und telefonieren regelmäßig zur Situation“ – das ist gut, aber das wird am Ende nicht ausreichen. Die Beteiligten müssen die Gründe für Vertragsstörungen dokumentieren – denn nach der Corona-Pandemie werden viele mit dem Rücken zur Wand stehen und schauen, welche Ansprüche noch angemeldet werden können. Gerade im industriellen Projektgeschäft rechne ich mit einer Flut an juristischen Auseinandersetzungen.
Scheidt: Das kann ich nur unterstreichen. Die aktuelle Situation fördert die Anfälligkeit von Projekten für Störeinflüsse zutage – deshalb kommt es jetzt ganz besonders darauf an, Beweise zu sichern.
CT: Das klingt jetzt sehr pessimistisch.
Hahn: Manche Kunden sagen mir: „Wir haben gar keine Probleme, wir haben noch genügend Material.“ Doch auch dann sollten sie ihre Vertragspartner regelmäßig informieren, um Fehlinterpretationen seitens der Projektpartner zu vermeiden. Ich empfehle dringend eine aktive Kommunikation.
Scheidt: Es geht schlicht und ergreifend darum, jederzeit zu wissen, wer laut Vertrag welche Pflichten hat und wo Vertragsstörungen entstehen. Das gilt unabhängig von Corona! Ich werde immer hellhörig, wenn ich in der Öffentlichkeit Formulierungen wie „Bei uns steht die Gesundheit der Mitarbeiter an erster Stelle, und wir werden alles unternehmen, um das Baustellenpersonal zu schützen“ zu lesen sind. Auf der anderen Seite wird oft gleichzeitig im Hintergrund enormer Druck auf die Kontraktoren ausgeübt, damit der finale Liefertermin trotz widriger Umstände nicht gefährdet wird.
CT: Welche Gefahren für Projekte sehen Sie in erster Linie?
Hahn: Die größte Gefahr besteht darin, dass man sich aufgrund einer verlängerten Bauzeit mit Mehrkosten auseinandersetzen muss. Wenn Force majeure gilt, dann steht den Betroffenen meistens nicht mehr Geld zu, aber mehr Bauzeit. Ist ein Regierungserlass die Ursache, dann kann das mehr Geld und mehr Bauzeit sein. Aber wenn man die Ursachen und Wirkungen nicht dokumentiert, dann braucht man sich später auch nicht wundern, wenn eine Vertragsstrafe droht. Viele Unternehmen sind jetzt damit konfrontiert, dass Kontraktoren oder Lieferanten mit Forderungen kommen, die gar nichts mit Force majeure zu tun haben, sondern die sich schon lange abgezeichnet haben. Da wird das Coronavirus als Feigenblatt benutzt – wenn man genau hinschaut, dann sieht man häufig, dass die Ursachen bereits lange vor Corona zu erkennen waren. Die Abwehr von Vertragsstrafen wird meiner Meinung nach das größte Thema. Aber auch Ineffizienz infolge von Homeoffice-Lösungen zu beweisen, wird wichtig werden.
Scheidt: Auch eine weitere Frage ist in Zusammenhang mit einer Force majeure brisant: Wie gut ist der Kontraktor eigentlich auf seine Schadensminderungspflicht eingegangen? Was hat er unternommen, um das Eintreten und die Auswirkung von Force majeure so gering wie möglich zu halten? Und: Man muss den Vertragspartnern auch die Chance geben, Maßnahmen abzulehnen und Alternativen zu verfolgen.
CT: Das stelle ich mir in Projekten, in denen sehr viele Vertragspartner zusammenarbeiten, als ziemlich schwierig vor.
Scheidt: Wir sprechen hier von einem „concurrent delay event“: Mehrere Kontraktoren sind gleichzeitig betroffen und beeinflussen sich gegenseitig entlang ihrer Schnittstellen. Es geht ja nicht nur um einen Auftragnehmer auf der Baustelle, sondern um eine komplexe Leistungskette, bei der unterschiedliche Unternehmen Pflichten und Schnittstellen im Hinblick auf die Fertigstellung haben. Und alle sind direkt und indirekt von dieser Krisensituation betroffen. Hier eine faire Gewichtung zu erreichen – das ist eine Aufgabe, wie sie in der Welt ihresgleichen sucht.
CT: Was empfehlen Sie generell, um typische Auseinandersetzungen in Projekten zu vermeiden?
Hahn: Das geht schon bei der Projektakquise los: Da werden oft Zugeständnisse gemacht und Rahmenbedingungen akzeptiert, bei denen Probleme vorprogrammiert sind. Verträge müssen beiden Seiten Spaß machen, und sie müssen so gestaltet sein, dass die Parteien auch auf Änderung im Projektablauf sachlich reagieren können.
Scheidt: Nicht nur dem Projektleiter, sondern allen Projektbeteiligten muss klar sein, wie der ungestörte Vertragsablauf aussehen soll und wie das Schuldverhältnis definiert ist – wir bezeichnen das als die „vertragliche Baseline“. Ohne Baseline kein Claim: In diesem Wissen kann man das Vertragsmanagement proaktiv gestalten. Warum nicht mit dem Kunden bereits beim Kick-off verabreden, dass man für jede Projektbesprechung das Thema Claims auf die Agenda nimmt? Beispielsweise mit der Frage: „Hat sich etwas geändert und haben wir gegenseitig Ansprüche im Projekt?“ So kann man das adressieren und schiebt keinen wachsenden Berg an Ansprüchen vor sich her.
Hahn: Gute Verträge sehen für die Anzeige von Vertragsstörungen und Claims fristbewehrte Klauseln vor, um die Kostentransparenz im Projekt zu vergrößern. In der Projektkorrespondenz sollte man auf den Tonfall achten, um die Partnerschaft nicht zu gefährden – beispielsweise indem man anruft und ein Schreiben ankündigt, mit dem man einen Claim anmelden will. Das gilt übrigens für alle Beteiligten: Ansprüche sollten immer prüffähig dokumentiert sein. Überspitzt formuliert: Die Begründung muss so geschrieben sein, dass die eigene Oma diese versteht, in Tränen ausbricht und einem dann auf die Schulter klopft und sagt „Junge, das steht dir wirklich zu!“
Corona-Krise in der deutschen Industrie – die Meldungen in Bildern

Am 26. Februar hat die Corona-Pandemie auch die deutsche Industrie erreicht: Die Hannover Messe meldet, dass sie mögliche Risiken durch die Corona-Epidemie im Blick behalten will. Für eine Terminverschiebung sei es aber noch zu früh. (Bild: Deutsche Messe)
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Bild: Deutsche Messe

28.02.2020: Der Chemiekonzern BASF hat für das Geschäftsjahr 2019 sinkende Umsätze und Gewinne gemeldet. Für Hoffnung sorgt ein überraschend starkes Ergebnis im vierten Quartal, für Sorgen die Auswirkungen des Corona-Virus.
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Bild: BASF

Ebenfalls am 28.02.2020: Der Automatisierungsanbieter Emerson verschiebt seine für März geplante Anwenderkonferenz Exchange aufgrund des Corona-Virusausbruchs. In Mailand, wo die Konferenz hätte stattfinden sollen, hatte sich die Lage bereits verschärft.
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Bild: Redaktion

Am 4.3. entschied die Deutsche Messe dann, dass die Hannover Messe 2020 auf die Woche vom 13. bis 17. Juli verschoben werden soll. Die Deutsche Messe AG reagierte damit auf die weltweiten Entwicklungen rund um Covid-19 (Coronavirus).
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Bild: Deutsche Messe

09.03.2020: Aufgrund der zunehmenden Ausbreitung des Corona-Virus in Europa und auf Basis der Empfehlung der Bayerischen Staatsregierung sowie der zuständigen Gesundheitsbehörden sieht sich die Messe München gezwungen, die Analytica 2020 zu verschieben. Die Fachmesse für Analytik und Laborausrüstung soll nun vom 19. bis zum 22. Oktober 2020 stattfinden.
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Bild: Messe München

12.03.2020: Der Chemieverband VCI meldet: Die wirtschaftliche Lage der chemischen Industrie in Deutschland hat sich im 4. Quartal 2019 verbessert. Dennoch blieb das Niveau deutlich unter Vorjahr. Und die Aussichten sind angesichts der Corona-Pandemie verhalten.
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12.03.2020: Die Fachmesse für Wasser-, Abwasser-, Abfall- und Rohstoffwirtschaft IFAT wird wegen der Coronavirus-Epidemie auf den 7. bis 11. September 2020 verschoben. Der Aufsichtsrat der Messe München hat den Schritt in einer Sondersitzung am Mittwoch, 11.03.2020, beschlossen.

12.03.2020: Der Spezialchemie-Konzern Lanxess meldet, dass er „in einem anhaltend herausfordernden wirtschaftlichen Umfeld“ seine Jahresziele für 2019 erreicht hat. Die operative Entwicklung sieht der Konzern als stabil, voraussichtlich wird die Coronavirus-Epidemie jedoch das Ergebnis 2020 belasten.
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Bild: Lanxess

16.03.2020 Der saudische Ölkonzern Saudi Aramco meldet, dass er im abgelaufenen Geschäftsjahr einen Gewinnrückgang um 21 Prozent hinnehmen musste. Und auch für das laufende Jahr sehen die Perspektiven aufgrund der Corona-Krise nicht gut aus.
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Bild: Saudi Aramco

17.03.2020: Die Chemieindustrie gehört bereits zu den am stärksten von der Corona-Epidemie betroffenen Branchen: 63,6 % der Unternehmen in der Chemieproduktion berichten von negativen Auswirkungen.
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Bild: Adobe Stock

18.03.2020 Im ersten Jahr als Wintershall DEA hat die BASF-Öl- und Gastochter ihre Produktion auf ein neues Rekordniveau gesteigert. Aufgrund des niedrigen Ölpreises ging der Gewinn aber trotzdem deutlich zurück. Und 2020 sorgt die Corona-Krise für eine Investitionskürzung.
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Bild: Wintershall

19.03.2020: Die Messe WTT-Expo meldet, dass sie in diesem Jahr zum ersten Mal nicht in Karlsruhe sondern in Düsseldorf stattfinden wird. Die Veranstaltung für industrielle Wärmerückgewinnung, Industriewärmeübertrager und Wärmeträgertechnik-Systeme wird vom 7. bis 9. Dezember 2020 als Fachschau im Rahmen der verschobenen Messe Tube Düsseldorf durchgeführt.
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Bild: Kelvion

20.03.2020: Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) hat das von der Bundesregierung beschlossene milliardenschwere Hilfsprogramm sowie die steuerpolitischen Erleichterungen ausdrücklich begrüßt. Gleichzeitig fordert der Verband jedoch weitere Maßnahmen zur Stärkung der Liquidität.
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Bild: VCI

23.03.2020: Medien melden, dass die USA in den Preiskrieg zwischen Saudi-Arabien und Russland eingreifen wollen, den diese in Folge der Corona-Krise angezettelt haben. In der Diskussion ist ein Einfuhrstopp, um die amerikanische Ölindustrie zu schützen.
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(Bild: ralex3D – Fotolia)

23.03.2020: Um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Epidemie abzufedern, haben sich die Tarifparteien in der Chemie auf befristete Maßnahmen geeinigt. Die Vereinbarung betrifft unter anderem die Möglichkeit zur Kurzarbeit sowie das im letzten Abschluss eingeführte „Zukunftskonto“.
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24.03.2020: Weil die Fachmesse für Wasser-, Abwasser-, Abfall- und Rohstoffwirtschaft Ifat wegen der Coronavirus-Epidemie auf den 7. bis 11. September 2020 verschoben wird, hat die CHEMIE TECHNIK einen neuen Online-Themenchannel gestartet, der ihre Leser bis zur Ifat bis im Herbst auf dem Laufenden halten soll.
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Bild: CHEMIE TECHNIK

26.03.2020: BASF hat damit begonnen, Krankenhäusern in der Metropolregion Rhein-Neckar kostenlos Hand-Desinfektionsmittel zur Verfügung zu stellen. Der Chemiekontzern will damit dem derzeitigen Engpass bei Hand-Desinfektionsmitteln begegnen, der sich aufgrund der deutlich erhöhten Nachfrage ergeben hat.
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Bild: BASF

26.03.2020: Auch der ungarische Mineralöl-Konzern MOL hat im Zuge der Corona-Krise mit der Produktion von Hand- und Oberflächen-Desinfektionsmitteln begonnen. Das Unternehmen hat dazu in Rekordzeit eine Produktionsanlage umgestellt.
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Bild: MOL

26.03.2020: Der Münchner Chemiekonzern Wacker meldet, dass man bereits am vergangenen Wochenende damit begonnen hat, Chemikalien zur Herstellung von 15.000 Litern Handdesinfektionsmittel für bayerische Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen zu spenden.
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Bild: Wacker

25.03.2020: Der deutsche Großanlagenbau hat sich nach Jahren des Auftragsrückgangs im vergangenen Jahr trotz volatilem Marktumfeld und starkem Wettbewerbsdruck stabilisiert. Allerdings bereiten Ölpreis-Verfall und Corona-Pandemie den Branchenvertretern Sorgen
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Bild: VDMA

26.03.2020: Erst verschoben, jetzt komplett abgesagt: Die Hannover Messe wird in diesem Jahr zum ersten Mal seit 73 Jahren nicht stattfinden können.
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Bild: Deutsche Messe

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