- Neuheiten in der Messtechnik und im Bereich IIoT zu erproben, ist in Produktionsanlagen mit einem hohen Risiko verbunden.
- Merck, Darmstadt, nutzt die Anlage für die Trinkwasserspeicherung als Umgebung für Proof-of-Concept-Szenarien.
- In dieser Umgebung sind die Hürden bezogen auf Regularien, Ex- und SIL-Anforderungen gering.
Neuheiten in der Messtechnik und im Bereich IIoT zu erproben, ist in Produktionsanlagen mit einem hohen Risiko verbunden. Im biotechnologischen Bereich unterliegen die Anlagen zum Beispiel GMP-Regularien, die es quasi unmöglich machen, ein Messgerät zu Testzwecken ohne Konformitäts-Check zeitweilig gegen ein anderes auszutauschen. In der chemischen Produktion sind es hingegen allgegenwärtige explosionsgeschützte Bereiche oder SIL-Sicherheitseinrichtungen, die die Erprobung neuer Technologien deutlich erschweren. Zu den regulatorischen Einschränkungen und den Anforderungen der Anlagensicherheit gesellen sich außerdem praktische Gründe, Tests nicht in produktiven Anlagen durchzuführen: So müsste beispielsweise für den Austausch eines Messgeräts der laufende Prozess unterbrochen werden, was jedoch zu hohe Kosten verursacht.
Aus diesen Gründen identifizierte man bei Merck die Anlage für die Trinkwasserspeicherung als ideale Umgebung für Proof-of-Concept-Szenarien. Diese Anlage fungiert als Trinkwasserspeicher für das gesamte Werk in Darmstadt. Mit dem Speicher wird die Versorgungsicherheit erhöht: Kommt es zu Störungen in der externen Versorgung, kann die Trinkwasserversorgung aus den Pufferspeichern aufrechterhalten werden.
Die beiden Speichertanks decken etwas mehr als den Tagesbedarf des Werks ab. Weil die Trinkwasserbedarfe des Werks stark schwanken, soll der Trinkwasserspeicher andererseits auch die Entnahmeschwankungen aus dem kommunalen Netz ausgleichen – der Zufluss vom Versorger erfolgt nun gleichmäßig über 24 Stunden. Die Speicherung sowie die Versorgung des internen Netzes ist dabei voll redundant aufgebaut, sodass die Wasserversorgung sogar bei einem Wasserrohrbruch in der Anlage aufrechterhalten werden kann. Und sollte die interne Trinkwasserversorgung dennoch einmal ausfallen, fährt das System zurück auf den kommunalen Versorger.
Laut Michael Werske, Head of Utility Supply Services bei Merck, handelt es sich bei der Trinkwasserspeicheranlage um „die ideale Anlage, um Technologien zu testen und technologische Innovationen auszuprobieren“. Sie kommt ohne explosionsgeschützte Bereiche aus, alle Anlagenbereiche sind gut zugänglich. Außerdem, so Werske weiter, verbaue Merck in dieser Anlage dieselben Assets, die auch in der Chemie- und Pharmaproduktion verbaut werden.
Neue Technologien parallel getestet
„Wir testen hier zum Beispiel das IIoT-Ökosystem Netilion von Endress+Hauser und auch Augmented-Reality-Anwendungen mit Lidar Scanning von anderen Anbietern. Weil wir verschiedene Innovationen parallel testen, sind wir auch in der Lage, die neuen Technologien zu verknüpfen. Ein Kollege kann zum Beispiel die Asset-Informationen aus Netilion in die Augmented-Reality-Anwendung einbinden“, berichtet Werske. Netilion kann als Datenplattform fungieren und die aufbereiteten Daten via Connect und Application Program Interface (API) anderen Systemen verfügbar machen. Durch die Redundanz der Trinkwasseranlage können Geräte einfach getauscht werden, die Anlage biete außerdem auch genügend Platz für raumgreifende Ein- und Ausbauten sowie für verschiedene Tests, analysiert Werske die Situation vor Ort. Klar formuliert er auch das Ziel hinter den verschiedenen Pilotprojekten: „Geplant ist, neue Technologien, die sich hier bewähren, dann ebenfalls in Produktionsbereichen einzusetzen und diese auf das ganze Werk auszurollen.“
Messtechnik und Cloud-Lösungen im Testbetrieb
Im Fokus der Tests stehen auch verschiedenste neue Messgeräte sowie das IIoT-Ökosystem Netilion. Die Messinstrumente decken ein breites Spektrum an Messparametern ab: Neben Temperatursensoren und Drucktransmittern wird auch ein Analysepanel für Testmessungen der Chlor-Konzentration im Trinkwasser, das Cloud-only-Füllstandmessgerät Micropilot FWR30 oder das magnetisch-induktive Durchflussmessgerät Promag W mit Heartbeat-Technology eingesetzt. Geräte eingehend zu testen, bedeutet für Werske dann auch, diese zu stressen: „Beim Durchflussmessgerät Promag W experimentieren wir damit, Alterung oder Ansatzbildung zu simulieren, um Erkenntnisse über die Geräte im produktiven Einsatz zu gewinnen. Zum Beispiel könnten wir hier die Elektroden manipulieren, worauf die geräteinterne Heartbeat-Diagnose dann entsprechende Fehlermeldungen und Wartungsbedarfe ausgibt.“
Werskes Wunschziel für die Zukunft: Ein Prüfzyklus soll automatisiert im Sensor durchlaufen und daraus automatisch ein Bericht angelegt werden. Dann müsste das Wartungspersonal für Routineprüfungen gar nicht mehr zum Gerät geschickt werden. Diese als Heartbeat-Verifikation bekannte Funktion ist schon heute Bestandteil vieler smarter Messgeräte. Damit sie in der Praxis genutzt werden kann, muss sie noch in die Arbeitsabläufe implementiert werden. Was also technologisch bereits funktioniere, so Werske, kann in der Praxis nicht immer 1:1 umgesetzt werden.
Große Potenziale bei Wartung und Instandhaltung
Große Potenziale der derzeit im Test befindlichen neuen IIoT-Technologien sieht Werske bei der Wartung und Instandhaltung von Anlagen: „Wir wollen die Wartung in Zukunft möglichst zustandsorientiert durchführen. Momentan fahren wir die Wartung nach festen Zeitintervallen und das kostet Geld und Ressourcen.“ Zukünftig sollen die Wartungsintervalle jedoch dynamisch am Bedarf des Sensors ausgerichtet werden. Er erläutert dies am Beispiel einer abrechnungsrelevanten Durchflussmessung, wie sie auch in der Trinkwasserspeicherung im Einsatz ist: „Entweder wird diese jährlich im Prüfstand überprüft, oder die geräteinterne Überwachung findet kontinuierlich statt. Die Ersparnis an Arbeitszeit und die positiven Auswirkungen auf die Anlagenverfügbarkeit liegen auf der Hand.“
Begeistert ist man bei Merck auch vom Wireless-Hart-Adapter Fieldport SWA50, mit dem sich jede Hart-fähige Messstelle in das Wireless-Hart-Netzwerk integrieren lässt. Das Gerät ist schleifstromgespeist und lässt sich mit geringem Aufwand für alle Hart-fähigen Messstellen nachrüsten. Werske: „Das ist eine sehr gelungene Idee von Endress+Hauser, damit kann ich jede Messstelle in die Cloud bringen. Der Adapter funktioniert auch mit Fremdherstellern und er ist robust. Wir könnten theoretisch die ganzen Assets der Anlage im Nachbargebäude mit dem Fieldport SWA50 über Wireless Hart in Netilion integrieren. Das wäre mit diesem Gerät leicht möglich und schnell realisiert.“ Mit den Daten lässt sich mithilfe des IIoT-Ökosystems leicht ein Überblick über die Anlage generieren, es lassen sich Strategien zur vorausschauenden Wartung entwickeln, Kalibrierintervalle optimieren oder ein mobiles Asset Management implementieren, um nur einige Möglichkeiten aufzuzählen.
Füllstandmesswerte auf digitalen Dashboards
Ein weiteres neues Gerät, das bereits die Aufmerksamkeit einiger Mitarbeitenden auf sich ziehen konnte, ist das cloudbasierte Füllstandmessgerät Micropilot FWR30. Dieses wurde auf einem Kunststofftank platziert, der ein Edukt für den Chlorgenerator enthält. Das Gerät kommt vollständig ohne Kabel aus, denn es funkt seine Messwerte per Mobilfunk direkt in die Netilion-Cloud. Die Messwerte sowie weitere Daten – zum Beispiel die aktuelle Position, der Batteriestatus oder die Außentemperatur – werden in der Anwendung Netilion Value auf verschiedenen Dashboard-Ansichten dargestellt, die über Smartphones, Tablet-PCs oder stationäre Rechner abgerufen werden können. Michael Werske ist sich sicher, dass die visuelle Darstellung der Daten und Informationen einen großen Mehrwert bietet: „Hier sehe ich auf den ersten Blick, dass die Anlage innerhalb ihrer Spezifikationen läuft. Mit diesem smarten Sensor kann ich diese Informationen leicht gewinnen.
Fazit: Bei Merck in Darmstadt hat man sehr positive Erfahrungen damit gemacht, neue Technologien vor dem produktiven Einsatz in der Trinkwasserspeicherung zu erproben. Hier ist es möglich, unter Realbedingungen die Geräte zu testen und Know-how über die eingesetzte Technologie zu erlangen, bevor diese dann für andere Anlagen verwendet und in die werkseigenen Standards übernommen werden. In dieser Umgebung sind die Hürden bezogen auf Regularien, Ex- und SIL-Anforderungen gering. Die Erkenntnisse der Tests lassen sich dann auf die Instrumentierung bei Neubau oder Modernisierung von Anlagen übertragen. Dieses Vorgehen fördert eine erfolgreiche Implementierung neuer Technologien – ganz im Sinne der Steigerung von Produktivität, Sicherheit und Nachhaltigkeit.
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