Anlagen wie mit Lego-Bausteinen modular aufzubauen, ist ein lange gehegter Traum der Verfahrenstechnik: Grundoperationen schnell zusammenstellen, Numbering-up statt Scale-up, um Kapazitäten schnell erweitern zu können – all diese Gedanken sind nicht neu. Auch in der Prozessautomatisierung wird das Thema seit Jahren verfolgt. Inzwischen bereits acht Jahre auch sehr konkret mit dem Projekt „Module Type Package“, MTP. Die Grundidee: Bei der Modulautomation werden Modul- und Leitebene – auch „Orchestrierungs- oder Prozessführungsebene“ genannt – logisch getrennt: Das Modul nutzt einen eigenen Controller oder eine SPS, um die Logik des einzelnen Prozessmoduls auszuführen.
Auf der Orchestrierungsebene werden Prozessmodule integriert und zu einer Prozessanlage kombiniert. Das MTP fungiert ähnlich wie ein Druckertreiber als Schnittstelle zwischen Modul und Orchestrierungsebene. Es sorgt dafür, dass die Prozessmodule ohne eigenen Engineering- oder Anpassungsaufwand in das übergeordnete Leitsystem integriert werden können.
Module Type Package
Module Type Packages (MTP) sind ein Lösungsansatz, um Automatisierungssysteme in der Prozessindustrie zu modularisieren. Dadurch ist es möglich, die Flexibilität der Produktionsanlagen zu steigern. Das Konzept beruht auf dem Ansatz, dass Leitebene und Modulebene über eine neutrale Schnittstelle getrennt werden. Die Eigenschaften des automatisierten Moduls werden in einem MTP genannten Module Type Package in einem definierten und offenen Format beschrieben. Dabei ist MTP kein standardisierter Dienstekatalog, sondern die Moduleigenschaften werden von dessen Hersteller festgelegt. Module können dabei Teilanlagen, Apparate oder Ausrüstungsgruppen sein.
Das MTP wird im Engineeringwerkzeug des Modullieferanten erstellt und kann in das des Anlagenbauers importiert werden. Durch die Verwendung des MTP können zum Beispiel Bedienbilder oder Alarminformationen des Moduls automatisch im Leitsystem erzeugt und Möglichkeiten zur servicebasierten Prozessführung des Moduls geschaffen werden. Die Namur befasst sich zusammen mit dem ZVEI in gemeinsamen Arbeitskreisen mit der Spezifikation des MTP.
MTP-Einsatz lohnt sich nicht nur in der Prozessindustrie
Spannend ist dieser Ansatz für die Prozessindustrie – aber längst nicht nur: Henry Bloch, Geschäftsführer beim Automatisierungs-Dienstleister Semodia, machte deshalb zu Beginn des Namur-Fokustags MTP Appetit auf mehr: Im Schiffsbau, in der produktionsnahen Logistik über die Prozessanalytik bis hin zu Wasserstofferzeugern sieht Bloch künftige Märkte für MTP. „Ein Kreuzfahrtschiff ist nichts anderes als eine verfahrenstechnische Anlage – das trifft auch auf MTP zu“, so Bloch. Die Parallelen: Schiffe werden bereits modular gefertigt und wie auch bei Prozessanlagen sind die Inbetriebnahmekosten für die Automatisierung hoch.
Bei künftigen Wasserstoff-Elektrolyseuren sollte die Modulautomation aus Sicht von Bloch von Anfang an mitgedacht werden. Denn diese sollen schließlich, so die Grundprämissen in den Leuchtturmprojekten der Bundesregierung H2Giga und H2Mare, sowieso in Modulbauweise gefertigt werden. „Mit MTP können wir eine modulare Wasserstoff-Produktion mit definierter Schnittstelle erreichen. Das führt zu einer einfachen Integration der Elektrolyseure in die vor- und nachgelagerten Prozesse.“
MES-System ersetzt Prozessleitsystem
Doch obwohl viele Aspekte in den vergangenen Jahren definiert wurden und Automatisierungshersteller den MTP-Ansatz bereits in Produkten nutzbar gemacht haben, ist MTP bislang nicht über den Pilotstatus hinausgekommen. Über Erfahrungen in Pilotprojekten berichteten beispielsweise Sebastian Härtner vom Pharmahersteller Merck und Dr. Nils Richter von der BASF. Letzterer berichtete gemeinsam mit seinem Kollegen Christoph Kotsch über den Einsatz eines MTP-Demonstrators, mit dem der Nutzen von MTP im Hinblick auf Zeitersparnis und ein einfacheres Änderungsmanagement nachgewiesen werden konnte.
Interessant zeigte sich dabei der Ansatz, die Orchestrierung des Prozesses nicht mehr im Leitsystem durchzuführen, sondern dem übergelagerten MES (Management Execution System) zu überlassen. „Unter Manufacturing Orchestration verstehen wir das nahtlose Zusammenspiel von Automatisierung mit IT-Systemen und mit dem Bediener, wobei das MES als Process Orchestration Layer dient. Dadurch sichern wir uns einen Wettbewerbsvorteil, denn MTP ermöglicht ein effizientes Engineering. Gleichzeitig schaffen wir mit verbesserten Betriebsabläufen eine höhere Produktqualität und Lieferzuverlässigkeit“, so Richter. Auf die Frage, ob Leitsysteme (DCS) künftig noch notwendig sein werden, antwortete Richter: „Wir sehen eine kritische Masse von Use Cases, bei denen wir künftig kein DCS mehr benötigen. Immer dann, wenn die zustandsbasierte Steuerung über ein MTP geliefert wird und die Module möglichst autark ansprechbar sind.“ Aber auch für DCS-Anwendungen sehen die BASF-Automatisierer weiterhin „eine kritische Masse“. „Es kommt darauf an, für welche Aufgabe welches Konzept besser ist.“
Norm noch nicht fertig
Bei Merck, wo man das Thema MTP gemeinsam mit dem Automatisierungspartner Siemens vorantreibt, erhofft man sich vom MTP-Einsatz vor allem eine schnellere Time to Market: Gerade in Pharma-Projekten, aber auch in der Spezialchemie bedeutet eine schnellere Produktion häufig sehr viel Geld. Der Spezialchemie- und Pharma-Hersteller hat deshalb bereits einen Modulkatalog erstellt, der inzwischen über 100 Module umfasst, die zu einem Prozess verbunden werden können.
Zu den bisherigen Erfahrungen von Sebastian Härtner gehört, dass die Norm für MTP (VDI/VDE 2658) noch nicht finalisiert und betriebsbewährt ist und auch noch Interpretationsspielräume lässt. Sein Plädoyer: „Erfahrungen bei der praktischen Umsetzung müssen kontinuierlich in die Normierung einfließen.“ Zudem stünden Modulherstellern bislang nur wenig Standard-Tools wie MTP-Generatoren zur Verfügung. Anwender vermissen dagegen Standardprodukte für die Prozessorchestrierung. Das erschwere die Einbindung von modularer Ausrüstung in bestehenden Anlagen.
Eine Hürde für den schnellen und flexiblen Einsatz von Anlagenmodulen hat man bei Merck auch in den langwierigen Genehmigungsverfahren nach dem Immissionsschutzrecht (BImSchG) erkannt: Härtner und seine Kollegen wollen ihre sicherheitstechnischen Betrachtungen (Hazop-Analyse) deshalb so aufbauen, dass diese die Sicherheit der einzelnen Module aufzeigen. „Wir haben ein gutes Datenset, um den Behörden eine Mustergenehmigung zur Prüfung zu geben. Dadurch lassen sich Gesetze vielleicht so auslegen, dass eine modulare, flexibe Anlage im aktuell bestehenden rechtlichen Umfeld genehmigungsfähig ist.“
Sicherheit unabhängig von der Anlagenumgebung
Das Beispiel zeigt, dass es noch viel zu tun gibt beim Thema Safety. Deutlich wurde dies auch in Beiträgen von Hima, der TU Dresden und Anapur. Dass dies prinzipiell möglich ist, wurde in einer Live-Schalte in das P2O-Lab der TU Dresden gezeigt. Ziel ist es dabei, die verfahrenstechnischen Einzelschritte (PEA) unabhängig von der Anlagenumgebung so sicher zu gestalten, dass bei ihrer Verschaltung möglichst wenig Anpassungen notwendig werden. Das erfordert einen Safety-MTP. Erwin Kruschitz vom Beratungsunternehmen Anapur ergänzte zudem den Aspekt der Cybersecurity und zeigte ein mögliches Konzept, um Hackern den Zugriff auf die Modulautomation zu verwehren oder wenigstens zu erschweren.
„Ich glaube, wir haben mit MTP etwas Beachtliches auf die Beine gestellt – und das sollten wir jetzt in die Praxis überführen“, sagte Namur-Vorstand Dr. Felix Hanisch. Wie schnell dies gelingen kann, hängt vor allem auch am Bestellverhalten der Namur-Mitgliedsunternehmen. Christian Bamsiepe, Evonik, konstatierte: „Wir müssen das Konzept firmenintern weiter vermarkten und modulare Anlagen am Markt einfordern.“
Interview mit Axel Haller, Vorsitzender ZVEI AK Modulare Automation
Über die Modulare Automation via MTP wird schon lange geredet, zuletzt auch auf dem MTP-Fokus-Tag der Namur Ende Februar. Im CT-Interview erklärt Axel Haller, Vorsitzender des Arbeitskreises Modulare Automation im ZVEI, die Sicht der Automatisierungsanbieter.
CT: Welche Erkenntnisse haben Sie aus dem MTP-Fokustag mitgenommen, den die Namur Ende Februar veranstaltet hatte?
Haller: Ich fand die Veranstaltung sehr gut. Dort wurde der aktuelle Stand bei MTP kompakt dargestellt. Deutlich wurde zum Beispiel, dass uns Corona in der öffentlichen Wahrnehmung etwas ausgebremst hat, aber dass im Hintergrund viel gearbeitet wurde. Es waren viele Anwender mit dabei und es wurden Pilotprojekte gezeigt. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass noch mehr Anwender dabei gewesen wären, die MTP in Produktionsumgebungen einsetzen wollen.
CT: Aus Anbietersicht scheint MTP ja reif fürden Einsatz.
Haller: Auf jeden Fall. Deshalb wünsche ich mir natürlich auch, dass jetzt auch Projekte in Produktionsanlagen kommen – und da vermisse ich den Mut auf der Seite der Anwender. Häufig stehen Detailfragen im Vordergrund und wird bis zu deren Klärung abgewartet. Es ist noch nicht alles perfekt, aber man kann durchaus bereits mit Package Units oder Skids anfangen und diese via MTP in echte Produktionsanlagen integrieren. Denn wir brauchen diese praktischen Erfahrungen, um zu lernen, wo wir nachbessern müssen. Wir Automatisierungshersteller haben in den letzten Jahren bei MTP sehr viel in die Produktentwicklung investiert – und das würden wir nun gerne auch verkaufen.
CT: Stimmt der Eindruck, dass es immer dieselben Protagonisten sind, die sich über MTP unterhalten, die Breite allerdings noch fehlt?
Haller: Es stimmt, die Breite fehlt bislang. Das Problem könnten wir lösen, indem wir mehr über erfolgreiche MTP-Projekte reden. Beispielsweise passiert im Schiffsbau bereits sehr viel, aber dort wird wenig publiziert. In der Öl- und Gasindustrie ist das ähnlich. Wir müssen über unseren neuen Host, die Profibus International, sichtbarer werden.
CT: Ein Kernpunkt bei MTP ist die Multivendor-Fähigkeit. Die User wollen möglichst wenig Komplexität und wünschen sich alles aus einer Hand. Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass ein großer internationaler Anbieter das Thema selbst besetzt und einen De-Facto-Standard schafft?
Haller: Diese Gefahr besteht immer. Aber ich sehe, dass die im ZVEI organisierten Automatisierungslieferanten zusammenarbeiten und ich glaube nicht, dass das passieren wird. Außerdem können auch Automatisierungsanbieter aus dem Mittelstand das Konzept direkt mit Modullieferanten nutzen. Wenn ein Modullieferant zu uns kommt, empfehlen wir den Kunden, ihre etablierten Automatisierungslieferanten auf die Technologie anzusprechen. Denn die Host-Systeme müssen den Standard MTP beherrschen, egal von wem das Modul automatisiert wurde. MTP ist hier ein echter Game Changer. MTP versetzt Lieferanten von Package-Units in die Lage, ihr Know-how zu schützen.
CT: Beim MTP-Fokustag wurde auch der radikale Ansatz diskutiert, dass MES- oder ERP-Systeme die Automatisierungssysteme zur Orchestrierung ersetzen könnten.
Haller: Ja, aber da bin ich anderer Meinung: MES oder ERP sind meist transaktionsbasiert und nicht echtzeitfähig. Alles, was nicht zeitkritisch ist, könnte man dort als MTP-Services auslösen – beispielsweise die Anweisung, einen Behälter zu reinigen. Allerdings wird es mehrere Orchestrierungssysteme und -ebenen geben. In einem klassischen Batchbetrieb hat man als Orchestrierungssystem das Batchsystem selbst. Die Rezeptur muss sehr nah an der Echtzeit-Anforderung gefahren werden, dennoch könnte ein MES-System eine zusätzliche Probeentnahme ansteuern, sofern dies nicht zeitkritisch ist.
CT: Durch dezentrale Automation, wie sie ja auch die Open Process Automation vorsieht, wird aber der Markt für große monolithische Prozessleitsysteme deutlich enger werden.
Haller: Absolut. Wenn sich die großen Automatisierungssysteme nicht der Zeit anpassen, dann werden sie es schwer haben. Die Systeme haben dann eine Zukunft, wenn sie offen, modular und flexibel sind. Die Visualisierung wird in Richtung html5 gehen, die Controller werden kleiner und flexibler. Man wird nicht mehr so viele IO-Punkte haben, weil viele Informationen über das Netzwerk reinkommen werden. Trotzdem wird dahinter noch ein Leitsystem stehen, allerdings ein anderes.