Juli 2010

Für Automatisierer
  • Der Kongress Automation ist aus dem GMA-Kongress hervorgegangen und wird vom VDI-Wissensforum veranstaltet.
  • Die Veranstaltung findet jährlich im Juni in Baden-Baden statt.
  • Zu den Themen gehören neben Aspekten der Prozessautomatisierung auch Themen der Fertigungsautomation.
  • Der nächste Kongress Automation wird am 28. und 29. Juni 2011 stattfinden.

Automation ist Zukunft – und im Umkehrschluss: Ohne Automation keine Zukunft“ – mit diesem provokanten Statement rüttelte Roland Bent, Geschäftsführer Marketing und Entwicklung bei Phoenix Contact, die in Baden-Baden zum Kongress „Automation 2010″ versammelten Experten gleich zu Beginn wach. Angesichts der immensen Herausforderungen durch den Zielkonflikt steigender Energiebedarf versus Klimaziele unterstrich Bent die Rolle der Automatisierung als Schlüsseltechnologie, um Energie einzusparen und alternative Energien überhaupt nutzbar zu machen. Denn: Nach Schätzungen der internationalen Energieagentur IEA wird sich der Weltbedarf an Primärenergie bis 2050 verdoppeln und die Nachfrage nach elektrischer Energie sogar verdreifachen. Die Folge wäre ein globaler Temperaturanstieg um sechs Grad Celsius. „Eine für uns heute unvorstellbare Veränderung des Weltklimas mit gigantischen Auswirkungen auf die Lebensräume und weltweite Ernährung wären die Folge“, resümierte Bent.

Automatisierungstechnik kann, so Bent, an verschiedenen Stellen einen Beitrag leisten, um dies zu vermeiden: Vom Einsatz geregelter Antriebe – durch den weltweit 60 Großkraftwerke überflüssig werden könnten – über die Steigerung der Energieeffizienz von Produkten und Prozessen durch Automatisierungstechnik, mit der laut ZVEI 25 % des Energiebedarfs gespart werden könnten, bis hin zu intelligenten Netzstrukturen, durch die dezentrale Energieerzeuger vernetzt werden können. Aber auch in der Modernisierung fossiler Kraftwerke sowie zur Erhöhung der Energieeffizienz im Gebäudemanagement ist die Automatisierung eine „enabler Technology“.
Als weiteren Megatrend und damit wichtiges Betätigungsfeld sieht Bent die Sicherstellung der Trinkwasserversorgung, für die – von der Überwachung der Leitungsnetze bis zur Steuerung von Meerwasser-Entsalzungsanlagen – ebenfalls automatisierungstechnische Lösungen notwendig sind. Doch das Bewusstsein in der Öffentlichkeit ist nach wie vor ein anderes: Automatisierung wird, so Bent, immer noch mit „Jobkiller“ gleichgesetzt. Dabei sichert die Automatisierungsindustrie allein in Deutschland mit rund 230?000 Beschäftigten nach Ansicht des ZVEI mehrere Millionen Industriearbeitsplätze im Land. „Es ist eine nationale Aufgabe für alle gesellschaftlichen Kreise, einer breiten Öffentlichkeit klar zu machen, dass die Automation Zukunft ist“, resümierte Bent (siehe dazu auch Artikel „Bits & Bites“ auf Seite 18 in dieser Ausgabe).

Reizwort SIL treibt Betreibern Schweißperlen auf die Stirn
Auf dem Kongress, der neben Themen der Fabrikautomatisierung in diesem Jahr einen deutlichen Schwerpunkt für Prozessautomatisierer hatte, sorgte dieser Appell für rege Diskussionen. Aber auch Themen aus den Niederungen der Technik sorgten in Baden-Baden für Brisanz: So stellte Hans Christian Schröder vom TÜV Süd im Zusammenhang mit der funktionalen Sicherheit von Anlagenkomplexen (SIL) die Frage: „Beschäftigen wir uns mit dem Richtigen oder haben wir bisher alles falsch gemacht?“ Denn nach Meinung des TÜV-Prüfers steht der Nachweis der funktionalen Sicherheit durch SIL-zertifizierte Komponenten nicht im Einklang mit den Zielen der Normen EN 61508 und 61511. Denn bei einzelnen Bauteilen, so Schröder, handelt es sich lediglich um Komponenten, Sinn der Normen ist aber die funktionale Sicherheit des Gesamtsystems. Schröder: „Bei konsequenter Betrachtung wäre daher ein SIL-Zertifikat für einfache Komponenten nicht zu vergeben und auch nicht notwendig.“

Mit der praktischen Anwendung der DIN EN 61511 setzte sich Dr. Bernd Schrörs, Bayer Material Science, auseinander. Seiner Erfahrung nach sind mit der Ablösung des für sicherheitstechnische Fragestellungen gültigen Regelwerkes durch die Norm in Chemieunternehmen erhebliche Anstrengungen notwendig geworden, um bei gleichzeitiger Interpretation des Anforderungskatalogs auch schon die Umsetzung bei Planung und Betrieb zu gewährleisten. Da die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden bereits nach der quantitativen Bewertung der sicherheitsgerichteten Verfügbarkeit von sicherheitstechnischen Systemen fragen, wird, so Schrörs, über kurz oder lang eine Umstellung erfolgen müssen. „Während große Unternehmen da noch mithalten können, stellt sich die Frage, wie der Mittelstand und kleine Unternehmen mit dem Thema umgehen können.“

Neuer Nachweis der Eigensicherheit
Doch nicht nur bei der funktionalen Sicherheit hat sich die Nachweispflicht verändert. Auch bei der für elektrische Feldgeräte wichtigen Explosions-Schutzart „Eigensicherheit“ ist heute für den Nachweis eine andere Vorgehensweise notwendig – führte Patrick Lerévérend von Pepperl+Fuchs in seinem Vortrag aus. Denn durch die neue Fassung der VDI 165 Teil 1 vom Mai 2009 wurde der Nachweis der Eigensicherheit verschärft. Die bisherige Praxis, Zündgrenzkurven für Kurzsschlussstrom, Kapazität und Induktivität zu nutzen, berücksichtigt demnach nicht, dass bei gleichzeitigem Vorhandensein von Kapazitäten und Induktivitäten im eigensicheren Stromkreis eine erheblich höhere Leistung freigesetzt werden kann, als wenn nur eines dieser Phänomene vorliegt. In der neuen Norm wird dies nun berücksichtigt. Eine Lösung für Planer und Betreiber (50?%-Regel) wird im Beitrag „Fallstricke umgehen“ ab Seite 30 beschrieben. „Der Betreiber einer Anlage mit eigensicheren Stromkreisen muss verifizieren, dass seine Nachweise jetzt dem gültigen Stand der Technik entsprechen“, resümiert Lerévérend.

Neben dem Dauerbrenner SIL wartete der Kongress mit einer ganzen Reihe aktueller Themen auf – darunter auch ein erneuter Appell der Anwender, die Geräteintegration über das Konzept FDI zum Erfolg zu führen. Überhaupt zog sich die datentechnische Integration wie ein roter Faden durch das Veranstaltungsprogramm: Vom Asset Management der Sensoren und Aktoren, das langsam aber stetig auf der Praxisebene ankommt, bis hin zur Schnittstelle zwischen Leitsystem und MES-Werkzeugen. Dabei wurde immer wieder deutlich: Die Basis der Automatisierung bleibt die Technik „unterm Blech“, doch die Automatisierer müssen lernen, das Verständnis für und den Nutzen aus Automatisierungslösungen einer breiten Öffentlichkeit darzustellen.

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