März 2012

Trends im Chemieanlagenbau
  • Der Chemieanlagenbau hat die Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 mit Macht hinter sich gelassen. Die aktuelle Projektflut zwingt zu neuen Ansätzen und Kooperationen zwischen betreibereigenen Ingenieurabteilungen und Kontraktoren.
  • Owners Engineers setzen verstärkt auf ihre Rückwärtsintegration an bestehenden Standorten und den Chemieparks der Zukunft.
  • Selbst bei klassischen Verfahren sind immer noch Innovationssprünge möglich.
  • Während World-Scale-Anlagen als Unikate gebaut werden, geht in der Spezialchemie der Trend zur Standardisierung und zu modularen Anlagen.

Der Chemieanlagenbau hat die Wirtschaftskrise mit Macht hinter sich gelassen. Allein im Jahr 2011 wurden weltweit Chemieprojekte im Wert von über 150 Mrd. US-Dollar angekündigt – Anlagen, die in den kommenden drei bis vier Jahren gebaut werden sollen. Und auch in der Zeit danach dürfte den Anlagenplanern nicht langweilig werden. Allein der Chemieriese BASF will bis 2020 rund 30 bis 35 Mrd. Euro in neue Anlagen investieren. Dabei zeichnen sich zwei generelle Strategien ab: Hersteller von Bulk-Chemikalien (Commodities) wie Dünger oder Primärkunststoffe, darunter die Folien-Grundmaterialien Polyethylen und Polypropylen, zieht es in Regionen mit Rohstoffquellen wie dem Mittleren Osten. So hat beispielsweise der US-Chemiekonzern Dow im Joint Venture Sadara gemeinsam mit Saudi Aramco im Juli vergangenen Jahres damit begonnen, am saudischen Standort Jubail einen integrierten Chemiekomplex zu bauen. Das 20 Mrd. US-Dollar schwere Projekt soll ab 2016 jährlich drei Mio. Tonnen Chemieprodukte liefern.

Auf der anderen Seite zieht es vor allem die Hersteller von Spezialchemikalien und Hochleistungs-Kunststoffen in die Absatzregionen: Nach Milliardeninvestitionen der Chemiekonzerne BASF, Bayer, Evonik und Lanxess in Asien wurden jüngst weitere Projekte angekündigt. So will Bayer bis 2015 in Asien nochmals 1,8 Mrd. Euro investieren, die BASF plant, bis 2020 in Schwellenländern Anlagen im Wert von 10 bis 12 Mrd. Euro zu bauen, und auch die Spezialchemiekonzerne Evonik und Lanxess machten im vergangenen Jahr mit Einzelprojekten wie der 400 Mio. Euro schweren Butylkautschuk-Investition (Lanxess) oder der rund 500 Mio. Euro umfassenden Methioninanlage (Evonik) in Singapur von sich reden. Doch nicht nur Schwellenländer und asiatische Standorte stehen im Fokus. Auch in Europa und vor allem in Deutschland wird kräftig gebaut. Neben zahlreichen Neu- und Erweiterungsinvestitionen im mittleren zweistelligen Mio.-Euro-Bereich treten vor allem die Erweiterung des Chemiehafens Rotterdam (ca. 10 Mrd. Euro) und die von der BASF für den Zeitraum bis 2015 angekündigten Investitionen (9 bis 10 Mrd. Euro in Ludwigshafen) hervor. Für Aufsehen sorgte Mitte Januar 2012 der Beschluss des Konzerns, bis Ende 2014 in Ludwigshafen einen Produktionskomplex für das Weichschaum-Vorprodukt Toluylen-Diisocyanat zu bauen. Kostenpunkt: rund 1 Mrd. Euro.

Paradigmenwechsel im Chemieanlagenbau

An diesem Projekt lassen sich gleich mehrere Paradigmenwechsel in der Chemie und im Chemieanlagenbau festmachen: Durch die verstärkte strategische Ausrichtung der Chemieproduzenten hin zu nachhaltigen und energieeffizienten Prozessen nimmt die Bedeutung von Synergien zwischen Produktionsbetrieben an den Standorten zu. „Bei der Bewertung der TDI-Anlage ging es nicht nur um die Anlage selbst, sondern um die ganzheitliche Betrachtung der Energie- und Wärmeströme am Standort Ludwigshafen“, erklärt dazu der Chef des BASF-Engineerings, Peter M. Gress. Durch Skalenvorteile und effiziente Integration will der Konzern zum günstigsten TDI-Produzenten in Europa werden. Auch nach Meinung von Dr. Claas-Jürgen Klasen, Chef des Evonik-Bereichs Process Technology & Engineering, werden Standort-Synergien im Projektgeschäft immer wichtiger: „Chemieparks mit ihren zentralen Infrastruktureinrichtungen ermöglichen intensivere Energie- und Stoffverbünde, ihre Bedeutung nimmt zu.“

Die „Owners Engineers“ sehen sich heute nicht mehr nur als interne Serviceabteilungen der Chemieunternehmen, sondern wollen mit ihren Leistungen dazu beitragen, den Unternehmenswert zu steigern. Was nach Marketingslogans klingt, wird in der Praxis der Anlagenplanung mit Leben gefüllt: Ein Investitionsprojekt wird nicht isoliert betrachtet abgewickelt, sondern für das Gesamtsystem optimiert. Und unter Umständen werden höhere Investitionskosten für eine Neuanlage in Kauf genommen, wenn beispielsweise im Wärmeverbund mit anderen Betrieben am Standort der Gesamt-Energiebedarf gesenkt werden kann. „Die optimale technische Lösung ist nur in Verbindung mit der detaillierten Kenntnis der Märkte, den spezifischen Produktanforderungen, den Rohstoffmärkten und den gesamten Herstellkosten zu ermitteln und umzusetzen“, verdeutlicht Dr. Claas-Jürgen Klasen den Unterschied zwischen klassischen EPC-Dienstleistern und betreibereigenem Engineering.

„Gerade durch das  Zusammenspiel mit den Betreibern, unseren kompetenten und international erfahrenen Engineering-Kompetenzen sowie den Lieferanten in allen Phasen des Projektes werden die Anlagen termingerecht, im Budget und vor allen Dingen sicher und qualitätsgerecht fertiggestellt und angefahren. Das unterscheidet die ‚Owners Engineers‘ von anderen Anlagenbaufirmen“, pflichtet Dr. Jürgen Hinderer, Engineering-Chef bei Bayer Technology Services, bei. „Das Portemonnaie des Kunden ist auch unser Portemonnaie!“
Bayer MaterialScience hat im November 2011 in Shanghai – ebenfalls für die Chemikalie TDI – eine Großanlage (250 kt/a) nach einer neuentwickelten Technologie (Gasphasenphosgenierung) angefahren. Im Megaprojekt TDI-Projekt der BASF in Ludwigshafen geht es deshalb zum Beispiel da-gegen weniger um Fragen der Technologie oder der maßstäblichen Vergrößerung des Verfahrens, sondern vielmehr darum, wie die verschiedenen Elemente des Projekts optimal in das Uhrwerk des Verbundstandorts integriert werden können.  

Auch in der Rollenverteilung zwischen auftraggebendem Chemieproduzenten, betriebseigenem Engineering und externen Anlagenbau-Dienstleistern führt die integrierte Betrachtung zu neuen Formen der Zusammenarbeit. An die Stelle einer starren Abfolge, bei der der Auftraggeber nach der eigenen Konzeptplanung ein Auftragspaket für die schlüsselfertige Lieferung einer Anlage – von der Detailplanung über die  Beschaffung bis hin zur Montage – an ein EPC-Unternehmen vergibt, werden die Projektphasen nun ineinander verschränkt. Der Anlagenbau-Dienstleister wird einerseits früher in die Konzeptplanung einbezogen, andererseits erhält sich der Auftraggeber die Flexibilität für spätere Änderungen. Voraussetzung für diese enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit sind über das konkrete Projekt hinausgehende strategische Partnerschaften, wie sie inzwischen verstärkt zwischen den Engineering-Abteilungen der Chemieunternehmen und unabhängigen Kontraktoren geschlossen werden. Zudem werden langfristige Partnerschaften und Rahmenverträge in den kommenden Jahren die Chemie überhaupt erst in die Lage versetzen, die angekündigte Projektflut zu bewältigen. Denn nur so werden sich EPC-Unternehmen darauf einlassen, flexibel als verlängerte Werkbank der Owners Engineers zu agieren.

Strategische Partnerschaften zwischen Owners Engineers und EPC-Unternehmen

Die global agierenden Chemiekonzerne bedienen sich längst nicht mehr nur westlicher Anlagenbauunternehmen. Letzteren ist spätestens seit der Wirtschaftskrise ernsthafte Konkurrenz aus Asien erwachsen. Waren chinesische und vor allem südkoreanische Anlagenbauer bis 2008 in Projekten häufig noch willkommene Juniorpartner, die den westlichen Engineeringfirmen das personalintensive und risikobehaftete Montagegeschäft abnahmen, sind Samsung & Co. heute oft die Generalunternehmer, die bei europäischen Unternehmen nur noch Technologie zukaufen. Sie punkten mit aggressiver Preisstrategie, Bereitschaft zum Risiko, strategischer Finanzierungsförderung, politischer Unterstützung und vor allem mit der Fähigkeit, Großprojekte bis zur Montage abzuwickeln. Deutsche Anlagenbauer haben das Problem erkannt und arbeiten derzeit intensiv daran, wieder eigene Montagekompetenz aufzubauen und verstärken ihre Fertigungstiefe und Präsenz in den Regionen ihrer Kunden.

Und auch an der Preisschraube wird – sowohl auf Seiten der EPCs als auch bei den betreibereigenen Ingenieurabteilungen – gedreht. Denn immerhin mehr als die Hälfte des Projektvolumens eines EPC-Auftrags entfällt auf die Beschaffung der Ausrüstung. „Best Cost Country Sourcing“ heißt das Stichwort, mit dem vor allem personalintensive Ausrüstung vermehrt von Produzenten aus Ländern mit niedrigen Lohnkosten beschafft werden. Damit sich das lohnt, besteht für die Beschaffungsspezialisten die Kunst darin, die Balance zwischen niedrigem Einkaufspreis und den Kosten für Qualitätssicherung und Transport zu halten. Denn strikte Kontrolle und die persönliche Beziehung zum Lieferanten sind in China beispielsweise wichtiger als wasserdichte Verträge, berichten Branchen-Insider.

Auch um die dazu notwendigen interkulturellen Kompetenzen systematisch zu entwickeln und den Aufwand für die Qualitätssicherung zu senken, wollen sowohl Owners Engineers als auch europäische Kontraktoren verstärkt Personal in den Beschaffungsmärkten aufbauen. So hat zum Beispiel der Anlagenbauer Linde im Jahr 2010 eine neue globale Beschaffungsstruktur eingeführt, in der sechs globale „Procurement Center“ die Kontaktpunkte zu Lieferanten in den Regionen bilden. Und auch die investierenden Chemieunternehmen wollen weiter Engineeringpersonal in Ländern wie China, Indien oder Südamerika aufbauen. „Es geht darum, mit eigenen lokalen Mitarbeitern sowohl das Projektmanagement vor Ort erledigen zu können, vor allem aber auch um die Qualitätssicherung der Arbeiten mit lokalen Kontraktoren überwachen zu können“, bestätigt Dr. Claas-Jürgen Klasen. Und: Die Chemieanlagenbauer wollen im Rahmen der strategischen Partnerschaften mit globalen EPC-Unternehmen auch deren Beschaffungskompetenz in globalen Märkten nutzen: „Wir greifen bei der Beschaffung verstärkt auf unsere externen Partner zurück – allerdings ohne die Kontrolle abzugeben“, verdeutlicht Peter M. Gress.

Auch die Planung von Anlagen, die in Europa und Deutschland gebaut werden, aus Asien heraus, ist längst keine Zukunftsmusik mehr. Unternehmen wie Bayer Technology Services haben im Rahmen ihrer Projekttätigkeit in den vergangenen Jahren Ingenieurkapazität in Asien aufgebaut und dort Anlagen auch nach deutschen Standards und Normen geplant. „Wir bauen an Produktionsstandorten unserer Kunden verstärkt Engineering-Kompetenzen auf, um die Kunden auch in punkto Anlagenverfügbarkeit und Turnaround Management optimal zu unterstützen. Owner‘s Engineering ist ein Lifecyle Konzept und auf ein nachhaltige Wertschaffung für beide Partner angelegt“, erklärt Dr. Jürgen Hinderer die Bayer-Strategie.

Chemieanlagen der Zukunft – Unikate und Module

Ein in der Vergangenheit mehrfach prognostizierter Trend hat sich bislang im Chemieanlagenbau nicht durchgesetzt: Die aus Standard-Modulen aufgebaute Anlage im World-Scale-Format. Denn bei Großanlagen schöpfen die Betreiber ihre Wettbewerbsvorteile aus der technologischen Lösung, die durch individuelle Anpassung entsteht. Viel wichtiger wird dabei in Zukunft der oben beschriebene Stoffverbund – auch über die Grenzen der an einem Chemiestandort existierenden Lokaleinheiten hinaus. Verbundstrukturen unterschiedlicher Chemieunternehmen werden in den Chemieparks der Zukunft die Synergien für den wirtschaftlichen Erfolg der Einzelunternehmen liefern.
In der jüngeren Vergangenheit führte die Neuentwicklung einer ganzen Reihe klassischer großtechnischer Verfahren – darunter die Chlorelektrolyse, die Ethylenoxid-Erzeugung oder das Chlorrecycling – zu deutlichen Verbesserungen hinsichtlich Rohstoff- und Energieeinsatz sowie Selektivität und Ausbeute. „Es wird immer Innovationssprünge geben, ob in World-Scale-Anlagen der Kunststoff- und Kautschuk-Industrie oder sogar bei der althergebrachten Schwefelsäure-Herstellung. Aber auch Verfahren, die heute im Batch-Betrieb – wie in der pharmazeutischen Branche sehr verbreitet – funktionieren, gibt es noch eine Menge Innovationspotenzial, das noch nicht ausgereizt  ist“, erklärt Dr. Jürgen Hinderer.

Im Gegensatz dazu zeichnen sich bei Mehrprodukt- und feinchemischen Produktionsanlagen andere Trends ab: Bei Spezialprodukten, die in kleinen Mengen produziert werden, kommt es darauf an, diese Produkte schnell auf den Markt zu bringen und Marktrisiken in der Zeit zwischen Produktentwicklung und Produktionsstart zu reduzieren. Flexible Kleinanlagen auf Basis standardisierter Module bis hin zum Containermodul sind hier ein Zukunftstrend, der in verschiedenen Forschungsprojekten untersucht wird. Die „Flexible Fast Future Factory“ (F3 Factory) basiert auf Modulen im Containerformat, aus denen nach dem Baukastenprinzip eine Produktion aufgebaut werden soll. Das Konzept wird im neu eröffneten Forschungszentrum Invite im Chemiepark Leverkusen untersucht.

Ähnlich ist der Ansatz, der beim Spezialchemiehersteller Evonik gewählt wird: Small-Scale-Anlagen im Überseecontainer, in denen der Prozess unabhängig vom späteren Produktionsstandort entwickelt wird. Diese beinhalten alle für die Produktion notwendigen Prozessschritte. Entwickelt sich die Nachfrage stärker als erwartet, wird die Produktion auf mehrere Container ausgeweitet. Das Konzept erlaubt es, Laborentwicklung und Basic-Engineering simultan vorzunehmen und dadurch Zeit zu gewinnen. Das Chemieunternehmen produziert in einer solchen Kompaktanlage (Evotrainer) seit 2010 am Standort Rheinfelden Silanverbindiungen.

Wie solche Chemieanlagen auf engstem Raum aufgebaut werden müssen, untersuchen die Evonik-Ingenieure im Rahmen des EU-Forschungsprojekts Copiride gemeinsam mit den Universitäten Eindhoven, Stuttgart und dem IMM Mainz. Bereits in diesem Jahr soll ein Allround-Container zur Verfügung stehen, mit dem im Chemiepark Marl ein Spezialpolymer im technischen Maßstab hergestellt werden soll.

Doch so vielversprechend die Containerchemie auch sein mag, auch in Zukunft wird es die klassische individuell geplante Mehrproduktanlage noch geben. Allerdings lassen die Budgets für solche Projekte heute in der Regel kaum mehr den Einbau von „Zukunftsoptionen“ zu: Die Anlagen werden exakt auf den beabsichtigten Verwendungszweck ausgelegt.

Fazit: Der Chemieanlagenbau hat drei Jahre nach der Weltwirtschaftskrise alle Hände voll zu tun. Die Projektflut zwingt die Ingenieurabteilungen der Chemiekonzerne zu strategischen Partnerschaften mit klassischen EPC-Anlagenbauunternehmen. Um die Nachhaltigkeit und Energieeffizienz der geplanten Anlagen zu steigern, werden Anlagen im Weltmaßstab nicht nur auf der „grünen Wiese“ gebaut, sondern wird verstärkt der Energie- und Rohstoffverbund in Chemieparks genutzt. Dabei stehen individuell geplante Anlagen im Vordergrund, eine weitgehende Modularisierung und Standardisierung findet hier bisher nicht statt. Denn die Weiterentwicklung klassischer Verfahren hat hier in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Innovationssprüngen geführt. Für die Spezialchemie werden derzeit Konzepte für flexible Produktionsanlagen basierend auf Containermodulen entwickelt.
Die aktuellen Trends im Anlagenbau sind auch Thema des 2. Engineering Summit der von VDMA und Süddeutscher Verlag am 20. und 21. November veranstaltet wird.

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