Zu den Fragen, die sich die Studie unter dem Titel „Future of the chemicals value chain in Europe” widmet, gehören: Wie wird sich die Branche in den nächsten 20 Jahren entwickeln? Wie wird sie auf Markttendenzen reagieren? Und wo wird sie sich im Kontext einer nahezu alles umfassenden Digitalisierung positionieren? Die Studie identifiziert insgesamt dazu vier Optionen, die beide Enden der Skala bedienen: von einem eher protektionistischen Beibehalten des Status quo bis hin zum Innovationstreiber einer Industrie, die Maßstäbe in Sachen Nachhaltigkeit setzt.
Schwache lokale Märkte in Europa
„Die europäischen Player stellen immerhin 17 % der globalen Chemieindustrie, das Umsatzvolumen liegt bei rund 565 Mrd. Euro. Sie kämpfen allerdings mit einem schwachen Wachstum der lokalen Märkte von weniger als einem Prozent pro Jahr“, erklärt Alexander Keller, Partner im Bereich Oil, Gas & Chemicals bei der großen internationalen Beratungsgesellschaft Deloitte. „Auch mit der Klima- und Umweltdebatte sieht sich die Branche mit einer Problematik konfrontiert, die nicht nur sie selbst, sondern jede weitere Industrie betrifft, die von ihr beliefert wird.“
Europa bleibt Technologieführer
Für die Entwicklung der Szenarien wurden zunächst die relevanten Treiber aus Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und technischer Entwicklung identifiziert und 100 von ihnen miteinbezogen. Der Klassifizierung und Einordnung dieser Treiber folgt eine Einschätzung ihrer vermuteten Relevanz im Jahr 2040 entlang der Achsen „Wertschöpfung in einer Kreislaufwirtschaft“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Chemieindustrie“. Demnach wird Nachhaltigkeit eine noch viel größere Rolle spielen als heute. Zudem wird Europa Technologieführer bleiben, aber zusehends unter Druck geraten. Das Wachstum wird schwach bleiben und die Unternehmen müssen sich mit strengeren Umweltregeln auseinandersetzen.
So könnte die Chemieindustrie 2040 aussehen
Szenario 1: Speerspitze in eine grüne Zukunft
Im ersten Szenario übernimmt die Chemieindustrie eine tragende Rolle in einer nachhaltigen, kollaborativen Welt. Die Märkte sind offen und die Kunden verlangen immer mehr Produkte, die dem Umweltgedanken gerecht werden. Deshalb wird auch die Chemieindustrie Teil eines großen, orchestrierten und branchenübergreifenden Verbunds. Die europäischen Player schaffen es, Wertschöpfung in einer Kreislaufwirtschaft zu erzielen, und investieren massiv in Innovationen. Zudem entsteht sukzessive ein Netzwerk von Partnerschaften aller Branchenplayer entlang der Wertschöpfungskette. Auch werden Start-ups gegründet, die vermehrt auf digitale Potenziale setzen. Allerdings agieren die Unternehmen unter vergleichsweise strengen Umweltauflagen – die sich aber weltweit angleichen.
Szenario 2: Anpassung an repressive Rahmenbedingungen
Im zweiten Szenario steht die europäische Chemiebranche kollektiv unter Regulierungsdruck und öffentlicher Beobachtung – anders als in China und den USA. Die Unternehmen müssen sich verändern und Kosten sparen. Die Produktion regionalisiert sich, größere Investitionen rentieren sich kaum. Intelligente neue Ansätze sorgen dennoch für ein Überleben der Firmen. Da es kaum noch Produktinnovationen gibt, spielen die einzelnen Unternehmen international keine große Rolle mehr. Es besteht die Gefahr einer ungewollten und radikalen Konsolidierung, die durch eine entsprechende EU-Stelle kaum aufgehalten werden kann.
Szenario 3: Flucht in den Protektionismus
Die dritte mögliche Entwicklung führt zu einem Szenario mit starkem Euro-Protektionismus, wenig Innovationskraft und einem gesellschaftlichen Rückschritt hinsichtlich Nachhaltigkeit. Die realisierbaren Margen sind inzwischen teilweise auch von der Politik abhängig. Die Bedeutung des Exports und die Wettbewerbsfähigkeit schrumpfen und es kommt ebenfalls zu einer Konsolidierung. Die verbleibenden Akteure können jedoch – zumindest für eine gewisse Zeit – ein recht geruhsames Leben führen und die Branche auf niedrigem Niveau „verwalten“.
Szenario 4: Wertschöpfung in der Kreislaufwirtschaft
Im vierten und letzten Szenario gelingt die profitable Wertschöpfung in der Kreislaufwirtschaft. Die Öffentlichkeit ist in Umweltfragen hoch sensibilisiert, was zu gezielten Innovationen und Kollaborationen in der Branche führt. Es herrschen ein Klima des Verbrauchervertrauens und die Bereitschaft, auch höhere Preise zu bezahlen. Jedoch bleiben Strukturen und Assets der Unternehmen weitgehend unverändert, was eine allgemeine Innovationswelle eher ausbremst als befeuert. Insgesamt sind Umwelt und Industrie eine enge Verbindung eingegangen, die Unternehmen zunehmend dazu bringt, ihre Profitabilität im Rahmen einer umfassenden Kreislaufwirtschaft zu sichern und managen.
Einzelne Sektoren unterschiedlich betroffen
„Die Dynamik wirkt sich sehr unterschiedlich auf die Subsektoren der Branche aus. Das Segment ‚Building Blocks‘ etwa wird sich stark verändern müssen. Besonders im ersten Szenario, das kleinere, flexiblere Assets verlangt – was die bisherige Struktur auf den Kopf stellt. Auch bei synthetischen Materialien ist der Veränderungsdruck hoch, denn eine Kreislaufwirtschaft verlangt hier ganz neue Geschäftsmodelle. Im Bereich ‚Specialities‘, einem recht heterogenen Subsektor, spielt die Erwartungshaltung der Konsumenten und der Öffentlichkeit eine herausragende Rolle – das allgemeine Vertrauen in die Nachhaltigkeit ist hier entscheidend“, ergänzt Alexander Keller. (jg)