Dezember 2011

Das ideale Prozessleitsystem besteht aus individualisierbaren Segmenten, mit denen die Anforderungen aller Kunden erfüllt werden können.“ Was nach Utopie und Selbstüberschätzung im Prospekt eines Automatisierungsherstellers klingt, gehörte in Wirklichkeit zum Fazit eines Anwendervortrages: Dr. Michael Krauß, BASF, stellte auf der Namur-Hauptsitzung für den Namur Arbeitskreis 2.11 (Industrielle IT / Leittechnik) die Ergebnisse einer Umfrage unter Leitsystem-Anwendern und Lieferanten vor. Und die Utopie basierte gleichzeitig auf dem sogenannten „Tauchnitzschen Kuchen“ – der Darstellung, mit der Dr. Thomas Tauchnitz, Sanofi-Aventis, bereits vor 15 Jahren die wünschenswerte Struktur eines PLS segmentiert in funktionale Komponenten und einem PLS-Kern als Produktions-Informationsdrehscheibe dargestellt hatte. Tauchnitz ließ es sich auch nicht nehmen, die 570 Teilnehmer der unter dem Motto „Prozessleittechnik – Wege in die Zukunft“ stehenden Namur-Hauptsitzung gleich zu Beginn mit einer Reihe von Fragen zu provozieren:„Warum handelt der PLTist nicht? Warum werden moderne Leitsystemfunktionalitäten nicht gekauft – und häufig sogar nicht genutzt, obwohl sie vorhanden sind? Warum werden die angebotenen modernen Regelungsstrategien noch kaum implementiert? Und weshalb prüft und spezifiziert kaum jemand PLS systematisch – obwohl die Methoden dazu veröffentlicht sind?“ – Fragen, auf die in den Plenarvorträgen Lösungen gesucht wurden.

Es sind vor allem die stark unterschiedlichen Anforderungen, führte Dr. Ulrich Schlagowski, Bayer Technology Services, als Begründung aus. Auf der einen Seite des Spannungsfeld stehen konservativen Anwender, die PLS-Versionen möglichst lange und auch im Mischbetrieb verschiedener Versionen nutzen möchten und die sich eine weitgehend automatische Übertragung der Applikationssoftware von alt nach neu wünschen. Auf der anderen Seite finden sich Innovatoren, die sich eine Online-Hochrüstung, Partnerverträge und standardisierte Schnittstellen und Funktionen wünschen und gleichzeitig von den Herstellern für die Vorteile von Innovationen belegbare Zahlen und Argumente wollen.

Anwender wollen mit Herstellern „Premium-Leistungen“ definieren

Aus Herstellersicht – so die Umfrage der Namur – sind solche Qualitätsverbesserungen durchaus möglich, allerdings unter dem derzeitigen Kostendruck kaum zu realisieren. Der Arbeitskreis Industrielle IT / Leittechnik schlug deshalb vor, die Produkt- und Komponenten-zentrierte Tauchnitz-Torte durch eine neue Darstellung zu ergänzen, die Segmente wie Service und Funktionalität um einen Kern gruppiert, den Beratungs- und Beurteilungskompetenz bilden. So soll die kundennahe Beratung der Hersteller ermöglichen, die richtigen „Tortenstücke“ für einen Anwender auszuwählen. Gleichzeitig boten die Anwender den Herstellern ihre Beurteilungskompetenz an, um gemeinsam die Premium-Leistungen zu definieren, für die sie bereit sind, auch tiefer in die Tasche zu greifen. „Wir wollen die Zusammenarbeit mit den Leitsystemherstellern. Zeigen Sie uns, was Sie für höhere Preise liefern würden“, ermunterte Krauß die anwesenden Lieferanten.

Auch Dr. Peter Terwiesch, Vorstandsvorsitzender des diesjährigen Sponsors ABB, griff in seinem Plenarvortrag die Weiterentwicklung der Tauchnitz-Torte auf und prägte den Begriff eines „gehärteten Kern-PLS“, das in der Anlage die Zuverlässigkeit, das Echtzeitverhalten, die Vorhersagbarkeit und das Echtzeitverhalten sicher stellt. Darum herum sollen zusätzliche Aspekte wie Funktionalität, Offenheit, Erweiterbarkeit sowie rückwirkungsfreie Schnittstellen ergänzt werden. Funktionalität soll versionsneutral nachgeladen werden können und die Erfordernisse an die Hardware sollen gering sein. Wie Anlagenfahrer hier unterstützt werden können, wurde anhand neuer Darstellungsarten (High Performance Visualisierung) in den Bildschirmen der Anlagenfahrer genauso deutlich, wie anhand kollaborativ zu nutzender Touchscreens, mit denen Anlagenpersonal wie auf einem überdimensionalen iPad durch die Anlage navigieren. Deutliche Verbesserungs- und Einsparpotenziale lassen sich außer mit neuen Bedien- und Alarmkonzepten aber vor allem durch die Integration – beispielsweise von Automation und Elektrotechnik – erreichen. Auf rund 20 Prozent schätzt Terwiesch die Einsparung einerseits bei Investitions- andererseits bei Betriebskosten, wenn Prozessleit- und Elektrotechnik bereits im Engineering aufeinander abgestimmt und zusammengeführt werden.

Oft sind es allerdings schlicht und ergreifend organisatorische Hürden, welche die Chemieunternehmen daran hindern, Einsparpotenziale zu realisieren. Moderne Funktionen für Asset Management, fortschrittliche Regelstrategien und integrierte Ansätze zum Fahren der Anlage kommen erst längst nach der Investition im laufenden Betrieb zum Tragen – und stehen dann im Widerspruch zu den Zuständigkeiten des Personals. „Der Einsatz von Advanced Solutions erfordert strategische Entscheidungen, die nur schwer im einzelnen Projekt oder Betrieb getroffen werden können“, verdeutlichte Dr. Olaf Kahrs, BASF.

Automatisierungstechnik ist der Enabler für Energieeffizienz

Dass solche modernen Lösungen und Regelstrategien auch im Hinblick auf das Hype-Thema Energieeffizienz unabdingbar sind, verdeutlichten Katharina Schaechtele (BASF) und Stefan Krämer (Ineos): So kann die Fahrweise von Anlagen – im Beispiel eine Kombination aus Reaktor, Absorber und Stripper – durch den Einsatz modellprädiktiver Regler optimiert werden, weil der MPC im Gegensatz zum „Handbetrieb“ die Prozessgrenzen besser ausnutzt. „Automatisierungstechnik ist der Enabler für Energieeffizienz“, stellte Krämer fest.

Doch nicht nur Regelungs-Hightech führt zur Energieeffizienz, sondern auch ganz unspektakuläre Eingriffe wie dem Abschalten von Frostschutzheizungen, wenn die Außentemperaturen diese nicht erfordern, oder der Einsatz von energieeffizienten Motoren, wie Dr. Hans Linnenbrink an Beispielen eindrücklich belegte. So können sich IE2-Motoren unter Umständen in weniger als einem Jahr amortisieren. Bei 100.000 Antrieben, die in einem typischen Chemiepark eingesetzt werden, eine Aufgabe, die logistische Planung erfordert. „Wir empfehlen, bei einem Neukauf nur noch zertifizierte Motoren auszuwählen und die Reparaturkostengrenze herunter zu setzen“, gab Linnenbrink konkrete Ratschläge.

Fazit: Dass es im Hinblick auf wettbewerbsfähige Chemieanlagen auch in Zukunft unabdingbar sein wird, mit Mitteln der Automatisierung zu optimierten Prozessen zu kommen, zog sich wie ein roter Faden durch die diesjährige Namur-Hauptsitzung. Aus Sicht von Dr. Wilhelm Otten, dem neuen Vorsitzenden der Namur, zeichnen sich für die nächsten Jahre deshalb einige Trendthemen ab: So wird der Kompetenz-Ausbau und -Erhalt einen noch größeren Stellenwert gewinnen. „Die Namur hat teilweise Funktionen übernommen, die früher in den großen Mitgliedsfirmen geleistet wurden“, erläuterte Otten. „Wir müssen es schaffen, die Lücke zwischen Verfahrenstechnik und Automatisierung zu schließen, um Optimierungspotenziale zu heben. Dazu ist es einerseits notwendig, mehr Prozesswissen in die Mess- und Regelungstechnik zu bringen, andererseits das Grundwissen der MSR in die Breite betrieblicher Funktionen zu tragen.“                    

Im kommenden Jahr wird die Namur-Hauptsitzung unter dem Schwerpunkt „Aktorik – von der Handdrossel zum smarten Stellgerät – stehen. Sponsor der Namur-Hauptsitzung 2012, die am 8. und 9. November stattfindet, wird der Armaturenhersteller Samson sein.

 

 

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