- Bei Turnaround-Projekten spielen Umweltaspekte eine immer wichtigere Rolle.
- Dazu kommt der Fachkräftemangel durch den demografischen Wandel.
- Die Digitalisierung kommt nur zögerlich voran, sie wurde auch durch Corona ausgebremst.
Steht in einem Unternehmen der Prozessindustrie ein Turnaround, also salopp gesagt ein Umbau an, werden dafür schon teils Jahre im Vorfeld Planungen angestellt und Kräfte mobilisiert. Alles muss genau passen und ineinander greifen – zu groß ist das Risiko, dass sich der geplante und teure Stillstand auf unbestimmte Zeit verlängert und so noch teurer wird. Doch die aktuelle Lage macht den Planungen der Turnaround-Manager oft einen Strich durch die Rechnung. Die drei Ps – Pandemie, Personalmangel und Produktknappheit – stellen die Planer und Macher vor immense Probleme. Aber gibt es nur diese negativen Trends oder lassen andere Entwicklungen, beispielsweise in der Digitalisierung, die Unternehmen wieder aufatmen?
Wir haben Experten gefragt, welche Trends sie sehen, wie aktuelle Tools sie unterstützen und welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf ihr Business hat. Unsere Gesprächspartner waren Dennis Lubsch, Geschäftsbereichsleiter Turnaround bei Bilfinger, Dr. Florian König, Senior Partner und verantwortlich für die Business Unit Process bei Robur, Herbert Bartsch, Niederlassungsleiter der Wisag Produktionsservice in Burgkirchen und Thomas Krügers, Geschäftsführer und Divisionsleiter bei Actemium Cegelec Services.
Welche Trends prägen aus Ihrer Sicht aktuell das Turnaround-Geschehen?
Dennis Lubsch: Als zentrale Trends im Turnaround-Geschehen sieht Bilfinger ähnlich wie in anderen Bereichen die Themen ESG (Environmental, Social und Governance), den demografischen Wandel, eine Werteveränderung in Nachwuchs der Fachkräfte, eine zunehmende Globalisierung und die Digitalisierung als wichtiger unterstützender Faktor. ESG ist ein zunehmend integrierter Bestandteil der Unternehmensführung auf Dienstleister- und auch Betreiberseite. Hierbei spielen im Turnaround insbesondere die Bereiche Entsorgung von Abfällen und die Verbesserung der Energieeffizienz eine wichtige Rolle. Die Sicherheit und Arbeitsbedingungen sind für uns ein Schlüssel-Element im sozialen Bereich. Eine faire und konforme Führung (Governance) ist für uns selbstverständlich.
Der demografische Wandel und eine zunehmende Pensionierung von erfahrenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erhöht den Druck auf die Ressourcenverfügbarkeit. Dabei gehen wir vermehrt auf die Erwartungen der Jugend, für die eine gute Work-Life-Balance im Fokus steht, ein. Umweltbewusstsein, flexible Arbeitsmodelle und flache Hierarchien mit agilen Arbeitsmethoden sind entscheidende Faktoren, um das Turnaround Geschäft für die nachkommenden Generationen attraktiv zu halten.
Im Hinblick auf die Globalisierung ist auf der einen Seite eine zunehmende Verlagerung von Raffinerien in außereuropäische Länder zu beobachten. Auf der anderen Seite steht immer mehr die Produktion von Spezial-Produkten im Fokus. Diese Punkte führen zwar zu einer Reduzierung der Anzahl von Turnarounds in Europa, auf der anderen Seite aber zu einer Zunahme der Komplexität der Projekte. Die Kosten und Anforderungen im Turnaround steigen und erfordern eine flexiblere Ressourcen-Planung innerhalb von Europa. Mehr Investitionen in einheitliche Sprachkonzepte und Kommunikationslinien sind hier ein wichtiger Hebel.
Dr. Florian König: Durch die Corona-Pandemie kam es in den Jahren 2020 und 2021 zu deutlichen Verschiebungen der geplanten Turnarounds und viele Maßnahmen werden erst 2022 nachgeholt. Aus unserer Sicht wird es durch diese Entwicklungen insbesondere im Frühjahr 2022 zu einer hohen Auslastung für qualifiziertes Personal kommen. Eine weitere Entwicklung in Folge der verschobenen Turnaround-Maßnahmen wird sein, dass die Verschiebung der Abstellungen zu vermehrten ungeplanten Reparaturen und Stillständen führen wird.
Außerdem rechnen wir langfristig mit einer erhöhten Komplexität in den Stillständen, der nur durch eine umfangreiche Planung begegnet werden kann, in welche die Erfahrungen aus den vorherigen Revisionen mit einbezogen werden müssen. Daher bieten wir selbst entwickelte, webbasierte Softwarelösungen zur Optimierung komplexer Projekte an. Dadurch können sowohl die Projektlaufzeit durch Vorrangbeziehungen und Tätigkeitsalternativen als auch die Projektkosten optimiert werden.
Herbert Bartsch: Wir stellen fest, dass Turnarounds in immer kürzeren Zeitspannen durchgeführt werden sollen. Haben wir für unsere Aufträge weniger Zeit, heißt das für uns, dass wir die Kapazitäten erhöhen müssen. Kein leichtes Unterfangen – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels!
Thomas Krügers: Als Dienstleister für das Gewerk PLT sind wir bei Actemium Cegelec Services mehr und mehr gewerkeübergreifend in der Koordination tätig. Es mangelt an allen Ecken und Kanten an Schnittstellen, sodass wir uns in Turnarounds immer enger mit unseren Kunden verzahnen, damit das Projekt Turnaround gelingt. Wir persönlich stellen uns die Frage, wann man den Weg aufgrund des Drucks der Rahmenbedingungen, darunter Demografie und Digitalisierung, mehr in Richtung engerer KPI-Modelle gehen wird und auch viel mehr Digitalisierung nutzt, die wir bereits heute einsetzen könnten. In Turnarounds gehen beide Seiten aktuell sehr verschwenderisch mit der Ressource Mensch um, ein neues Mindsetting würde uns allen gut zu Gesicht stehen.
Wie und mit welchen Mitteln unterstützt die Digitalisierung aktuell bei einem Turnaround?
Thomas Krügers: So gut wie gar nicht. Im Tracking wird weiter mit Endlos-Tapeten aus Excel-Tabellen und Prüfdokumentation aus Papier gearbeitet. Auf eins ist Verlass: „Es funktioniert“ nach wie vor wie vor 20 Jahren. Die Turnaroundmanager legen wenig Fokus auf Digitalisierung, weil die Instandhalter und die Betriebe selbst im Tagesgeschäft nicht den Fokus und die Priorität auf Digitalisierung haben können. Folglich werden Visitenkarten ausgetauscht, Excel-Tabellen in verschiedensten Varianten zur Fortschrittsüberwachung per E-Mail versendet. Ein Online-Tracking über webbasierte Plattformen und das Einlesen der Geräte und Tracking durch eine digitale Hardware und Software gibt es eher selten. Dabei haben wir bereits erfolgreiche Pilotanlagen, in denen Sensoren und Aktoren durch QR-Codes und RFID-Chips erfasst sind und somit der erste Schritt zu einem Digital Twin im Turnaround und im Tagesgeschäft der Instandhaltung gemacht wurde. Diese digitalen Lösungen bieten keine böse Überraschungen durch einen lückenhaften Zuruf und verloren gegangenen Prüfdokumenten, dafür steht das Invest der Digitalisierung unter Beobachtung. Durch Corona haben wir nun viele Turnaround-Meetings per Videokonferenzsystem. Offensichtlich bleibt das vorerst der einzige große Schritt in Richtung Digitalisierung.
Dennis Lubsch: Die Digitalisierung wirkt unterstützend. Ein Turnaround muss umfänglich geplant werden. Zuerst muss der Leistungsumfang definiert werden. Auf Basis der geplanten Arbeitsschritte muss dann eine professionelle und pragmatische Risikoanalyse durchgeführt werden. Um diese Informationen effizient abzubilden und allen Projektbeteiligten zugänglich zu machen, sind digitale Tools wie Roserconsys oder SAP essenziell. Aber auch die Ablauf- und Fortschrittsüberwachung sowie die Qualitäts- und Sicherheitskontrolle müssen durch digitale Tools abgebildet und für den Kunden transparent dargestellt werden. Wir nutzen bei Bilfinger eigens entwickelte mobile Apps, um diese Arbeitsschritte auch vor Ort effizient zu dokumentieren und in einem digitalen Workflow abbilden zu können.
Dr. Florian König: Die Pandemie hat einerseits – wie in anderen Bereichen – die Digitalisierung in Form von virtueller Kommunikation und Datenaustausch im Turnaround gefördert. Andererseits wurden begonnene Digitalisierungsprojekte wegen verzögerter Investitionen und Erweiterungen verschoben. Kosteneinsparungen stehen im Vordergrund. Dieser Umstand, aber auch der Einsatz von Drohnen bei Inspektionen oder die Nutzung des „digitalen Flansches“.
Herbert Bartsch: Zuerst einmal wird der Zustand der Anlagen digital erfasst. Die Daten, die uns anzeigen, was im Rahmen eines Turnarounds erledigt werden muss, werden mithilfe entsprechender Sensorik elektronisch erhoben – so ergibt sich für uns der Umfang eines Auftrags. Darüber hinaus erfolgen die Auftragsrückmeldungen, die Arbeitszeiterfassung und das Festhalten des Projektfortschritts digital – anhand dieser Daten können wir zuverlässig die nächsten Schritte planen. Nicht zuletzt nutzen wir digitale Spezialwerkzeuge, die die Qualität unserer Arbeit steigern. Die abschließende Dokumentation findet ebenfalls elektronisch statt.
Welche zusätzlichen Herausforderungen sind durch die Pandemie entstanden?
Dennis Lubsch: Durch die Pandemie investieren wir deutlich mehr in die Vorbereitung und Planung, um durch Hygiene- und Testkonzepte die Gesundheit unserer Mitarbeiter sicherzustellen. Das Risiko für kurzfristige Ausfälle steigt. Ein intensives Auseinandersetzen mit Alternativplänen und Notfallmaßnahmen von allen Beteiligten verschiebt da manchmal den Fokus vom eigentlichen Turnaround. Darüber hinaus werden Lieferzeiten von Material und Werkzeug immer schwieriger zu planen. Ändernde Reisebeschränkungen erhöhen die Komplexität des sehr internationalen Turnaround-Geschäfts zusätzlich. Während die Stillstandszeiten immer kürzer werden, wird die Planbarkeit durch die Pandemie zusätzlich erschwert. Bilfinger kann auf ein internationales Netzwerk von Experten zurückgreifen, um hier flexibel reagieren zu können. Für uns steht dabei eine partnerschaftliche, langfristige Zusammenarbeit zwischen Anlagenbetreiber und Bilfinger im Fokus. Nur so können wir gemeinsam kontinuierliche Verbesserungen vorantreiben und uns diesen Herausforderungen stellen.
Dr. Florian König: Neben den hohen Anforderungen an Qualität und Sicherheit sind zusätzlich umfangreiche Hygiene-Standards unter unvermindertem Zeitdruck zu beachten. Schon alleine die Einhaltung der Abstands-, 3G- und Grenzübertrittsregelungen führt zu erhöhten Aufwand in Form von Containern, Fahrzeugen und Unterkünften sowie schließlich auch zu zusätzlichem Bedarf an Fachkräften.
Herbert Bartsch: Die Umsetzung der 3G-Regel am Arbeitsplatz ist für uns mit einem großen organisatorischen Mehraufwand verbunden. So mussten wir beispielsweise sicherstellen, dass die morgendlichen Testungen unserer Beschäftigten reibungslos funktionieren – hierfür haben wir extra Personal geschult. Zudem ist das Tragen von FFP2-Masken auf festgelegte Tragezeiten begrenzt. Sind diese überschritten, müssen die Mitarbeitenden zusätzliche Pausen einhalten. Pauseneinrichtungen wie Aufenthaltsräume dürfen allerdings nicht zu stark ausgelastet werden, damit wir stets die Abstände sicherstellen können. Das hat zur Folge, dass die Pausenzeiten unserer Kolleginnen und Kollegen streng aufeinander abgestimmt werden müssen. Dies sind alles Details, die große Auswirkungen haben und bei der Planung zu berücksichtigen sind – schließlich wollen wir jeden Auftrag trotz der neuen Rahmenbedingungen pünktlich abschließen. Überhaupt hat sich unsere gesamte Planungssicherheit durch die Pandemie verschlechtert. Würden mehrere Mitarbeitende coronabedingt ausfallen, könnte unser gesamter Zeitplan in Gefahr geraten. Das ist glücklicherweise bei uns vor Ort bisher noch nicht vorgekommen, aber einplanen müssen wir dieses Szenario natürlich trotzdem.
Darüber hinaus hat sich die Kundenkommunikation in den Monaten der Pandemie verändert. Kontakte finden vermehrt digital statt. Das hat in vielen Bereichen natürlich große Vorteile, aber für die Arbeit der Operativen wäre ein direkter Austausch mit dem Kunden vor Ort manchmal der effizientere Weg.
Thomas Krügers: Seit Corona wird verstärkt Schichtarbeit nachgefragt, um die Anwesenheit zu entzerren und so die Infektionsgefahr zu reduzieren. Dies erfordert gleichzeitig mehr Führungskräfte pro Schicht und die Akzeptanz der Mitarbeiter, in Schichten zu arbeiten. Zudem ist eine engere Abstimmung und Kommunikation mit dem Kunden und der eigenen Schichten als Dienstleister bei Schichtübergaben notwendig. Das führt zu Ineffizienzen – und leider wird das nicht mit Digitalisierungsprojekten aufgefangen. Fortschrittsmeldungen per Zuruf sind ineffizient und sorgen für Kommunikationslücken. Das war zwar schon immer so, aber der demografische Faktor und die fehlende Orts- und Fachkenntnis sind neu. Wir müssen die Maximierung der Hands-on-Tool-Zeiten der Fachkräfte durch die Digitalisierung vorantreiben, um diese in den administrativen Prozessen zu entlasten. Die Lösungen stehen bereits heute im Regal, man muss nur zugreifen!
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Was erwarten die Instandhaltungsexperten vom Jahr 2022?