Mann mit Helm

Verschobene Anlagen-Prüfungen sind eine Folge der Corona-Pandemie. (Bild: TÜV Süd Chemie Service)

Hans Joachim Machetanz ist CEO TÜV Süd Chemie Service
"Das Wissen um die Besonderheiten einer Anlage ist Teil der Anlagensicherheit."
Hans Joachim Machetanz ist CEO TÜV Süd Chemie Service

CT: Auch in der Chemieindustrie wirkt sich die Corona-Pandemie stark auf die Arbeit des Anlagenpersonals und die Zusammenarbeit mit Dienstleistern aus. Welche Folgen beobachten Sie für die Anlagenüberwachung und Ihre Prüftätigkeit?
Machetanz: Das ist von Kunde zu Kunde unterschiedlich. Manche Chemieunternehmen haben die Prüfungen unverändert weitergeführt, andere – darunter Pharmabetriebe – haben den Zutritt zu ihren Betrieben stark eingeschränkt. Die Behörden haben Freiräume geschaffen, um Prüfungen verschieben zu können, wovon einige Unternehmen auch Gebrauch gemacht haben. Insgesamt war das Prüfgeschäft im vergangenen Jahr spürbar eingeschränkt.

CT: Hat sich die Situation inzwischen wieder normalisiert?
Machetanz: Ich würde das mit „Normalbetrieb unter besonderen Umständen“ beschreiben. Wir haben noch nicht wieder zum Normalbetrieb auf Vor-Pandemie-Niveau zurückgefunden. Es gelten immer noch Reise- und Zutrittsbeschränkungen, nach wie vor werden viele Prüfungen verschoben. Eine Verschiebung von wiederkehrenden Prüfungen ist in Abstimmung mit Aussichtsbehörden und nach der Beurteilung durch unsere Sachverständigen möglich. In den Chemieparks sind wir auch während der Pandemie ständig vor Ort um bei kurzfristigen Prüfanfragen unserer Kunden verfügbar zu sein. Wir kennen die Anlagen sehr gut, sodass unsere Sachverständigen auch mit weniger begleitender Unterstützung vor Ort auskommen und belastbare Aussagen über den technischen Zustand der Anlagen machen können.

CT: Gibt es inzwischen einen Prüfungsstau?
Machetanz: Allerdings. Verschobene Prüfungen müssen ja zwingend nachgeholt werden. Durch intensive Ressourcenplanung haben wir uns darauf vorbereitet, den zeitlich versetzten Aufwand bewältigen zu können. Da die Ansprechpartner in den Betrieben häufiger im Homeoffice sind, werden Informationsflüsse verlangsamt und wir bekommen die für unsere Prüfungen benötigten Informationen und Unterlagen teilweise nur mit zeitlicher Verzögerung.

CT: Corona hat in vielen Bereichen der Industrie die Digitalisierung vorangebracht. Wie sieht das in Ihrem Geschäft aus?
Machetanz: Das ist bei uns nicht anders. Wir haben unser SAP- und webbasiertes Datenmanagementsystem Damas deutlich weiterentwickelt. Dort konnten unsere Kunden bereits vor Corona ihre Anlagenstrukturen komplett abbilden. Wir managen darüber gemeinsam Prüfzyklen, Prüfergebnisse und die Dokumentation. Das System ist komplett in SAP integriert und unsere Kunden nutzen das beispielsweise in ihrem technischen Schichtbuch, indem die Mitarbeiter über anstehende Prüfungen informiert werden und dann entsprechende Vorbereitungen treffen können. Das System haben wir inzwischen als Smart Damas auf ein neues Niveau gehoben, und mit dem nächsten Release wird auch die Benut-zeroberfläche deutlich moderner und einfacher werden.

CT: Beschränkt sich die Digitalisierung auf das Datenmanagement?
Machetanz: Nein, natürlich nicht. Es gibt weitere spannende digitale Produkte: Ein Beispiel ist die kontinuierliche Schallemissionsprüfung, SEP. Das Verfahren ist zwar nicht neu, allerdings erlauben Fortschritte in der Sensorik und vor allem bei der Auswertungssoftware, diese nun flächend in die Anwendung zu bringen. Mit der SEP lassen sich Veränderungen in der strukturellen Integrität eines Apparates, beispielsweise Rissbildungen, detektieren und lokalisieren. Damit können wir eine Aussage darüber treffen, ob ein Apparat im Rahmen des nächsten Anlagenstillstandes ausgetauscht werden muss oder weiter betrieben werden kann – so entsteht für die Betreiber echter Mehrwert.

CT: Worin besteht hier der technische Fortschritt genau?
Machetanz: Durch die Weiterentwicklung der Hardware kann die SEP jetzt auch in Ex-Bereichen eingesetzt werden. Und durch die weiterentwickelte Software sowie höhere Rechnerkapazitäten lassen sich Störgeräusche wesentlich besser herausfiltern. Die Qualität der Prüfung wird dadurch deutlich erhöht.

CT: Wie wirkt sich die zunehmende Digitalisierung innerhalb von TÜV Süd aus?
Machetanz: Wir haben uns im vergangenen Jahr sehr viel stärker intern vernetzt. Dadurch sind Ressourcen bereichsübergreifend transparent geworden. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn große Projekte ins Visier genommen werden. Dort muss man in der Regel innerhalb von zwei bis vier Wochen seine zur Verfügung stehenden Ressourcen einschätzen und ein Angebot abgeben können. Das haben wir früher nicht immer geschafft. Durch die Vernetzung im vergangenen Jahr und ein neues Tool, das wir „Project Management Office“ nennen, können wir das nun viel besser handhaben.

CT: Worauf stellen Sie sich für die Zeit nach Corona ein?
Machetanz: Zugangsbeschränkungen in Anlagen werden wohl noch für einige Zeit eine Herausforderung bleiben. Dazu die Notwendigkeit, die Prüfstaus abzuarbeiten. Unsere Kunden in der chemischen Industrie sind für 2021 überwiegend zuversichtlich. Wir werden noch stärker digitale Tools bei unseren Prüfungen nutzen. Die Akzeptanz dafür ist in der Pandemie gestiegen. Die kontinuierliche Überwachung ist sicherlich eines der wichtigsten Trendthemen, aber auch neue Kommunikationsplattformen, die wir gemeinsam mit unseren Kunden nutzen. Die Dokumentation wird digitalisiert. Schon heute arbeiten unsere Sachverständigen papierlos: Prüfergebnisse werden vor Ort digital erfasst und digital signiert. Die Ergebnisse werden digital an den Kunden verschickt und digital archiviert. Das entlastet unsere Sachverständigen, die sich auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können. Allerdings werden sich dadurch auch die Anforderungen an unsere Sachverständigen ändern – sie brauchen in Zu-kunft mehr Know-how zur Datenanalyse und zur Anwendung KI-gestützter Prozesse. Digitale Prüfmethoden, digitale Kommunikation und Dokumentation verändern das Anforderungsprofil zusätzlich. Auch das Thema Cybersicherheit verfahrenstechnischer Anlagen wird noch weit stärker in den Fokus rücken.

CT: Werden künftig weniger Sachverständige gebraucht werden?
Machetanz: Nein, das glaube ich nicht. Die Art der Arbeit wird sich verändern. Ich habe die Vision, dass ein Sachverständiger seinen Laptop an den Prüfeingang einer Anlage anschließen und den Zustand der letzten Jahre abrufen kann – ähnlich wie mit einem Prüfstecker am Auto. Auf Basis dieser Auswertung kann er sich dann ganz gezielt um die Schwachstellen der Anlage kümmern – und das möglichst im laufenden Betrieb.

CT: Kann diese Vision auch Wirklichkeit werden?
Machetanz: Wir machen die ersten Schritte in diese Richtung. Schon heute sagen uns Kunden, dass sie bis 2025 das Begehen von Apparaten zu Inspektionszwecken eliminieren wollen. Das heißt, wir brauchen Ersatzprüfungen – beispielsweise indem wir Sensoren oder Drohnen nutzen. Zudem haben wir unsere zerstörungsfreien Prüfverfahren weiterentwickelt, sodass beispielsweise eine kontinuierliche Prüfung des Anlagenzu-standes möglich ist. Der Sachverständige wird seine Beurteilung auch auf den Einsatz neuer Prüfmethoden stützen, soweit es die rechtlichen Rahmenbedingungen zulassen.

CT: Bislang ist die Kenntnis der Anlagen vor Ort ein wichtiger Aspekt, wenn Sie von einem Chemieunternehmen beauftragt werden. Wird diese an Bedeutung verlieren?
Machetanz: Das glaube ich nicht. Trotz der steigenden Effizienz durch digitale Tools bleibt die Nähe zu unseren Kunden entscheidend. Dadurch kennen wir die Situation vor Ort und können kurze Reaktionszeiten garantieren. Denn zum Schluss muss immer aufgrund der konkreten Situation in der Anlage entschieden werden, ob eine Anlage weitergefahren werden kann. Dieses Wissen um die Besonderheit einer Anlage ist Teil der Anlagensicherheit.

Zur Person
Hans Joachim Machetanz (52) leitet seit 1. Januar 2021 als CEO die TÜV SÜD Chemie Service GmbH. Machetanz war in 2017 zum COO berufen worden und hat in den vergangenen Jahren das aus der Eigenüberwachung von Bayer, Hoechst und DOW hervorgegangene Unternehmen zum Full-Service-Dienstleister für die Prozessindustrie mit entwickelt. Seine berufliche Laufbahn startete er 1996 nach einem dualen Studium bei Bayer und wechselte 2000 zur Betreiber-Überwachungsstelle, wo er als Sachverständiger tätig war. Nach Stationen bei Bayer Material Science, Wacker, Celanese und Lanxess kehrte Machetanz 2015 zu TÜV Süd Chemie Service zurück.

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