- Modellgestützte Methoden können abwassertechnische Anlagen und Strömungsverhältnisse mittlerweile sehr genau als „Digitale Zwillinge“ abbilden.
- Auf dieser Grundlage lassen sich die Ursachen von Fehlverhalten bei laufendem Betrieb analysieren und Konzepte für die Optimierung von Bestandsanlagen entwickeln und erproben, bevor ein Umbau der realen Anlage erfolgt.
- Zu möglichen Anwendungsfällen gehören etwa Nachklärbecken, Faultürme und Gärreaktoren sowie die Klärschlammverbrennung.
Dabei bedeutet „modellgestützt“ in diesem Zusammenhang die Abbildung realer Anlagen und Komponenten auf dem Rechner, das heißt auf einer virtuellen Ebene. Mit Hilfe eines solchen Digitalen Zwillings lassen sich dann während des laufenden Anlagenbetriebs die Ursache von Fehlfunktionen wie etwa erhöhten Ablaufwerten in Nachklärbecken detailliert analysieren. Ein wesentlicher Nutzen dieser Analysen liegt darin, nicht beobachtbare und im Betrieb kaum messbare Größen wie Sohlengeschwindigkeiten, Mischzeiten oder lokale Konzentrationen unter realen Geometrie- und Betriebsbedingungen hochaufgelöst zugänglich zu machen.
Nach der Ursachenanalyse lassen sich dann im zweiten Schritt Ertüchtigungskonzepte im Digitalen Zwilling entwickeln und optimieren, bevor ein Umbau der realen Anlage erfolgt – zum Beispiel Konzepte zur Strömungsführung, Einmischung von Betriebsmitteln, Einbau und Fahrweise von Belüftern und Rührwerken, aber auch die strömungsgerechte Positionierung von Messaufnehmern zur sicheren Überwachung und Regelung des Prozesses. Verschiedene Anwendungsbeispiele zeigen den Nutzen dieses Vorgehens für den Betreiber.
Nachklärbecken werden erfassbar
Aufgrund ihrer Größe und mangelnder Zugänglichkeit sind Nachklärbecken messtechnisch kaum zu erfassen. Hier liefert die detaillierte Strömungssimulation entscheidende Erkenntnisse darüber, wie die realen dynamischen Strömungs- und Phasenverhältnisse sind, welche Maßnahmen zu Verbesserung der Absetzleistung zu treffen sind und wie sich diese nach Umbau auf Leistung und Ablaufwerte auswirken.
Das Beispiel zeigt ein 59 x 11 x 2 m großes Becken, das inklusive des Einlaufkastens, der Abzugstrichter und der Klarlaufrinnen detailgetreu auf den Rechner übertragen wurde. Die Bewegung des Balkenräumers, der erfahrungsgemäß einen wesentlichen Einfluss auf die Schlammströmung im Becken hat, ist zeitaufgelöst berücksichtigt. Neben der geometrischen Übereinstimmung erreicht der Digitale Zwilling eine hohe Ähnlichkeit hinsichtlich des Materialverhaltens, indem er die Trübe durch ein geeignetes mehrphasiges Modell beschreibt. Neben der Wasserphase sind hier zwei Schlammphasen berücksichtigt, die abhängig von der lokalen Scherrate ineinander übergehen. Damit wird das Auftreten von Mikroflocken in Zonen hoher Strömungsscherraten berücksichtigt, die bei ungünstiger Strömungsführung zu erhöhten Ablaufwerten führen.
Zur physikalischen Beschreibung der Schlammeigenschaften kommen verschiedene etablierte Modelle zum Einsatz, die Dichte, Viskosität und Sinkgeschwindigkeit auf die schlammspezifischen Größen ISV (Schlammindex) und TS (Trockensubstratgehalt) beziehen. Ist der Digitale Zwilling hinreichend genau erstellt, beginnt die ingenieurtechnische Optimierung des Nachklärbeckens. Da der gesamte Strömungszustand im Nachklärbecken bekannt ist, lassen sich Regionen mit hoher Strömungsscherrate lokalisieren und entschärfen.
Ebenso lässt sich die Auswirkung veränderter Balkenräumer-Geschwindigkeiten und -Zyklen auf den TS-Gehalt im Klarlauf bestimmen. Im vorliegenden Fall ist es gelungen, durch eine zielgerichtete Modifikation des Verteilkastens die Gefahr von Kurzschlussströmungen mit hohen Scherraten signifikant zu verringern und das zur Flockung relevante Volumen des Einlaufbereichs deutlich effizienter auszunutzen. Die Störwirkung der einströmenden Trübe auf den im Gegenstrom fließenden Schlamm hat sich deutlich reduziert. Die Rückvermischungszone im Bereich des Einlaufs ist reduziert, und die zur Flockenauflösung führenden Strömungsgeschwindigkeiten sind unter den kritischen Grenzwert gesunken.
Faultürme und Gärreaktoren sind messtechnische Härtefälle
Messtechnisch eine noch größere Herausforderung als Nachklärbecken sind Faultürme oder Gärreaktoren. Aufgrund der Feststoffbeladung weisen die verarbeiteten Fluide deutlich nichtnewtonsches Fließverhalten auf. Das muss der Digitale Zwilling zwingend berücksichtigen. Üblicherweise bestimmt man das Fließverhalten mit Laborrheometern und überträgt es anschließend in ein geeignetes mathematisches Modell. In Gärreaktoren und bei der Co-Fermentation von biogenen Reststoffen im Faulturm werden jedoch bisweilen Materialmischungen mit einem breiten Größenspektrum verarbeitet, das sich in üblichen Rheometern nicht beproben lässt. Um dennoch hinreichend genau die Fließeigenschaften bestimmen zu können, sind Spezialrheometer erforderlich, die größer und robuster ausgeführt sind. Diese rühren das Material mechanisch und messen gleichzeitig das erforderliche Drehmoment.
Ist der Digitale Zwilling des Faulturms bzw. des Gärreaktors erstellt, lassen sich damit verschiedene Begasungsszenarien oder Propellereinbauten zur Umwälzung bequem auf dem Rechner miteinander vergleichen. Der detaillierte Einblick in den Strömungszustand ermöglicht es dann wiederum, die Anlage gezielt zu optimieren.
Auch Klärschlammverbrennung lässt sich optimieren
Die thermische Entsorgung von Klärschlämmen ist mit der Änderung der Klärschlammverordnung noch wichtiger geworden. Apparatetechnisch kommen für die angestrebte Mono-Verbrennung häufig Wirbelschichtöfen zum Einsatz. In der Planung und Ertüchtigung von solchen Anlagen spielen strömungstechnische Aspekte wie eine gleichmäßige Bettfluidisierung, die geeignete Aufgabe des Klärschlamms, die Luftaufteilung zwischen Primär- und Sekundärluft sowie die optimale Position und Eindringtiefe der Sekundärluft eine wesentliche Rolle. Sie beeinflussen Ausbrand, Emissionen, Verschlackung und Verschleiß des Ofens sowie die mögliche Wärmeausnutzung entscheidend.
Auch die speziellen Verhältnisse des fluidisierten Betts mit den darin stattfindenden Trocknungs- und Abbrandreaktionen lassen sich mit Hilfe der Strömungssimulation sicher darstellen und optimieren. Im Gegensatz zur Bemessung von Anlagen und Komponenten existieren für die Simulation und das modellgestützte Engineering derzeit noch keine Normen oder verbindliche Regelwerke. Diskrete Werte wie lokale Strömungsgeschwindigkeiten, Konzentrationen oder Phasenanteile lassen sich mangels verlässlicher Messwerte aus dem realen Prozess nur selten direkt validieren.
Keine Normen für die Qualitätssicherung
Die spezifische Herausforderung in der Beschreibung abwassertechnischer Anlagen liegt in der Beschreibung der Schlammeigenschaften. Während etwa für die Nachklärung funktionale Beziehungen zum Tragen kommen, die die Sinkgeschwindigkeit der Schlammphase mit der Trockensubstanz und dem Schlammindex korrelieren, müssen für die Modellierung von Faulschlämmen die rheologischen Eigenschaften ermittelt werden. Dies ist üblicherweise nur dadurch möglich, rheometrisch zu messen und die ermittelten Werte gleichzeitig simulatorisch darzustellen.
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Qualitätssicherung liegt darin, die tatsächliche Geometrie bei Bestandsanlagen zu verifizieren. Im Vergleich zu Anlagen der chemischen Technik sind Abwasseranlagen im Bestand häufig nur mangelhaft dokumentiert, so dass sich zum Beispiel die Lage von nachträglich eingebrachten Öffnungen, Leitblechen, Rohrleitungen und Bauteilen, die die Strömung beeinflussen, nur vor Ort und im engen Gespräch mit dem Betriebs- und Baupersonal klären lässt.