Claim-Situationen
  • Situationsbewusstsein ist die Basis für ein erfolgreiches Claim-Management. Wichtig ist dabei, das ganze Projektteam einzubeziehen und die Aufgabe nicht ausschließlich an einen Claim-Manager zu delegieren.
  • Claim-Situationen durch das eigene Projektteam einschätzen zu lassen, kombiniert die unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissensstände von vielen.
  • Im Team entsteht ein deutlich leistungsfähigeres Situationsbewusstsein, welches es erlaubt, Ansprüche im Projekt besser zu managen, als es Einzelne es vermögen.
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Bild: Chlorpylle – AdobeStock

Der englische Begriff „Claim-Management“ wird in der deutschen Sprache gängig als „Nachtragsmanagement“ oder „Nachforderungsmanagement“ übersetzt. Eigentlich sachlich nicht richtig, denn das englische Wort „Claim“ bedeutet unter anderem „Anspruch“. Dieser Anspruch soll erst im weiteren Verlauf in einen Nachtrag, eben eine nachträgliche Veränderung des Projektvertrages eingebracht werden.

Claim-Management ist also wechselseitiges Anspruchsmanagement der Vertragsparteien im Projektverlauf. Ansprüche („Claims“) an den jeweils anderen Vertragspartner können auf vielerlei Art in industriellen Projekten entstehen. Ein unscharfes Leistungssoll des Auftragnehmers im Vertrag, verletzte Mitwirkungspflichten des Auftraggebers der Anlage, konträre Wetterbedingungen auf der Baustelle. Gefahr für das Projekt und somit für die Vertragsparteien droht aus jeder erdenklichen Richtung. Wichtig also, schon beim Entwurf und der Verhandlung des Projektvertrages die Augen offen zu halten nach Unbill, welches dem Projekt und damit dem eigenen Unternehmen drohen kann. Wichtig hierbei: Die Augen beider Vertragsparteien sollten ebenso für die ganze Dauer der Projektabwicklung bis zur Übernahme der Anlage durch den Auftraggeber geöffnet bleiben, um aktuelle und künftige Situationen im Projekt zu erkennen, die in Claims gegeneinander münden können.

Situationsbewusstsein – was Projektingenieure von Fliegern lernen können

Situationsbewusstsein ist somit in der Vorbereitung und Abwicklung von industriellen Projekten besonders gefragt. Es ist der bestimmende Faktor für erfolgreiches Claim-Management im Zusammenhang mit gestörten Bauabläufen. Wird über den Begriff Situationsbewusstsein gesprochen, so kommt schnell die Sprache auf Dr. Mica Endsley, der ehemaligen Chef-Wissenschaftlerin der US Air Force. Endsley hat ein Modell für den Prozess zur Erlangung von Situationsbewusstsein folgendermaßen beschrieben:

  1. Die Objekte in der Umgebung werden vom Situationsteilnehmer wahrgenommen.
  2. Die Bedeutung dieser Objekte wird vom Situationsteilnehmer verstanden.
  3. Die Veränderungen in der Umgebung der Objekte und der zukünftige Zustand der Objekte werden zutreffend vom Situationsteilnehmer für eine relevante Zeitspanne vorhergesagt.

Im Anschluss hieran folgen die vom Situationsbewusstsein separierten Prozesse „Entscheidung“, „Planen der Maßnahmenumsetzung“ und „Maßnahmenumsetzung“.
Aus dem Prozessmodell des Situationsbewusstseins wird ersichtlich, dass die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Projektrisiken und Projektzusammenhängen genauso essenziell für wirksames Claim-Management im Projekt ist, wie die notwendige Aufmerksamkeit für noch so kleine Besonderheiten im Projektgeschehen.

Schlüssel zu gutem Situationsbewusstsein in dynamischen Situationen

Dr. Mica Endsley beschäftigte sich mit dem Konstrukt des Situationsbewusstseins in Bezug auf die bemannte Fliegerei. Viele (Flug-) Unfälle können durch unangemessenes menschliches Verhalten aufgrund von mangelndem Situationsbewusstsein erklärt werden. Wie schätzen Piloten die Leistungsfähigkeit ihres Flugzeuges ein? Wie stark muss bei Scherwinden das Seitenruder des Flugzeuges betätigt werden? Nahezu endlos ließe sich diese Liste fortführen. Schnell wird erkennbar, dass – nicht nur in der Fliegerei – der Schlüssel zu gutem Situationsbewusstsein in dynamischen Situationen die Einflussgrößen „Erfahrung“, „gute kognitive Fähigkeiten“, „hohe (Re-)Aktionsgeschwindigkeit“ und eine „exakte Wahrnehmung des Situationsumfeldes“ sind.

Auch im industriellen Projektgeschäft geht es dynamisch und hochkomplex zu. Störungen im Projektverlauf machen für die Projektbeteiligten kurzfristig Änderungen vom Plan notwendig, um dennoch die Projektziele zu erreichen. In der Folge entstehen bei den Projektbeteiligten Kompensationsansprüche für die Auswirkungen dieser Änderungen. Selten sind die Anspruchsgrundlagen hierfür glasklar und schwarz-weiß. Das Projekt schreitet voran; die Situation zur Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber dem Vertragspartner im Projekt ändert sich täglich. Die Situation ähnelt der Fliegerei – vielleicht vollziehen sich die Vorgänge nicht so schnell, aber das technische, kaufmännische und vertragliche Umfeld von industriellen Projekten ist ebenfalls hochkomplex und dynamisch.

Situationsbewusstsein des Projektteams schärfen

Situationsbewusstsein ist nicht unmittelbar messbar, es lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Fehlt Situationsbewusstsein oder ist es zwar ausgeprägt, jedoch verzerrt, so macht es sich nicht immer in Fehlern oder Unfällen bemerkbar. Dennoch ist es unabdingbar für die erfolgreiche Behandlung von komplexen Situationen. „Der Meier hat immer so einen guten Riecher für erfolgreiche Claims“ heißt übersetzt nichts anderes als dass „der Meier“ über hohes Wissen über bestimmte Sachverhalte, gepaart mit vielfältiger Erfahrung in ähnlichen Situationen und ein exzellentes kognitives „Radar“ im Projekt­umfeld verfügt.

Dennoch gilt: „Auch Paranoiker haben Feinde“. Nur weil die Person, die in der Vergangenheit bewiesen hat, dass sie über ein herausragendes Situationsbewusstsein verfügt, die situative Einschätzung eines als Paranoiker bekannten Kollegen als „absurd“ bezeichnet, ist noch lange nicht gesagt, dass die aktuelle Claim-Situation im Projekt sich nicht ins Absurde entwickeln kann. Um diesem Umstand Risiko minimierend entgegentreten zu können, ist es notwendig, das Situationsbewusstsein des eigenen Projektteams für die Belange des Claim-Managements zu schärfen und durch Checklisten, gemeinsame Vertragslesungen und regelmäßige interne Claim-Meetings – zumindest teilweise – zu „automatisieren“.

Manchmal wird der Begriff „Team“ halbernst als „Toll, ein anderer macht‘s“ übersetzt. Das ist hier ganz bestimmt nicht gemeint. Claim-Situationen durch das eigene Projektteam einschätzen zu lassen, kombiniert die unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissensstände von vielen. So entsteht ein deutlich leistungsfähigeres Situationsbewusstsein, welches es erlaubt, Ansprüche im Projekt besser zu managen, als es Einzelne, selbst ausgesprochene Claim Manager, es vermögen. Das Situationsbewusstsein für claim-management-relevante Umstände wird durch strukturierte Teamarbeit signifikant erhöht.

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