Februar 2014
  • Riesige Gasfunde in Australien, im Mittleren Osten, Aserbeidschan und sogar im Mittelmeer, die Erschließung unkonventioneller Lagerstätten in den USA und ein enormes Potenzial an Fördermöglichkeiten von China über Kanada bis Argentinien tragen dazu bei, dass der klassische Markt derzeit umgekrempelt wird.
  • Die Entwicklung der Gasverflüssigung und des LNG-Transports trägt dazu bei, dass die einstmals starren, Pipeline-dominierten Gasmärkte in Bewegung geraten.

Gegenüber 2012 hat sich im vergangenen Jahr die Zahl der von der US-Regierung erteilten Ausfuhrlizenzen für Rohöl verdoppelt. Trotzdem werden die Ölmultis der Ölflut in Texas und Lousiana kaum Herr. Denn nicht nur die Offshore-Anlagen im Golf von Mexiko sorgen für einen steten Rohstoffnachschub, sondern auch durch die Pipelines aus dem Norden strömt unermüdlich Öl und Gas aus den amerikanischen Schiefergas- und -ölfeldern.

Vor allem die Schiefergasfunde führen dazu, dass sich die Landkarte der Weltchemie derzeit dramatisch verändert. Das US-Beratungsunternehmen IHS rechnet damit, dass sich die nordamerikanische Chemie- und Kunststoffproduktion bis 2020 verdoppeln wird, während die Produktion in Europa im selben Zeitraum um ein Drittel schrumpfen soll. „Die Chemieindustrie in den USA ist an einem Wendepunkt. Nach einem Jahrzehnt, in dem sie kontinuierlich an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat, folgt nun die Wiederauferstehung als Wachstumsindustrie“, stellt T. Kevin Swift, Chefökonom des US-Chemieverbandes ACC im Dezember fest.

Befeuert wird das Wachstum von einer wahren Projektflut. Im Jahr 2013 waren nach Angaben von IHS in den USA 126 Chemieanlagenprojekte im Wert von 84 Mrd. Dollar angekündigt. Mehr als die Hälfte von Investoren aus dem Ausland, die sich den billigen Rohstoff Schiefergas zunutze machen wollen. Bis 2025 könnte der unkonventionelle Energieträger nach Schätzungen von IHS 100 Mrd. Dollar Investitionen anstoßen.

Mit einem Gaspreis, der um den Faktor drei bis vier unter dem in Europa liegt, erscheint dieses Szenario nicht unrealistisch. Bis zur Jahrtausendwende galt nahezu überall die Erkenntnis als gesichert, dass die fossilen Energieträger Öl und Gas in nicht allzu ferner Zukunft ihren Zenit erreicht haben werden und die Förderung zurückgehen wird. Die Konsequenz: steigende Preise.

Folgerichtig und konsequent machte man sich – auch vor dem Hintergrund der Klimaproblematik – vor allem in Deutschland an die Energiewende. Doch die Prämissen haben sich quasi über Nacht verändert. Fraglich bleibt allerdings, wie nachhaltig der Fracking-Boom in den USA ist. Während die US Energiebehörde EIA ihre Schätzungen im vergangenen Jahr nach oben korrigiert hat, melden einzelne Ökonomen wie die Amerikanerin Deborah Rogers Zweifel an: Sie verweist auf Regierungsunterlagen, wonach der Höhepunkt der Förderung in den riesigen Schiefergasfelder Bakken und Eagle Ford bereits im Juni 2010 erreicht wurde.

Öl und Gas ohne Ende
Dennoch: Riesige Gasfunde in Australien, im Mittleren Osten, Aserbeidschan und sogar im Mittelmeer, Schiefergas und -öl in den USA und ein enormes Potenzial an Fördermöglichkeiten von China über Kanada bis Argentinien tragen dazu bei, dass der klassische Markt derzeit umgekrempelt wird. Im Vergleich dazu sind die umstrittenen Fracking-Bemühungen westeuropäischer Länder kaum ein Tropfen im Ozean.

Auch die Entwicklung der Gasverflüssigung und des LNG-Transports trägt dazu bei, dass die einstmals starren, Pipeline-dominierten Gasmärkte in Bewegung geraten. Als Import-Terminals für LNG geplante Anlagen in den USA werden zu Export-Terminals umgerüstet. Die ursprünglich dafür vorgesehenen Gaslieferungen aus Katar werden heute nach Asien und Europa umgeleitet. Insgesamt hat die US-Regierung im vergangenen Jahr fünf Projekte für den Export von amerikanischem Erdgas genehmigt. Allerdings hält die Obama-Administration nach wie vor den Daumen auf dem Rohölexport: Da lediglich in Raffinerien verarbeitete Produkte exportiert werden dürfen, ist der Preis von Rohöl auf dem US-Markt vergleichsweise niedrig.

In den USA wird die Stromproduktion vermehrt von Kohle auf Erdgas umgestellt und selbst Spediteure wollen ihre Truck-Flotten künftig mit Erdgas anstelle von Diesel betreiben. In Hamburg und Bremerhaven will Bomin Linde bereits bis 2015 Terminals bauen, mit denen künftig Schiffe mit sauberem LNG-Treibstoff versorgt werden können und dabei helfen, das Gas als Schiffstreibstoff zu etablieren.  Einer Umfrage zufolge plant derzeit jeder fünfte Reeder, bestehende Schiffe auf den Betrieb mit LNG umzurüsten oder solche mit LNG-Antrieb zu bestellen.

LNG: Erdgas wird mobil
In Rotterdam wurde im Herbst 2011 das LNG-Terminal Gate in Betrieb genommen, das jährlich 12 Mrd. Kubikmeter LNG für den europäischen Markt regasifizieren kann. Ein Viertel der Kapazität hat sich der deutsche Energieversorger Eon gesichert.  Der Kraftwerksbetreiber will sich dadurch unabhängiger von russischem Pipelinegas machen und nutzt die neue Quelle, um mit dem russischen Gasmulti Gazprom über Preisnachlässe zu verhandeln. Dem Rivalen RWE war dies im vergangenen Herbst gelungen: Mit Blick auf deutlich gesunkene Spotmarktpreise erhält der Konzern von Gazprom eine Rückzahlung in Höhe von 1,5 Mrd. Dollar.

Der Vorgang macht deutlich:  Da Gas mobil wird, wackelt die jahrzehntelang praktizierte Preisbindung von Erdgas ans Erdöl. Da in den kommenden zehn Jahren in Japan zahlreiche langfristige LNG-Lieferverträge auslaufen werden, verhandeln die Importeure derzeit hart: Der Energieversorger Kepco hat beispielsweise vor Kurzem einen langfristigen Vertrag abgeschlossen, bei dem der LNG-Preis an den Tagespreis im amerikanischen Henry Hub, Louisiana, gekoppelt ist.

Schon heute geht die Schere zwischen Spotmarktpreisen für Erdgas und den Weltmarktpreisen für Erdöl auseinander. So stark, dass sich Megaprojekte zur Konversion von Erdgas zu Flüssigkraftstoffen lohnen. Der Energiekonzern Shell setzte bereits 2006 mit seiner größten Einzelinvestition (19 Mrd. USD) in das Gas-to-Liquids-Projekt Pearl in Katar auf diese Entwicklung. War das Unternehmen bei seiner Investitionsentscheidung noch von einem Ölpreis von 62 Dollar/barrel ausgegangen, schwankt der durchschnittliche Preis seit drei Jahren zwischen 80 und 110 Dollar/barrel. Die Anlage läuft nahezu unter Volllast und vergoldet dem Energiemulti sowie dem Emirat Katar den Kapitaleinsatz.

Auch in den USA wird die Kluft zwischen Öl- und Gaspreis immer größer. Das Beratungsunternehmen Bernstein Research schätzt, dass allein dadurch die Profitabilität von US-Chemieunternehmen, die Ethancracker betreiben, in 2011 um 14 Prozent gestiegen ist – das Plus summiert sich demnach auf 6 Mrd. Dollar. Auch deutsche Unternehmen sichern sich dabei einen Anteil. Die BASF hat im vergangenen Jahr einen Naphta-Cracker im texanischen Port Arthur auf Ethan umgerüstet.

GTL: Gewinn aus der Preisdifferenz
Hohe Öl- und niedrige Gaspreise sind zudem ideale Voraussetzungen für GTL-Projekte, die umso profitabler sind, je größer diese Differenz ausfällt. Das südafrikanische Unternehmen Sasol plant deshalb in Westlake, Louisiana, eine GTL-Anlage und will dafür zwischen  11 und 14 Mrd. Dollar investieren. Die abschließende Investitionsentscheidung soll bis 2016 fallen, wenn die Arbeiten für das Front-End-Engineering and Design (FEED) abgeschlossen sind.
Derweil hat Shell im Dezember ein ähnliches Projekt in den USA aufgegeben. Rasant steigende Baukosten in Nordamerika sowie unsichere langfristige Prognosen für die Preise von Öl und Gas hätten die Perspektiven für das Projekt deutlich verschlechtert, hieß es in einer Pressemitteilung im Dezember. Doch viel gewichtiger dürfte aber ein anderer Grund gewesen sein: Nach den enormen Investitionen der vergangenen Jahre fordern nicht nur Shell-Aktionäre nun Zurückhaltung bei Megaprojekten. Auch andere Konzerne wie das US-Unternehmen Chevron haben angekündigt, ihre Investitionen aufgrund gestiegener Ausgaben zurückfahren zu wollen.

Am fehlenden Bedarf oder gar der Erwartung sinkender Ölpreise dürfte dies kaum liegen. Erst im Dezember hat die Internationale Energieagentur IEA ihre Schätzungen für den Ölbedarf deutlich nach oben korrigiert. War das Institut im Jahr zuvor noch von einem Bedarfszuwachs von 145.000 barrel/Tag ausgegangen, wurde diese Zahl im Dezember auf 1,2 Mio. barrel/Tag nach oben korrigiert. 2013 lag der tägliche Ölbedarf damit weltweit bei 91,2 Mio. barrel/Tag – Tendenz steigend.

Fazit: Die oben schlaglichtartig beschriebenen Entwicklungen im globalen Öl- und Gasgeschäft zeigen, wie stark der Markt in Bewegung geraten ist. Neue Funde, innovative Explorationstechniken und vor allem der Trend zur Gasverflüssigung und zum LNG-Transport haben das globale Kräftespiel verändert. Die Chemieindustrie ist davon direkt betroffen – sollte sich der Schiefergasboom als nachhaltig erweisen, könnten sich die globalen Kraftzentren der Chemie in Richtung USA verschieben.  

Die Trends im Anlagenbau Öl und Gas sowie der Chemie sind auch Thema des 3. Engineering Summit (1.-2. Juli 2014, Mannheim). Mehr Infos unter http://www.engineering-summit.de/

Öl- und Gasfakten
Angebot und Nachfrage

Von den rund 90 Mrd. Fass Öl, die die Welt täglich konsumiert, werden fast 10 Prozent in den USA gefördert. Die US-Energiebehörde EIA geht in ihrem jüngsten Ausblick davon aus, dass die Ölförderung von 8,5 Mio. Barrel/d in  2014 in den Folgejahren auf 9,6 Mio. b/d steigen und damit das Niveau von 1970 wieder erreichen wird. Und auch die Gasproduktion steigt dramatisch. Allein die Möglichkeit, Erdgas durch hydraulisches Fracking zu gewinnen, hätte – so die Behörde – die Gasreserven der Welt um 47 Prozent erhöht.
Außerdem schätzt die EIA die weltweit verfügbaren und technisch erreichbaren Schieferölreserven auf 345 Mrd. barrel, verteilt auf 42 Länder. Allein mit Schieferöl ließe sich dadurch der Energiebedarf der Welt mehr als zehn Jahre lang decken. Die größten Schieferöl-Vorkommen finden sich in Russland, USA, China, Argentinien und Lybien.  

Energiewende paradox
US-Gas verbilligt Kohle in Deutschland

Die Folgen der amerikanischen Öl- und Gas-Bonanza sind bereits auf der ganzen Welt zu spüren: Selbst die im vergangenen Jahr um mehr als sechs Prozent gestiegenen Kohleeinfuhren in Deutschland lassen sich – zumindest teilweise – darauf zurückführen: Da Schiefergas in den USA die Kohle als Kraftwerksbrennstoff verdrängt, drückt billige Kohle auf den Weltmarkt – und landet schließlich, Energiewende hin oder her, auch wirtschaftlich unschlagbar in deutschen Kraftwerken.

Energiemix
Öl, Gas oder Kohle?

Im Energiemix spielt derzeit Kohle immer noch eine gewichtige Rolle. Nach Zahlen der Internationalen Energieagentur IEA wird der Kohlebedarf auch noch bis ins Jahr 2035 weiter steigen. Allerdings kommt der Energiekonzern Exxon zu einem anderen Ergebnis: Einer im Dezember veröffentlichten Studie zufolge könnte Erdgas den Einsatz von Kohle als Energieträger in zehn Jahren überholen und im Jahr 2025 der zweitwichtigste Brennstoff nach Öl werden. Sollte das der Fall sein, könnte 2030 der Höhepunkt der Treibhausemissionen erreicht werden. Da Erdgas als Energieträger nur halb so viel Kohlendioxid erzeugt wie Kohle, würden die CO2-Emissionen nach 2030 sinken.

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