CT: Jeder spricht von Digitalisierung, doch bislang sind Disruptionen und neue Geschäftsmodelle wie im Konsumer-Geschäft im Anlagenbau noch nicht erkennbar. Was treibt Sie an?
Herzig: Es stimmt schon, auch unsere Kunden fragen bislang noch kaum nach konkretem Mehrwert aus der Digitalisierung, sondern das Thema ist zum Teil aus der Angst getrieben, hier etwas zu verschlafen. Unser Antrieb kommt aus der Beobachtung unserer Umwelt: Dort sehen wir einen klaren Trend zur Plattform-Ökonomie, wie sie uns die großen Internetkonzerne vormachen. Deshalb fragen wir uns: Welche Entwicklung könnte sich zwischen uns und unsere Kunden schieben und unser Geschäftsmodell in Frage stellen? Wie müssen wir uns verändern, um dafür vorbereitet zu sein? Digitalisierung ist deshalb Teil einer langfristigen Unternehmensstrategie und soll uns helfen, an den Veränderungen in unserer Umwelt zu partizipieren.
CT: Gerade den mittelständischen Unternehmen wird häufig vorgeworfen, dass sie schlecht auf die digitale Transformation vorbereitet sind und nicht schnell genug handeln.
Herzig: Ich bezweifle, dass wir in Deutschland die Digitalisierung verschlafen, und wir hinken auch nicht hinterher. Vielmehr sehe ich Digitalisierung als Marathonlauf: Diesen beginnt man nicht mit einem Sprint, sondern man muss ihn sich strategisch einteilen und einen Weg finden, der zu einem passt.
CT: Wie geht AZO diesen Marathonlauf an?
Herzig: Indem wir zunächst die größten Hindernisse auf dem Weg zum digitalen Unternehmen aus dem Weg räumen. Diese sind Silodenken, fehlende Ressourcen und die Resistenz gegenüber Veränderungen. Wenn man Digitalisierung ernst nimmt, dann verändert das ein Unternehmen insgesamt. So erfordert die digitale Transformation beispielsweise das Arbeiten in interdisziplinären Teams. Da passte es beispielsweise nicht mehr, dass AZO in Deutschland aus drei Unternehmen, einem für Schüttguttechnik, einem für Flüssig-Prozesstechnik und einem für Automatisierung bestand. Deshalb sind wir dabei, diese Struktur zu ändern, mit dem Ziel, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu stärken. Der Schlüssel zur Digitalisierung sind unsere Mitarbeiter – da sitzt die Kompetenz des Unternehmens. Diese müssen wir auf den Marathonlauf mitnehmen. Wir haben deshalb auch keine Digitalisierungsabteilung, an die man das Thema delegieren kann – wir alle machen Digitalisierung.
CT: Und wie tragen Sie das Thema in die Mannschaft?
Herzig: Startpunkt war eine Zukunftskonferenz mit allen Führungskräften bis zur Meisterebene. Daraus sind vier Pilotprojekte entstanden, für die sich jeder im Unternehmen bewerben konnte – die Beteiligung war überwältigend: 210 Mitarbeiter wollten daran mitarbeiten, keiner wurde abgelehnt. Um das zu organisieren, greifen wir auf den Rat von zwei Sozialwissenschaftlern zurück. Ziel der Projekte ist unter anderem, zu erarbeiten, wie unsere künftige Unternehmensstruktur aussehen soll und mit welchen Methoden wir arbeiten wollen. So untersuchen wir beispielsweise die Frage, ob ein funktionaler Ansatz im System-Engineering für uns eine geeignete Methode ist. Immer mit der Überzeugung im Hintergrund: Digitalisierung muss alle Bereiche des Unternehmens erfassen, sonst funktioniert die Transformation nicht.
CT: Welche Beispiele für „Plattform-Ökonomien“ sehen Sie in Ihrem Umfeld?
Herzig: Einer der wesentlichen Treiber für die Digitalsierung der Wirtschaft ist die Individualisierung der Produkte und die damit sinkenden Losgrößen. So sehen wir einen Trend zum 3D-Druck: Logistiker wollen beispielsweise im Kundenauftrag vor Ort Ersatzteile drucken. Dort wird Rohmaterial in einer ganz anderen Form eingesetzt, wie wir das heute kennen: Es werden sehr viel kleinere Mengen verarbeitet, und diese kleinen Mengen müssen anders zugeführt werden. Zu den Anforderungen gehören beispielsweise eine hohe Homogenität und das Arbeiten mit Schutzgasen. Dafür benötigen wir eine andere Zuführtechnik. Das müssen wir gemeinsam mit dem Kunden entwickeln. Aber die Fragestellung ist ja noch deutlich umfangreicher: Was benötigt der Kunde für seine Plattform-Ökonomie? Braucht er eine Maschine oder wird es unsere Aufgabe, den Rohstoff zu liefern? Die Kunden interessieren sich immer weniger für Technik, sondern vielmehr für Technologien.
Ein anderes Beispiel sind individualisierte Produkte wie spezielle Müslimischungen oder der kundenspezifisch gefertigte Riegel. Es werden keine großen Batches mehr produziert, sondern sehr viele individuelle Einheiten. Wie schafft man es, automatisiert aus einer großen Anzahl möglicher Rohstoffe pro Sekunde eine Mischung aus mehreren Rohstoffen mit beispielsweise 250 g zu produzieren? Mit unseren klassischen Automatisierungsstrategien lässt sich das nicht lösen. Das erfordert dezentrale Intelligenz. Und die dezentralen Systeme, beispielsweise Waagen, müssen viel günstiger werden, weil wir für diese Anforderung sehr viele davon benötigen.
CT: Dennoch ist das noch keine Digitalisierung, sondern lediglich eine andere Technologie. Brauchen Sie dafür ein „digitales Unternehmen“?
Herzig: Es stimmt, solche technologischen Veränderungen sehen wir seit der Einführung des PC im Jahr 1984. Doch wenn künftig nicht nur Technik, sondern Technologie gefragt ist, dann brauchen wir eine andere Herangehensweise: Unsere Anlagenkomponenten bleiben mechatronisch. Aber wenn man daraus Systeme baut, benötigt man ein System-Engineering. Und ein vernünftiges System-Engineering erfordert funktionales Denken – und das funktioniert in der alten Aufstellung nicht, dafür müssen Denk-Silos aufgelöst werden. In interdisziplinären Teams müssen alle drei Sichtweisen vorhanden sein.
CT: Und wie kann sich Digitalisierung auszahlen?
Herzig: Mit der Monetarisierung digitaler Produkte tun wir uns derzeit noch schwer – was aber nicht bedeutet, dass das immer so bleiben wird. Auch die vielfach propagierte vorausschauende Wartung mit Hilfe digitaler Systeme sehen wir kritisch – für unsere Systeme ist der Aufwand dafür meist höher, als der zu erwartende Nutzen. Ganz konkret wollen wir mit Digitalisierung beispielsweise unser demografisches Problem angehen: In den kommenden Jahren werden viele erfahrene Mitarbeiter in Rente gehen. Den Erfahrungsschatz wollen wir mit digitalen Methoden konservieren. Eine Möglichkeit besteht darin, die Mitarbeiter ihre Erfahrungen erzählen zu lassen und diese Geschichten per künstlicher Intelligenz in sogenannte Knowledge-Graphen zu übersetzen. Dazu arbeiten wir mit spezialisierten Start-up-Unternehmen zusammen.
Zur Person
Dieter Herzig, CDO AZO
Dieter Herzig (63) startete seine Karriere nach dem Studium der Elektrotechnik bei Agfa-Gevaert und studierte zusätzlich medizinische Informatik. 1979 gründete Herzig hsh-Systeme, ein auf technische Software spezialisiertes Unternehmen. Dieses fusionierte 2004 mit AZO, Herzig wurde Geschäftsführer von AZO Controls. Nach Zusammenschluss der beiden Unternehmen wechselte Herzig als CDO in die Geschäftsleitung von AZO.
Sie möchten gerne weiterlesen?
Unternehmen
AZO GmbH & Co. KG
Rosenberger Straße 28, Industriegebiet Ost
74706 Osterburken
Germany