Künstliche Intelligenz erscheint Menschen häufig entweder als Bedrohung oder als Heilsbringer

Künstliche Intelligenz erscheint Menschen häufig entweder als Bedrohung oder als Heilsbringer. (Bild: IBM iX)

  • Viele Unternehmen haben über Jahrzehnte hinweg durch manuelle Forschung enormes Wissen angesammelt.
  • KI-Lösungen bieten die Möglichkeit den Wissensbestand systematisch zu erfassen.
  • Damit Experten nachhaltig mit KI-Lösungen arbeiten können, muss das Prozessdesign integrativ und partizipativ sein.

Mit steigenden Kundenanforderungen, der gesellschaftlichen Nachfrage nach umweltfreundlicheren Lösungen bei gleichzeitigem Innovationsdruck stehen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in der chemischen Industrie vor der Herausforderung, schneller und flexibler zu arbeiten. Hier kann der gezielte Einsatz von KI in Kombination mit menschlicher Leistung einen entscheidenden Beitrag leisten, um Arbeitsprozesse und -ergebnisse zu optimieren.


Riesige Datenmengen fordern Experten heraus

Das Potenzial für den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Industrie ist enorm und steht bei den meisten Unternehmen inzwischen weit oben auf der Agenda. Dies gilt auch für die chemische Industrie. Innovationen, etwa neue Stoffe oder Verfahren, spielen hier eine entscheidende Rolle. Solche Erfindungen erfolgen aber nicht automatisiert, sondern sind auch das Ergebnis intensiver manueller Forschung. Auf diese Weise haben viele Unternehmen über Jahrzehnte hinweg ein enormes Wissen angesammelt: Aus globaler Perspektive ein kaum noch beherrschbarer, riesiger Datenschatz aus Expertenwissen, Forschungsberichten, wissenschaftlichen Abhandlungen und Patenten. In diesem Datendschungel den Überblick zu behalten, ist dementsprechend aufwendig. Viele F&E-Experten verbringen den Großteil ihrer Arbeitszeit mit der Recherche und Konsolidierung von Daten – und erfassen doch nur einen Bruchteil des verfügbaren Wissens.

KI-Lösungen können Perspektiven in der Forschung eröffnen.
KI-Lösungen können Perspektiven in der Forschung eröffnen. (Bild: IBM iX)

Die Zukunft gehört der hybriden Intelligenz

Dabei bieten KI-Lösungen hier die Möglichkeit, Recherchezeiten von Wochen auf wenige Minuten zu verkürzen. Und sie helfen nicht nur, den globalen Wissensbestand systematisch zu erfassen. Vielmehr eröffnen sie auch Perspektiven in der Forschung, etwa wenn Eigenschaften neuer Materialien auf der breiten Datenbasis vorhergesagt werden können. Richtig eingesetzt, haben sie zudem das Potenzial, bestehende Muster aufzubrechen und eine neue, skalierbarere wissenschaftliche Methode zu ermöglichen, die es erlaubt, Schritte in der Wertschöpfungskette zu verknüpfen, die zuvor isoliert betrachtet wurden. Darüber hinaus wird eine datengesteuerte End-to-End-Sicht bis hin zur Integration von angrenzendem Domänenwissen möglich. All das spart Ressourcen und schont die Umwelt.
Den Menschen überflüssig macht die Leistung der KI aber keineswegs. Denn zu Kreativität, Erfahrung, Intuition und der sinnvollen Bewertung und Einordnung von Ergebnissen sind weiterhin Experten nötig. Das größte Potenzial für eine effektive Problemlösung bietet daher die Zusammenarbeit zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz. Auf diese Weise können die Stärken beider Seiten genutzt werden, um komplexe Probleme zu lösen und neue Erkenntnisse zu gewinnen – und zwar schneller, erfolgreicher und umfassender, als es sonst je möglich wäre. Doch es stellt sich die Frage, wie eine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen Experten und KI konkret gestaltet werden kann.


Verständnis und Offenheit sind entscheidend

Die einvernehmliche Kooperation von Mensch und Maschine versteht sich nicht von selbst – auch wenn die Vorteile auf den ersten Blick offenkundig zu sein scheinen. In der Praxis aber ist eine intensive Zusammenarbeit zwischen Experten und KI mit tiefen Einschnitten und nachhaltigen Veränderungen für die etablierten Arbeitsabläufe verbunden. Das kann bis hin zu grundsätzlichen Veränderungen in der Art und Weise, wie Forschung seit Jahrzehnten betrieben wird, gehen. Es ist daher nur verständlich, wenn solche substanziellen Veränderungen von Bedenken, Vorbehalten und Unsicherheit oder aber – im Gegenteil – von überzogenen Erwartungen begleitet werden, die es bei der Entwicklung und Implementierung solcher Lösungen unbedingt zu berücksichtigen gilt.
Künstliche Intelligenz erscheint hier entweder als Bedrohung oder Heilsbringer: Während die „Skeptiker“ den Verlust der menschlichen Kontrolle und die vermeintliche Abwertung der eigenen Expertise fürchten, sehen die „Enthusiasten“ in KI eine allwissende Blackbox, die ihre Probleme auf magische Weise löst. Realistisch betrachtet, ist weder das eine noch das andere richtig, aber genauso wenig falsch.
Halten wir fest: KI-Lösungen werden die tägliche Arbeit von Experten nachhaltig verändern. Aber, und das ist die gute Nachricht: Dies ist bei richtiger Ausgestaltung eine Veränderung hin zum Besseren. Hierbei kommt es aber maßgeblich auf das richtige Prozessdesign an – es muss integrativ und partizipativ sein.

Die Zusammenarbeit zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz bietet Potenzial für eine effektive Problemlösung.
Die Zusammenarbeit zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz bietet Potenzial für eine effektive Problemlösung. (Bild: IBM iX)

KI-Lösungen sollten nutzerzentriert sein

Das breite Spektrum an Einsatzmöglichkeiten von KI-gestützten Lösungen kann durchaus überwältigen oder gar blenden. Leicht kann man in die Falle tappen und alles aus einer rein technischen Perspektive betrachten. Die Zusammenarbeit zwischen Experten und KI gelingt aber nur dann, wenn sie nutzer- bzw. experten- und nicht technikgetrieben entwickelt wird. Egal wie komplex die technische Lösung im Hintergrund ist, die Nutzer sollten von dieser Komplexität nicht überfordert werden. Dafür aber ist Transparenz, Erklärbarkeit und Vertrauen in die Daten und KI von zentraler Bedeutung. Die Nutzererfahrung und die Interaktion der Experten mit dem System müssen dabei so intuitiv wie möglich sein. Aber wie lässt sich der größte Nutzen aus der Zusammenarbeit von Experten und KI ziehen und welche Punkte sollten dabei beachtet werden?


1. Erwartungsmanagement: Realistische Einschätzung der KI-Möglichkeiten
Das Konzept von KI wird oft als „menschenähnlich“ beschrieben und deswegen falsch verstanden, was zu unerreichbaren Erwartungen an KI-Lösungen führt. Es ist wichtig, offen für Diskussionen zu sein, was KI tatsächlich für eine bestimmte chemische F&E-Umgebung bedeutet, um alle Beteiligten durch eine gemeinsame Lernkurve navigieren zu können.
2. Prozessdesign: Frühzeitiger Abgleich von Datenkapazitäten, Geschäftszielen und Nutzerbedürfnissen
In der Anfangsphase eines Projekts muss sichergestellt werden, dass das richtige Problem definiert und die richtigen Beteiligten in das Gespräch einbezogen werden. Ein tiefes Verständnis der geschäftlichen Herausforderungen zu erlangen und diese Erkenntnisse mit den Datenkapazitäten abzugleichen, ist einer der wichtigsten Schritte im gesamten Projektverlauf – der vergleichsweise große Zeitaufwand lohnt sich aber.
3. Praxistest: Früh mit Wireframes oder Prototypen beginnen
Die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses des User Experience Designs kann eine Herausforderung sein. Die Bereitstellung von Prototypen in einem sehr frühen Stadium ist der Schlüssel, um in dem komplexen und eher abstrakten Bereich der KI eine gemeinsame Sprache zu finden. Wenn mit groben Wireframes oder (Papier-)Prototypen begonnen wird, entsteht daraus schnell eine greifbarere Grundlage für Diskussionen.
4. Feedbackschleifen: Kontinuierliche Optimierung von KI und User Experience
Häufige Rückmeldungen und Tests sind ein wirksames Mittel, um nicht nur die Nutzererfahrung, sondern auch die KI-Leistung erheblich zu verbessern. Diese Arbeitsweise gibt den Experten das richtige Maß an Kontrolle über die KI-Lösung, und es ist wahrscheinlicher, dass sie dem System vertrauen und es annehmen.
5. Automatisierung vs. Experteninteraktion: Vertrauen in KI-Prozesse schaffen
Für die Nutzer sind KI-Prozesse und -ergebnisse meist schwer oder sogar gar nicht nachzuvollziehen. Einige Experten möchten dabei lieber selbst die Kontrolle über Aufgaben oder Prozesse behalten. Funktionalitäten, die helfen, die Ergebnisse zu verstehen, zu validieren und zu klassifizieren, motivieren dazu, die neue Arbeitsweise als eine wechselseitige, bereichernde Beziehung zu verstehen, in der sie die Fähigkeiten der KI nutzen, aber gleichzeitig ihr eigenes Wissen und ihre Erfahrung einbringen können.

Eine KI-Lösung kann ihr größtes Potenzial entfalten, wenn sie partizipativ ist und die Experten, die mit dem System arbeiten, eng einbezieht und anspricht. Denn der größte Mehrwert für die Zukunft liegt in der Kollaboration von Mensch und Maschine. Diese Beziehung sollte daher unbedingt nach sinnvollen, intuitiven und verantwortungsvollen Prinzipien gestaltet werden. Dann steht einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Experten und KI nichts mehr im Weg.

Sie möchten gerne weiterlesen?