Manufacturing Execution Systems sind derzeit in Mode, zumindest wenn man die Anzahl der Publikationen in der Fachpresse und der angebotenen Veranstaltungen hierzu als Maßstab nimmt. In allen relevanten Verbänden und Organisationen (z.B. in der Namur, im VDI, im ZVEI) gibt es aktive Arbeitsgruppen, die sich mit den verschiedenen Aspekten der Systemkonzeption, des MES-Einsatzes und der notwendigen Standardisierung beschäftigen. Eine Vielzahl von Anbietern, die teilweise sehr spezielle bzw. branchenspezifische MES-Lösungen im Portfolio haben, treffen auf eine breite – wenn auch oft etwas verunsicherte – Nachfrage der potenziellen Anwender. Marktanalysten gehen davon aus, dass es viele Gründe dafür gibt, dass dies noch einige Jahre so bleibt. Denn die Notwendigkeiten, die Produktionsvorgänge zu optimieren (Stichworte: „Ressourcen-Effizienz“, „Energie-Effizienz“), Produkte und Produktionslinien zu flexibilisieren (Stichworte: „Mehrzweckanlagen“, „modulare Prozesse“) sowie lückenlos die erzielte Produktqualität nachzuweisen (Stichworte: „Traceability“, „Chargenverfolgung“), werden die Diskussion um den Einsatz von MES in Produktionsanlagen weiter nähren.
Verfolgt man die Diskussionen zwischen Anwendern und Anbietern im Detail, so werden immer wieder drei wesentliche Fragen gestellt:
1) Was genau leistet ein MES: Was darf der Anwender als Nutzen erwarten und was kostet dies?
2) Wie ist die Abgrenzung zu vorhandenen Systemen in den verschiedenen Leitebenen (ERP und PLS) bzw. die Integration zwischen MES und diesen Systemen zu handhaben?
3) Woran orientiert man sich bei der Auswahl eines für die konkrete Aufgabenstellung passenden MES-Produktes oder einer individuellen MES-Lösung?
Richtlinie VDI 5600
Der VDI startete im Jahr 2003 eine Initiative, um einige Antworten auf diese Fragen zu liefern. Als Ziel für die Aktivität eines Fachausschusses wurde beschlossen, eine VDI-Richtlinie zum Thema „MES“ zu erarbeiten, um potenziellen Anwendern eine fachlich fundierte und herstellerneutrale Hilfestellung bei der Erarbeitung ihrer eigenen Konzepte, bei Diskussionen mit Systemanbietern und bei der Entscheidungsfindung zu geben. Um diese Richtlinie anwendbar zu machen, war wesentliche Voraussetzung, dass die Beschreibungen in einer Sprache erfolgen, die dem Anwender vertraut ist. Auf Details der informationstechnischen oder systemtechnischen Realisierung sollte hierbei bewusst verzichtet werden.
Der VDI-Fachausschuss „MES“ hat mit der Veröffentlichung der Richtlinie VDI 5600, Blatt 1, im Dezember 2007 sein erstes wichtiges Zwischenziel erreicht. Es ist eine vollständige und doch recht kompakte Beschreibung der typischen MES-Aufgaben im Produktionsumfeld entstanden, die eine Einordnung und Abgrenzung der MES-Konzepte zu benachbarten „Leitebenen“ im Unternehmen zulässt (z.B. „ERP/PPS“ oder „PLS“), den Zusammenhang zwischen diesen MES-Aufgaben und den Prozessen im Produktionsumfeld erläutert und den Nutzen des MES-Einsatzes in diesen Prozessen darstellt.
Angelehnt an die Vorarbeiten der MESA (Manufacturing Enterprise Solutions Association) und unter Berücksichtigung der aktuellen Weiterentwicklung der ANSI/ISA-95 zu IEC 62264 werden in der Richtlinie VDI 5600 acht MES-Aufgaben postuliert, die typischerweise in der MES-Ebene angesiedelt sind. Wichtig ist jedoch, dass hiermit nicht ein „monolithisches“ MES gemeint und gefordert wird – die tatsächlichen Systemgrenzen können sehr fließend sein und manche der acht MES-Aufgaben auch in den benachbarten Systemen funktionstechnisch realisiert sein. Ein produzierendes Unternehmen kann also durchaus MES „betreiben“, ohne je ein MES angeschafft zu haben.
MES zwischen ERP und PLSin der Automatisierungspyramide
Eine andere Fragestellung gibt der oben skizzierten Diskussion immer wieder Nahrung und Brisanz: Ist denn eine explizite MES-Ebene überhaupt nötig, oder lassen sich die Aufgaben auch in den bereits etablierten Ebenen ERP oder Anlagenautomatisierung schon lösen? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz einfach, denn hierbei kommt es auf die Komplexität, die Dynamik und die Dokumentationsanforderungen des zugrundeliegenden Produktionsprozesses an.
In der MES-Ebene sind somit die Aufgaben angesiedelt, die sich mit der Erledigung, der Analyse und der Dokumentation des einzelnen Produktionsauftrags beschäftigen und daher eine zeitliche Granularität im Bereich Sekunden bis Stunden besitzen. Rezepturverwaltung, Feinplanung des Produktionsprozesses, Chargenverfolgung, Material- bzw. Ressourcendisposition sind also typischerweise in der MES-Ebene anzusiedeln.
Allein durch diese kurze Darstellung des „Scopes“ von MES kann die Diskussion zwischen Anwendern und Anbietern und die Entwicklung von Konzepten wesentlich vereinfacht werden. Durch die klare Vorgabe der Zeiten, Fristigkeiten und Granularitäten, die bei der Verarbeitung der Prozessdaten im Einzelfall nötig sind, entsteht eine Entscheidungsgrundlage für oder gegen eine explizite MES-Ebene. So kann die Auswahl der passenden Systeme und der möglichen Implementierungspartner wesentlich beschleunigt werden. Die Richtlinie VDI 5600 beschreibt jede der postulierten acht Aufgaben im Detail und zeigt die grundsätzliche Struktur und Wirkweise und die wesentlichen Informationsflüsse, die bei der Aufgabenerledigung zu beachten sind. Zu jeder Aufgabe werden Ergebnisse und die zu erwartenden Nutzen angegeben.
MES in der Prozessindustrie
Schon in der Entstehungsphase der Richtlinie VDI 5600 wurde die Frage „wie wirken sich die Unterschiede zwischen diskreten und kontinuierlichen Produktionsprozessen auf die zugehörigen MES-Konzepte aus?“ sehr intensiv diskutiert. Klar ist, dass es de facto kein MES „out-of-the-box“ gibt und jede Implementierung letztlich ein Einzelprojekt ist. Doch sind zumindest die acht postulierten Aufgaben in beiden Bereichen gleich, oder muss schon auf diesem Abstraktionslevel eine Unterscheidung nach diskreten und kontinuierlichen Prozessen erfolgen?
Die Autoren der Richtlinie VDI 5600 haben letztlich den mutigen Versuch unternommen, beide Bereiche mit nur einer Richtlinie zu adressieren. Die verwendeten Begriffe sind zwar nicht immer deckungsgleich und unmittelbar übertragbar (z.B. „Rezept“ wird im Umfeld der diskreten Fertigung nicht sofort verstanden), doch die Aufgaben, die Wirkweise der Funktionen und die wesentlichen Nutzen bleiben in beiden Bereichen gleich.
In der Prozessindustrie gibt es freilich sehr spezifische Motive zur Einführung und zum Einsatz eines MES. Einige dieser Motive haben in den vergangenen Jahren für einen gewissen „Push“ gesorgt, und die Einführung forciert. Die Prozessindustrie hat sich schon sehr früh und teils durch externe Regularien und Vorgaben bedingt (z.B. GMP, FDA) mit dem Thema „Transparenz“ und „Traceability“ aller Produkionsschritte und Produkte beschäftigen müssen. Hierbei entsteht die Notwendigkeit zu einer sehr umfangreichen Datenhaltung für die einzelnen Produktionsschritte, die nur auf der MES-Ebene mit effektiven Mitteln gelöst werden kann. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in der chemischen- und pharmazeutischen Industrie MES-Teilaufgaben wie „Chargenrückverfolgung“, „Kontrolle der Einhaltung von Herstellervorschriften“ oder „Abweichungs- und Beanstandungsmanagement“ die häufig genannten Hauptfunktionen für ein MES sind. Demgegenüber waren die Herausforderungen in der Fertigungsautomation oft im Bereich der möglichst effizienten Auslastung des Maschinenparks, der Verkürzung der Durchlaufzeiten und der schnellen Reaktion auf ungeplante Maschinenstillstände und -ausfälle zu suchen, was zu einer entsprechenden Schwerpunktsetzung in den MES-Projekten führte.
Annäherung der Welten
In der letzten Zeit ist eine Annäherung beider „Welten“ zu beobachten, da einerseits auch Stückgutfertiger inzwischen gehalten sind – sowohl im Interesse des eigenen Qualitätsmanagements, als auch als Nachweis gegenüber Kunden – eine lückenlose Rückverfolgbarkeit zu garantieren, andererseits auch in der Prozessindustrie die Flexibilisierung der Produktion – durch Verkleinerung von Chargen, Modularisierung der Anlagen und Effizienzsteigerung beim Ressourcen-Einsatz – wichtig wird. Die branchenspezifischen Details bleiben sicherlich erhalten, doch die Wichtigkeit der typischen MES-Aufgaben nähern sich einander an.
MES-Konzepte etablieren sich zunehmend im Produktionsmanagement, und eine ganze Reihe von Lösungen bewährt sich seit Jahren in der Prozess- und in der Fertigungsautomation. Einzelne Funktionen eines MES werden in vielen Anwendungen schon seit langer Zeit eingesetzt (z.B. Betriebsdatenerfassung/BDE), aber erst durch die Integration dieser Einzelfunktionen zu einem größeren Ganzen und durch die Möglichkeiten, die sich dann aus der Analyse und Verknüpfung der Daten ergeben, können breite Nutzen generiert werden.
Zwar ist noch nicht jeder potenzielle Anwender mit „MES“ vertraut, doch die Etablierung des Begriffs schreitet voran. Die Anbieter von MES-Lösungen sind hoch spezialisiert und in Deutschland stark mittelständisch geprägt. Sowohl die internationale Standardisierung (z.B. IEC 62264) als auch die publizierten Richtlinien und Empfehlungen für Anwender (z.B. VDI 5600) sorgen für eine weitere Stabilisierung der Diskussion.
VDI Fachausschuss MES
Im VDI hat der Fachausschuss „Manufacturing Execution Systems“ weitere Aktivitäten initiiert und im Jahr 2008 zwei neue Arbeitsgruppen gestartet, die ergänzende Teile der Richtlinie erarbeiten. Diese sind die Definition logischer Schnittstellen zwischen der MES-Ebene und der Maschinenebene und die Beschreibung konkreter Nutzen sowie der Möglichkeiten ihrer Evaluation. Die Ergebnisse werden im ersten Halbjahr 2009 erwartet.