Betreiber in den Prozessindustrien wollen ihre Anlagen im optimalen Betriebspunkt fahren – soweit die Theorie. Doch wenn es darum geht, dies durch Projekte zur Prozessführung – zum Beispiel unter Nutzung fortschrittlicher Regelstrategien – sicherzustellen, drücken die Produzenten häufig auf die Bremse. Oft liegen die Gründe darin, dass die Automatisierer den Nutzen nicht oder nur unzureichend quantifizieren – führte Dr. Veit Hagenmeyer, Mitglied des Namur-Arbeitskreises 2.2 „Prozessführung“, in seinem Plenarvortrag zur Namur-Hauptsitzung 2008 aus. Aber auch der Mangel an qualifiziertem Personal sowie eine unzureichende Unterstützung im Management sind Hindernisse, die für Projekte zur Prozessführung aus dem Weg geräumt werden müssen.

Dabei ist der Nutzen unumstritten: Durchsatz- und Qualitätssteigerungen sowie höhere Ausbeuten gehören zu den häufigsten Zielen solcher Projekte. Und das Spektrum der Methoden ist weit gesteckt. Es reicht von einer Ertüchtigung der Basisautomatisierung – beispielsweise der Implementierung eines zusätzlichen Regelkreises, um Temperatur- und damit Qualitätsschwankungen bei einer Destillation zu verringern – über die Schulung der Mitarbeiter in Prozessführungsmethoden bis hin zum Einsatz von modellprädiktiven Reglern und Trainingssimulatoren. In Zahlen bedeutet dies beispielsweise 30 Prozent weniger Start-up-Zeit in einem Batchbetrieb oder drei Prozent mehr Produktionskapazität in einer Konti-Anlage, verdeutlichte Dr. Uwe Piechottka, Evonik Degussa, anhand von Praxisbeispielen.

Von der Basisautomatisierung zu fortschrittlichen Regelstrategien

Der Startpunkt – so die Automatisierungsexperten – sollte dabei immer die Überprüfung der Basisautomatisierung sein. Insbesondere bei Batch-Anlagen ist hier in der Praxis noch ein enormes Potenzial für Verbesserungen vorhanden. Durch die intensive Schulung des Betriebspersonals lassen sich dagegen sowohl in Batch- als auch in Konti-Anlagen deutliche Verbesserungen in Sachen Prozessführung erzielen. Weiteres Potenzial lässt sich durch den Einsatz fortschrittlicher Regelstrategien heben: So berichtete Hagenmeyer beispielsweise von einem Batch-Prozess, in dem statistische Daten aus dem Qualitätssystem und der Leittechnik für ein statistisches Prozessmodell genutzt werden. Der daraus resultierende Regler erzeugt Vorschläge für Stellgrößen, die der Anlagenfahrer dann für die Prozessführung nutzen kann. Dabei empfiehlt es sich durchaus, diese Stellgrößen nicht automatisch aufzuschalten, sondern dem Bediener die letzte Entscheidung zu überlassen. „Je mehr dieser dem Regler vertrauen lernt, desto häufiger wird er diesen nutzen“, erklärt Hagenmeyer. Das Ergebnis: deutlich weniger Chargen außerhalb der vorgegebenen Spezifikation.

Auch sogenannte Soft-Sensoren können den Betreibern helfen. Diese werden ähnlich wie Summenparameter in der Analytik genutzt, allerdings nicht direkt als Messdaten gewonnen, sondern über Simulationswerkzeuge errechnet. So wurden in einem Praxisbeispiel Labordaten aus dem ERP-System und Prozessdaten aus der Leittechnik in einem rigorosen Simulationsmodell zusammengeführt und konnten dadurch Produktqualität und -verluste im Sumpf einer Schwersieder-Destillation kontinuierlich geschätzt werden. Aber auch die Rezeptsteuerung – sowohl in Batch- als auch in Konti-Anlagen – bietet noch enorme Verbesserungspotenziale, die mit modernen Regelungsstrategien erschlossen werden können. Die Crux: Die dazu vorhandenen Tools sind in der Regel noch zu komplex: „Die Tools müssen reifer und leichter zu bedienen sein“, wünschen sich die Mitglieder des Namur-Arbeitskreises.

Leichter bedienbare Werkzeugegefordert

Eine Forderung an die Hersteller entsprechender Systeme, die der diesjährige Sponsor Honeywell aufgriff: „Das Leitsystem wird zunehmend Mittel zum Zweck einer wirtschaftlichen Ausrichtung der Automatisierung“, verdeutlichte Jason Urso, Vice President und Chief Technology Officer von Honeywell Process Solutions, den Ansatz. Urso: „Weniger qualifiziertes Personal muss schneller reagieren, dabei komplexere Prozesse beherrschen und bessere Entscheidungen treffen.“ Um dies zu ermöglichen, sind neue Werkzeuge und vor allem ein neuer Ansatz der bislang vom Ebenen-Modell geprägten Automatisierungssysteme notwendig. Urso: „Die Ebenen Leitsystem, Produktionsplanung und MES müssen zusammenwachsen.“ Es gehe darum, so Urso, Informationen über das ganze Unternehmen hinweg zu verknüpfen und mit bewährten IT-Technologien zu managen.

Automatisierung führt zu Rollenwechsel für den Anlagenbediener

Doch die zunehmende Automatisierung und die steigende Vernetzung der Systeme führt zu einem immer komplexeren Arbeitsumfeld – nicht nur für die Automatisierer selbst, sondern auch für das Betriebspersonal. Allerdings wird die Automatisierung immer stärker zum treibenden Faktor. „Der Anlagenfahrer wird vom Bediener zum Überwacher“, beschrieb Dr. Karsten-Ulrich Klatt, Bayer Technology Services, die Entwicklung. Seine Einschätzung: „Fehler werden seltener, aber schwerwiegender.“ Die Ursache dafür liegt im fehlenden Training an bisher manuell betriebenen Anlagen. Erste Erfahrungen zeigen, dass der Einsatz von Trainingssimulatoren nicht nur in der Inbetriebnahmephase sondern vor allem auch im späteren Anlagenbetrieb dabei hilft, diesen Rollenwechsel zu bewältigen.

Doch nicht nur für Trainingssimulatoren sondern überhaupt für fortschrittliche Regelstrategien wie MPC gilt, dass umfassende Informationen über den Prozess vorhanden sind. Den Sensoren im Feld kommt dabei eine steigende Bedeutung zu. Jason Urso beschrieb deshalb in seinem Plenarvortrag den Trend zu neuen Sensoren, wie zum Beispiel der Einsatz von Mikro-Elektromechanischen Systemen (MEM), neuartigen Detektoren, um Brände und Gasausbrüche zu lokalisieren, oder der Nutzung von Videosignale als Eingangsgrößen für die Prozessführung. „Drahtlose Kommunikationstechniken sind dabei ein ‚Enabler‘, weil sie diese zusätzlichen Informationen kostengünstig an die richtige Stelle transportieren“, bewertete Urso die Bedeutung der Wireless-Kommunikation.

Wireless: Thema wird neu bewertet

Überhaupt stieß die Funkkommunikation im Rahmen der Hauptsitzung auf großes Interesse. Stefan Ochs, Bayer Technology Services, stellte für den Arbeitskreis 4.15 den Entwurf einer Namur-Empfehlung (NE 124) vor, in der die Anwender die Rahmenbedingungen für den Einsatz von Wireless-Technologien in der Prozessautomatisierung definieren (siehe separater Beitrag in dieser Ausgabe). Die Anwender gehen davon aus, dass der Einsatz drahtloser Techniken für neue Einsatzgebiete, die Flexibilität und Mobilität fordern, zunehmen wird. Dr. Norbert Kuschnerus, Vorstandsvorsitzender der Namur gestand dabei ein, dass die Namur den deutschen Dreisatz „Was ist das denn? Was soll das? Das brauchen wir nicht.“ der vergangenen Jahre inzwischen hinter sich gelassen hat: „Ja, wir können diese Technik anwenden, aber noch nicht in der ganzen Breite“, lautete sein offizielles Statement für die Namur zum Thema Wireless.

Mit der neuen Namur-Empfehlung geben die Anwender den Herstellern einige Anforderungen mit auf den Weg. Und insbesondere die Situation der Normung sorgte dabei für Diskussionsstoff: „Wir wollen keinen Wettbewerb zwischen Standards wie SP 100 und Wireless Hart, sondern größtes gemeinsames Vielfaches!“, stellte Stefan Ochs klar. Franz Charles, als Consultant für Honeywell tätig, warf daraufhin die Frage auf, welches Gewicht die Namur einbringen kann, um die Normung in ISA SP100 mit zu bestimmen. Martin Schwibach erklärte daraufhin die Namur-Sicht: „Die Namur wird den Austausch mit der ISA suchen, aber wir adressieren die NE 124 vor allem an Sie als Hersteller, damit Sie in unserem gemeinsamen Interesse mit den verschiedenen Partnern im Standardisierungsprozess zusammenarbeiten.“

Kommunikation: unterschiedliche Blickwinkel und eine Vision

Dabei wurde deutlich, dass der Blickwinkel, unter dem Anwender aus der Prozessindustrie Kommunikationstechnologien wie „Wireless“ betrachten, deutlich von der Herstellersicht abweichen kann: „Kommunikationstechnik ist Enablertechnologie – nicht Kerntechnologie“, brachte Schwibach dies in seinem Plenarvortrag am zweiten Sitzungstag auf den Punkt. Der Fokus liegt für die Anwender dabei auf Aspekten wie Investitionsschutz (Migrationskonzepte, Interoperabilität, Lifecycle Management), Verfügbarkeit, Rahmenbedingungen für den zuverlässigen Einsatz und die Frage, welche Kenngrößen die Qualität und Verfügbarkeit der Kommunikation beschreiben. Fragestellungen, für die angesichts rasanter Technologiezyklen oft noch Antworten fehlen. Schwibach formulierte eine Vision:

  • Einheitliche Kommunikationsplattformen schaffen einen transparenten Zugriff auf Informationen.
  • Portale ermöglichen einen direkten Zugang zu allen Informationen, z.B. durch themenbezogene Vernetzung, den mobilen Zugriff auf Informationen und rollenbasierte Benutzerführung.
  • Security inklusive – Jedes Automatisierungssystem schützt sich selbst mit den geeigneten Methoden.

Feldbus ist immer noch kein Katalog-Produkt

Wie steinig der Weg dahin ist, wurde durch einen Rückblick auf den „Feldbuskrieg“ deutlich, der nach fast zehn Jahren erst 1999 beendet wurde. Die Konsequenz: Auch im Jahr 2008 ist ein Erfahrungsbericht zur Installation von Foundation Fieldbus noch ein Thema mit Neuigkeitswert. Heinrich Schmedding, Bayer Material Science, berichtete von einer FF-Installation mit über 10000 Feldgeräten am Bus und kam zum Fazit: FF funktioniert tatsächlich – wenn man es richtig macht. Und: „FF-Installationen erfordern extremes Know-how und Engagement vom Anwender – dies ist (noch) kein Katalog-Produkt.“ Dabei diskutieren einige Hersteller und auch Anwender bereits den nächsten Schritt: „Wird Industrial Ethernet den Feldbus ablösen?“ fragte zum Beispiel Martin Schwibach. „Kommunikation für die Automatisierung“ wird unter anderem auch deshalb im kommenden Jahr das Thema der Namur Hauptsitzung sein, die vom 5. bis 6. November erstmals in Bad Neuenahr stattfinden wird.

Entscheider-Facts
Namur Hauptsitzung

Auf der Namur-Hauptsitzung, die am 6.und 7. November 2008 stattfand, diskutierten 450 Automatisierungsexperten die neue Rolle der Automatisierer und der Prozessbetreiber. Kommunikation, Feldbus- und Wireless-Technik sorgten für Diskussionsstoff. In zahlreichen Beispielen wurde dargestellt, wie groß der Nutzen durch die Vernetzung von Informationen, den Einsatz fortschrittlicher Regelungsstrategien und neuer Sensoren sowie Kommunikationstechniken sein kann. Jason Urso, CTO des diesjährigen Sponsors Honeywell Process Solutions, stellte fest: „Die Ebenen Leitsystem, Produktionsplanung und MES müssen zusammenwachsen.“ Denn: Mit zunehmendem Automatisierungsgrad verändert sich das Aufgabenspektrum des Betriebspersonals. Eine Herausforderung, für die die Hersteller von Automatisierungssystemen besser zu bedienende Werkzeuge bereitstellen sollen. Kommunikationstechniken wie Feldbus oder Wireless werden dabei von den Anwendern als „Enabler“, aber nicht als Kerntechnologien gesehen.

„Weniger qualifiziertes Personal muss schneller reagieren, dabei komplexere Prozesse beherrschen und bessere Entscheidungen treffen“
Jason Urso, Chief Technology Officer von Honeywell Process Solutions

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