Dezember 2012

„Die Namur leistet einen Beitrag zur Wertschöpfung der Unternehmen, indem sie Kompetenzen der Anwender der Automatisierungstechnik in der Prozessindustrie zusammenführt“, erläuterte Dr. Wilhelm Otten, Vorstandsvorsitzender der Namur zu Beginn der Hauptsitzung, zu der rund 550 Automatisierer aus Prozessindustrie und zuliefernden Unternehmen gekommen waren. In der Automatisierungscommunity ist diese Feststellung unumstritten: Inzwischen teilen 135 Mitgliedsunternehmen die Mission der Anwendervereinigung. Allerdings sind es vor allem die großen Chemieunternehmen wie BASF, Bayer und Evonik, die die Arbeitskreise prägen. Deren Arbeit, die von der Feldgerätetechnik über Leitsysteme bis hin zu Themen wie dem Plant Asset Management reicht, vernetzt sich immer mehr, so Otten. Durch Kooperationen mit internationalen Verbänden wie der amerikanischen ISA sowie europäischen Organisationen wie WIB, Exera und EI, mit denen jüngst gemeinsame Arbeitsgruppen definiert wurden, soll das Netzwerk weiter verstärkt werden. Aktuell seien Arbeitsgruppen für die Themen Funktionale Sicherheit, Wireless Automation, IT-Security, Auswahl von Durchflussmessern sowie Alarm-Management im Gespräch.

Inhaltlich war die diesjährige Namur-Hauptsitzung von Themen der Aktorik geprägt. Dass auch bei Armaturen und deren Antriebe die Digitalisierung des Feldes stetig voranschreitet, verdeutlichte Dr. Jörg Kiesbauer, Vorstandsmitglied des Armaturenherstellers Samson, eindrücklich: „Durch den digitalen Stellungsregler ist das Stellgerät zum digitalen Feldgerät geworden“, so Kiesbauer.  Und häufig entfällt der Löwenanteil der Investitionen für einen Regelkreis auf das Stellgerät. Als digitales Feldgerät beherrschen in jüngster Zeit die Aspekte  Engineering, Diagnose, Integration in das Leitsystem und Plant Asset Management die Entwicklungen. Rückmeldungen aus den Stellungsreglern erlauben es, heute bereits 80 Prozent der in der Namur-Empfehlung NE 107 beschriebenen Fehler zu erkennen. Während die Diagnoseinformationen bislang über die Gerätebeschreibungssprache EDDL geschieht, soll die Nutzung des FDI-Konzepts in Zukunft komplexere Auswertungen in dem dann nutzbaren User Interface Programm (UIP) ermöglichen.

Gerätekommunikation muss die Informationsflut kanalisieren

Wie wichtig die Gerätekommunikation in Zukunft sein wird, verdeutlichte Sven Seintsch, Bilfinger Berger Industrial Services: „Gerätekommunikation von morgen muss eine stabile Plattform für moderne Instandhaltungsstrategien bilden.“ Seiner Meinung nach erfordert die Informationsflut aus den Geräten die Einführung eines Informationsmanagements. Und so zielt FDI auf eine unabhängige Geräteintegration für alle Feldgeräte aller Hersteller. Um den Gegensatz zwischen Investitionssicherheit und zusätzlichen Funktionen durch spezifische Neuentwicklungen aufzulösen, werden bei FDI Basisfunktionen per EDDL abgebildet und erweitert sowie herstellerspezifische Funktionen via UIP realisiert. Denn integriert in ein Plant-Asset-Management-System kann aus der bislang noch wenig genutzten Gerätediagnose ein mächtiges Instrument werden, mit dem sich der Wert einer Anlage steigern lässt. „Allerdings sind Leitsysteme bislang abgeschottet wie mittelalterliche Burgen“, verdeutlichte Seintsch mit Blick auf die Integration entsprechender zusätzlicher Engineering-Werkzeuge. Er forderte die Leitsystem-Hersteller auf, einen standardisierten Zugriff auf die Geräteinformationen zu ermöglichen: Dazu muss das Leitsystem einen FDI-Server mit OPC UA unterstützen. Sorge bereitet den Namur-Protagonisten der Geräteintegration, dass die FDI-Cooperation lediglich bis 2014 angelegt ist. Falls diese dann endet, befürchten die Anwender, „dass danach wieder jeder sein eigenes Ding baut.“

Auch der Armaturenhersteller Samson sieht mit FDI die Möglichkeit, durch gerätespezifische Funktionen ein künftiges Plant Asset Management weiter vorantreiben zu können. Dr. Jörg Kiesbauer zeigte allerdings auch auf, dass für die mechanische Komponente „Stellgerät“ neben der digitalen Kommunikation auch noch handfeste Hardware-Aspekte zu beachten sind. Untersuchungen haben beispielsweise gezeigt, dass sich durch den im Zuge der Funktionsprüfung angewendete Teilhub (Partial Stroke Test) die Gängigkeit einer Armatur erhalten lässt. Die Erkenntnis: Je größer der Abstand zwischen einzelnen Partial Stroke Tests, desto größer wird das Losbrechmoment. Kiesbauers Empfehlung: „Setzen Sie den Partial Stroke Test unabhängig von SIL-Diskussionen  häufiger ein!“

Weitere Funktionen in Stellgeräten mit Wertpotenzial für Betreiber

Weiteres Potenzial bietet die Stelldruckmessung – diese kann beispielsweise für das Energie-Monitoring eingesetzt werden. Außerdem lassen sich Informationen von Sensoren und aus dem Stellgerät kombinieren, um beispielsweise den Durchfluss am Stellgerät abzuschätzen. Durch den Einsatz weiterer Fühler wie einem Körperschall-Sensor kann die Armatur auf innere Leckagen hin überwacht werden.

Großes Energie-Einsparpotenzial sieht Kiesbauer außerdem in der Abstimmung zwischen geregelten Pumpen und Stellgeräten. Denn häufig arbeiten in Regelkreisen  Pumpen und Stellgeräte gegeneinander. Der Hersteller zeigte eine neu entwickelte Unit, bestehend aus drehzahlgeregelter Kreiselpumpe und Stellventil ergänzt durch einen Industrieregler, der mittels neuer Regelalgorithmen beide Komponenten optimal aufeinander abstimmt.

Und auch zum Thema Wireless hat sich der Armaturenspezialist etwas einfallen lassen: der drahtlos versorgte digitale Stellungsregler, der seinen Strom aus einem am Ventil angebauten pneumatisch betriebenen Generator bezieht.

Derweil zeigten sich die Anwender weiterhin unzufrieden über den mangelnden Einigungswillen der Hersteller beim Thema drahtlose Kommunikation. Auch der engagierte Einsatz von Martin Schwibach, BASF, zum Thema Wireless-Konvergenz, für den Schwibach mit der goldenen Namur-Ehrennadel ausgezeichnet wurde, konnte daran nichts ändern. „Dadurch bleibt Wireless für die Namur eine Nischentechnik“, erklärte Wilhelm Otten.

Automatisierer müssen „Cyber Physical Systems“ aktiv begleiten

Mehr oder weniger existenziell wurde die Diskussion im Workshop „Cyber Physical Systems – Herausforderung für die Automatisierungstechnik?“, der von Prof. Dr. Ulrich Epple, RWTH Aachen, geleitet wurde. Sind Cyber Physical Systems (CPS) nur „alter Wein in neuen Schläuchen“? Gemeint ist damit die Vernetzung von eingebetteten Systemen untereinander und mit dem Internet. CPS sind wichtiger Bestandteil des Zukunftsprojekts Industrie 4.0, das Bestandteil der Hightech-Strategie der Bundesregierung ist (www.hightech-strategie.de) und für das Forschungsgelder in Höhe von bis zu 200 Mio. vorgesehen sind. Es geht dabei um die weitgehende Integration von  Kunden und Geschäftspartnern in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse und die Verkopplung von Produktion und hochwertigen Dienstleitungen, die in sogenannten hybriden Produkten mündet. Obwohl wichtiger Enabler, ist die Automatisierungstechnik bislang in den entsprechenden Gremien kaum vertreten. „Es ist wichtig, dass wir Prozessautomatisierer dieses Thema positiv begleiten“, warnte Prof. Epple die Workshop-Teilnehmer davor, das Projekt zu unterschätzen. Und ungeachtet dessen, dass der Workshop gut besucht war, konnten die meisten Teilnehmer der Hauptsitzung offensichtlich nichts mit dem Begriff CPS anfangen. „Die Automatisierung konserviert ihre Erfahrungen intrinsisch“, brachte Epple die Situation auf den Punkt. „Wir müssen nach außen treten und Cyber Physical Systems aktiv begleiten.“

Dr. Kurt Bettenhausen, Vorsitzender der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA), verwies auf die früheren Arbeiten im AK 2.8 zum Thema Internettechnologien in den Jahren 1998 und 1999. Schon damals entwarf die Namur die Vision, dass irgendwann einmal alle Komponenten einer Anlage miteinander vernetzt sein würden. Für Bettenhausen beinhalten CPS den Anspruch, alle Anlagenkomponenten über den gesamten Lebenszyklus miteinander zu vernetzen – „und zwar noch sehr viel stärker, als wir das bislang eingeführt haben“, so Bettenhausen: „Wir wissen, dass wir damit starten müssen, daran zu arbeiten, um die neuen Fabrikationsprozesse mitzugestalten.“ Seine Vision: „Wir werden in Zukunft nur noch beschreiben, was zu passieren hat und einen Weg, wie sich das selbst zu organisieren hat.“

Steiniger Weg zu integrierten Engineeringlösungen

Damit verbunden ist auch, dass Engineeringvorgänge stärker automatisiert werden, die sogenannte „Automatisierung der Automatisierung“. Eine Forderung, die Namur-Vorstand Dr. Thomas Tauchnitz (Sanofi-Aventis) in seinem Plenarvortrag am zweiten Tag bekräftigte. „Bislang herrscht ein «Engineering Polynesien»: Daten werden von Insel zu Insel geschickt“, karikierte Tauchnitz die Situation. Die Folge: fehleranfällige und zeitraubende Datentransfers. Doch Engineering-Tools zu integrieren, ist mindestens zehnmal so viel Arbeit wie die Einführung des Feldbus, schätzt Tauchnitz und skizzierte vier mögliche Ideen, wie die Integration der Engineeringdaten gelingen könnte:

 

  • 1. Werkzeugsuite mit zentraler Datenbank, wie sie bei Sanofi-Aventis durch das CAE-System Comos PT realisiert wird.“Damit kann man die Zahl der Datentöpfe verringern, aber alle Aspekte deckt dies nicht ab“, bewertet Tauchnitz.
  • 2. Einführung einer bidirektionalen Schnittstelle: Funktionsplanung mit Comos PT, Compiler in PCS7.
  • 3. Entwicklung einer Schnittstelle (Namur-Container), welche die Kommunikation zwischen allen CAE-Systemen und allen Prozessleitsystemen organisiert. „Das ist kein Sonntagsspaziergang“, so Tauchnitz.
  • 4. Weiterentwicklung des von Prof. Stefan Biffl (TU Wien) skizzierten „Automation Service Bus“ zu einem „Engineering Service Bus“.

 

„Wir müssen hier endlich voran kommen, denn wir können unsere teuren Engineeringressourcen nicht mit dem Übertragen von Daten verheizen“, verdeutlicht Tauchnitz.

Fazit: Die Vernetzung der Anlagenkomponenten über den gesamten Lebenszyklus – von der Planung über die Inbetriebnahme, den Betrieb bis hin zur Verschrottung stellt derzeit die größte Herausforderung für die Prozessautomatisierer dar. Allerdings liegt darin ein enormes Wertpotenzial für Planer und Anlagenbetreiber, wenn Daten durchgängig und fehlerfrei übertragen werden und Anlagenassets wie z.B. Feldgeräte ihre Diagnosedaten für den Betreiber nutzbar zur Verfügung stellen. Der Weg hin zu integrierten Komponenten, wie sie auch in der Hightech-Initiative der Bundesregierung mit Cyber Physical Systems beschrieben wird, ist allerdings nicht nur steinig, sondern auch weit. 

 

Wechsel in der Geschäftsführung

In der Geschäftsführung der Namur ist Veränderung geplant: Dr. Wolfgang Morr, der die Geschäftsstelle bei Bayer Technology Services fünf Jahre lang geleitet hat, wird zum 1. Januar 2013 neue Aufgaben bei BTS übernehmen. Sein Nachfolger bei der Namur wird Heinrich Engelhard, ein Maschinenbauingenieur, der von 2001 bis 2011 das Kompetenzzentrum Normung bei BTS leitete.

 

 

 

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