- Die Vision Open Process Automation ersetzt proprietäre Automatisierungstechnik durch offene Hard- und Software.
- Das Open Process Automation Forum treibt die Spezifikation voran – die Versionen 1.0 und 2.0 sind bereits veröffentlicht.
- In zwei Pilotanlagen bei Exxonmobil wird die neue Automatisierungsstruktur bereits getestet.
Es geht um Geld – enorm viel Geld. Bereits vor drei Jahren schätzten Marktforscher der ARC Advisory Group den Markt für Prozessleittechnik auf 14 bis 15 Mrd. US-Dollar pro Jahr – Tendenz steigend [1]. Die Hälfte davon beinhaltet Hard- und Software sowie Dienstleistungen der Hersteller, die andere Hälfte wird den Dienstleistungen durch Systemintegratoren zugerechnet. Die schiere Zahl zeigt nicht, dass sich darin nicht nur die Ausrüstung neuer Anlagen verbirgt, sondern vor allem auch ein enorm großer Markt für Modernisierungen. Und weil diese den Betreibern häufig wenig Mehrwert verspricht, sondern aufgrund von Abkündigungen jahrzehntealter Systeme oft schlichtweg zwingend ist, haben Anlagenbetreiber in der Prozessindustrie längst Leidensdruck.
Auch die Lock-in-Strategien der Systemanbieter, die mit proprietärer Technik und entsprechenden Schnittstellen den Einsatz von Technik anderer Hersteller behindern, ist den Anwendern längst ein Dorn im Auge. Der Wunsch nach einer schrittweisen Digitalisierung unter Anwendung der besten verfügbaren Technik wird immer stärker.
Interoperable Systeme statt proprietärer Leittechnik
Seit acht Jahren artikulieren diesen insbesondere die Automatisierungsingenieure des Energiekonzerns Exxonmobil: Diese formulierten vor dem Hintergrund teurer Migrationsprojekte die Vision „Open Process Automation“, bei der die eingesetzte Automatisierungstechnik komplett offen ist: Hard- und Software beliebiger Hersteller sollen künftig in einer Anlage genutzt werden und problemlos zusammenarbeiten (plug-and-play-fähige, interoperable Multi-Vendor-Automatisierungssysteme) und bestimmte Merkmale aufweisen. Und die Idee hat inzwischen zahlreiche prominente Anhänger gefunden und wird innerhalb der amerikanischen Open Group vom Open Process Automation Forum (OPAF) weiterentwickelt.
Die Idee ist radikal, und sie strotzt vor Abkürzungen und Akronymen: Die in den hierarchischen Strukturen der Automatisierungspyramide oder des OSI-Modells getrennten Ebenen werden eingeebnet. Kernpunkte sind dabei sogenannte „Distributed Control Nodes (DCN), mit denen Automatisierungsgeräte physisch an das Connectivity Framework OCF des Open Process Automation System angeschlossen werden. Auch die in einer „Advanced Computing Platform, ACP“, ablaufenden Anwendungen werden über virtuelle DCN an das Framework angeschlossen. Vom Feldgerät bis zum ERP-System hängen auf diese Weise alle Komponenten der OT sozusagen an einem Strang [2]. Dass dies weitreichende Konsequenzen für alle an Automatisierungsprojekten Beteiligte hat, dürfte deshalb nicht verwundern: Anbieter bislang proprietärer Systeme verlieren ihre Monopolstellung, auf die Systeme einzelner Hersteller spezialisierte Integratoren müssen neu lernen. Diese müssen sich für einen „Gerätezoo“ unterschiedlichster Anbieter öffnen – und sollen durch Interoperabilität und Portierbarkeit der mühsam entwickelten Applikationen belohnt werden. Für bislang nicht in der Prozessindustrie etablierte Hersteller eröffnen sich neue Möglichkeiten. Die Anlagenbetreiber erhoffen sich dagegen mehr Auswahl, niedrigere Preise und die Möglichkeit, die Digitalisierung schrittweise voranzutreiben.
Meilenstein um Meilenstein erreicht
Im Mittelpunkt der Arbeiten in den vergangenen beiden Jahren stand die Entwicklung des Open Process Automation Standard, O-PAS. Dieser versteht sich als Standard der Standards – d. h. O-PAS nutzt existierende Technologiestandards wie OPC UA zur Kommunikation, IEC 62443 im Hinblick auf Security-Aspekte oder referenziert auf Technologien wie Wireless-Hart, Foundation Fieldbus etc.
2019 wurde O-PAS Version 1.0 veröffentlicht [3]. Dieser erste Schritt fokussiert folgerichtig auf die Interoperabilität, indem existierende Industriestandards genutzt werden. Die in fünf Schwerpunkte unterteilte Veröffentlichung enthält eine Übersicht über die technologische Architektur, Securityaspekte, Profile und die Open Connectivity Framework-Schnittstellen OCF. Auf dem ARC-Forum in Orland im Februar 2020 folgte eine vorläufige O-PAS-Version 2.0, in der die portierbare Konfiguration von Leitsystemen ergänzt wurde. Diese Spezifikation basiert auf der Automation Markup Language (ML) bzw. IEC 62714. Noch in diesem Jahr soll die Version 2.1 veröffentlicht werden, die zusätzlich den Quellcode der Automation ML-Files enthält. Die O-PAS-Spezifikation regelt zudem, wo die Konfigurationsdateien abgelegt werden sollen. Das Ziel: Anwender sollen die komplette Konfiguration eines Systems in einer einzigen Automation ML-Datei ablegen können.
Diese Vorgehensweise hat enormes Potenzial: Einerseits können dadurch auch Automatisierungsanbieter, die bislang nicht im abgeschotteten Markt für Prozessautomation tätig waren, neue Produkte und Lösungen dafür entwickeln. Und aus Sicht der Systemintegratoren und Anwender lässt sich andererseits der Engineeringaufwand enorm reduzieren, weil einmal entwickelte Automatisierungsanwendungen und Konfigurationen einfach portiert werden können – und zwar unabhängig vom Hersteller der Automatisierungskomponenten. Festgeschrieben soll das in der O-PAS-Version 3.0 werden, die für 2021 angekündigt ist. Diese soll die Spezifikation dann auch um den Aspekt der Zertifizierung ergänzen und für Automatisierungsanbieter definieren, was zertifiziert und wie eine Zertifizierung von Produkten erreicht werden kann.
Tests in Pilotanlagen gestartet
Wie weit die Technik bereits gediehen ist, konnten im November 2019 die Teilnehmer der Namur-Hauptsitzung besichtigen: In einem Demonstrationsmodell wurden wesentliche Komponenten des O-PAS gezeigt – unter anderem das Zusammenspiel von Automatisierungskomponenten verschiedener Hersteller (Interoperabilität) [5].
Zudem wurde von Exxonmobil in Clifton, New Jersey, eine prototypische Pilotanlage aufgebaut, in der die Möglichkeiten der neuen Automatisierungsarchitektur untersucht werden sollen. Die Anlage beinhaltet vier Reaktorstränge mit Pumpen, Reaktoren, Trennstufen und Analysatoren, die von 25 typischen Regelkreisen geführt werden – insgesamt 500 Automatisierungspunkte. Seit Januar 2020 werden dort übliche Unit Operations mit einer Automatisierungstechnik nach dem Open-Process-Automation-Standard ausgeführt. Darunter An- und Abfahrvorgänge sowie Änderungen an Regelparametern. In der Installation kommt Hard und Software verschiedener Anbieter zum Einsatz – u. a. von Yokogawa und Phoenix Contact (DCN). Interessant dabei: Die Advanced Computing Platform kommt von Dell und auch Intel hat für die Anlage einen DCN geliefert. Auffällig ist allerdings, dass in der Lieferantenliste die meisten Anbieter klassischer Leitsysteme und Prozessautomatisierung fehlen.
Zusätzlich zur Anlage in New Jersey baut Exxonmobil in The Woodlands, Texas, eine Pilotanlage auf, in der künftig Feldtests für O-PAS durchgeführt werden sollen. Der Prüfstand wird aus einer virtuellen Trennkolonne mit fest verdrahteten I/Os bestehen, die Signale sollen simuliert werden. Betreiben will Exxonmobil den Prüfstand allerdings nicht selbst, sondern Yokogawa soll die Anlage als Systemintegrator betreuen [6].
Von der Installation verspricht sich der Energiekonzern Erkenntnisse, die auch Projektpartnern zur Verfügung gestellt werden sollen – darunter Aramco Services, BASF, Conoco Phillips oder Linde [7].
Doch obwohl die Liste der teilnehmenden Unternehmen bereits jetzt beeindruckend ist, gehen die Protagonisten davon aus, dass O-PAS bislang dennoch eine kritische Masse an Betreibern sowie Lieferanten von Soft- und Hardware fehlt, damit sich die neue Architektur in der Prozessindustrie durchsetzen kann.
Dennoch: Die Gelegenheit für einen radikalen Schnitt in der Prozessautomation scheint günstig. Denn vielerorts gehen Mitarbeiter, die bislang das Know-how in Sachen langlebiger Prozessleitsysteme getragen hatten, in Rente. Und die aufgrund der Corona-Pandemie zu erwartende Rezession könnte diese Entwicklung sogar noch beschleunigen.
[1] Forbes H., Clayton D. „Distributed Control Systems Global Market: 2016 – 2021“. ARC Advisory Group. 2017
[2] Scheuermann A., „Open Process Automation versus Namur Open Architecture“. CHEMIE TECHNIK 10/2017
[3] Montague J. „OPAF draws nearer to interoperable process control“. www.controlglobal.com, 2020
[4] Angevaare, T. „A critical view on two new Industrial Automation initiatives“.tedangevaare.nl, 2019
[5] Scheuermann, A. „Namur diskutiert Nutzen der Digitalisierung“. CHEMIE TECHNIK 12/2019
[6] N.N. „Yokogawa to Establish Open Process Automation Test Bed for ExxonMobil“. www.yokogawa.com 2019
[7] N.N. „ExxonMobil Signs Collaboration Agreement to Accelerate Development of Open Process Automation Systems“. www.businesswire.com, 2019
Steuerungsplattform PLCnext Technology – offen auch für Software anderer Anbieter – ANZEIGE –
Ständig steigende Anforderungen nach hoher Sicherheit, Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit sowie größerer Effizienz fordern ein Mehr an Technologien, die sich derzeit lediglich schwer in die klassische Automatisierungspyramide integrieren lassen. Die Digitalisierung der Prozessautomation öffnet daher die Türen für neue Technologien und Lösungsansätze. Vor diesem Hintergrund steht das Ecosystem „Enhanced Connectivity“ von Phoenix Contact nicht nur für den physikalischen Anschluss, sondern für eine Verbindung, die sowohl die Logik als auch die übergreifende, offene, sichere und digitale Kommunikation beinhaltet. So wird die Voraussetzung geschaffen, dass neue Ansätze wie die NAMUR Open Architecture (NOA) oder Open Process Automation (OPA) Realität werden können.
Die PLCnext Technology erfüllt in hohem Maße die Art von Produkt und Geschäftsmodell, die die OPAF für die Zukunft der industriellen Automatisierung vorsieht. Die eigene Software von Phoenix Contact konkurriert direkt mit anderen kommerziellen Produkten und mit „selbst entwickelten“ Anwendungen, die von Systemintegratoren oder Endbenutzern geschrieben wurden, auf dem Hardwaregerät von Phoenix Contact. Dies stellt eine vollständige Entflechtung von Hard- und Software dar. Während ein solcher Ansatz in der IT-Welt üblich ist, erweist sich das Konzept auf dem SPS-Markt als beispiellos. Die Fähigkeit zur Entflechtung von Hard- und Software ist genau das, was ExxonMobil dazu bewogen hat, die PLCnext-Steuerungen, die sich unter anderem durch geringen Platzbedarf auszeichnen, in seinem offenen Automatisierungstestlabor einzusetzen. Die PLCnext Technology bietet eine Plattform, auf der Systemintegratoren neben weiteren Anwendungen auch OPAF-kompatible Software frei installieren können. Gleichzeitig umfasst PLCnext leistungsstarke Schnittstellen zur Verarbeitung der von den Feldgeräten gelieferten Prozessinformationen. Dies ist die Art von Gerät, das sich ExxonMobil als zukünftiges Distributed Control Node (DCN) wünscht.
Open Process Automation zielt darauf ab, die Komplexität bei der Implementierung, dem Upgrade sowie der Migration von Leitsystemen zu reduzieren, indem es einem offenen, standardbasierten Ansatz folgt. Das Ecosystem PLCnext Technology unterstützt dieses offene Konzept, da es die Rolle des DCN (Distributed Control Node) mit sicheren und redundanten Verbindungen zum neuen Echtzeit-Servicebus erfüllt sowie den Anschluss der bestehenden und neuen Feldgeräte (E/As) erlaubt. Darüber hinaus setzt die PLCnext Technology auch die Hauptanforderung von OPA um, weil externe Software gehostet und auf derselben Hardware ausgeführt werden kann.