two engineer on site

In der Vision „Chemie 4.0“ des Chemieverbands VCI werden neben Rohstoffen oder Energien erstmals auch Daten als wesentliches Produktionsmittel genannt. (Bild: sittinan – AdobeStock)

  • Die Digitalisierung wird die Prozessindustrie und die Prozessautomation nachhaltig verändern.
  • Prozessautomatisierern fällt die Aufgabe zu, die technischen Grundlagen für die Digitalisierung zu schaffen.
  • Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich nicht nur die Automatisierungsstruktur in der Prozessindustrie verändern wird, sondern auch die Rollenverteilung zwischen den Anbietern und Anwendern.

Unter dem „top down“ vorgegebenen Leitbild „Industrie 4.0“ und dem Wunsch nach einer digitalen Transformation des Geschäfts, sind Prozessautomatisierer heute aufgerufen, die technischen Grundlagen für die Digitalisierung zu schaffen.

Für die deutsche Chemie ist Industrie 4.0 deutlich mehr als vorausschauende Wartung: In einer aktuellen Studie der Marktforschungsgesellschaft Deloitte für den Chemieverband VCI wird deutlich, was die Chemie in Zukunft prägen wird: zirkuläre Wirtschaft, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Dabei geht es längst nicht nur um klassisches Rohstoffrecycling, sondern um ein neues Selbstbild der Branche – die Chemie 4.0. Erstmals werden neben Rohstoffen oder Energien auch Daten als wesentliches Produktionsmittel genannt. Liefern sollen diesen Rohstoff unter anderem die in hohem Maße digitalisierten und automatisierten Produktionsprozesse.

Daten sind der Rohstoff für neue Geschäftsmodelle

Weshalb Daten für die Prozessindustrie in der Zukunft so wichtig sein werden, macht der Blick auf aktuelle Projekte der Chemie deutlich: Eines der Paradebeispiele für neue Geschäftsmodelle ist die digitale Landwirtschaft: In der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen aus Chemie, Landmaschinenproduktion und Lebensmittelverarbeitung entsteht ein kollaboratives Netzwerk mit neuen Anbietern. Diese schicken sich an, die landwirtschaftliche Produktion auf Basis einer Echtzeitanalyse von Wetter-, Boden-, Pflanzen- und Maschinendaten zu optimieren. „Digital Farming“ oder „Precision Farming“ sind auch ein wichtiger Aspekt beim 66 Mrd. US-Dollar schweren Deal zwischen Bayer und Monsanto.

Aber auch in der klassischen Chemie- und Kunststoffherstellung entstehen an der Nahtstelle zwischen Werkstofflieferanten, Maschinenherstellern und Anwendern neue Geschäftsmodelle: Die jüngste Kooperation das Chemiekonzerns BASF mit dem Druckerhersteller HP ist nur eines davon: Gemeinsam wollen die beiden Unternehmen neuartige Materialien für den 3D-Druck entwickeln und diese gemeinsam anbieten. In der pharmazeutischen Industrie geht der Trend ebenfalls zu neuen Geschäftsmodellen auf Basis digitaler Informationen. So verändert die Personalisierung von Arzneimitteln komplette Produktionsprozesse und Lieferketten.

Die Zukunft der Prozessautomatisierung: NOA oder OPA?

CT-Spotlight: OPA vs. NOA

Dazu kommen neue Systemarchitekturen, bei denen wiederum die Anwender die treibenden Kräfte sind: Mit der Namur Open Architecture, NOA, geben die Prozess­automatisierer von der Betreiberseite vor, wie sie ihre Anlagen fit für die Industrie 4.0 machen wollen: Die vorhandene Automatisierungsstruktur soll via NOA künftig relativ einfach um schnelllebige IT-Komponenten ergänzt werden können. So sollen die Informationen aus zusätzlichen Sensoren oder aber bislang ungenutzte Diagnoseinformation aus Feldgeräten rückwirkungsfrei in die Cloud übertragen und dort von Cloudapplikationen ausgewertet werden – ohne diese Sensoren zuvor mühsam in die vorhandene Leittechnik einbinden zu müssen. NOA unterscheidet dafür zwischen der Kern­automatisierung und einer offenen Systemwelt für Monitoring- und Optimierungsaufgaben. Die Daten der bisherigen Automatisierung werden über offene Schnittstellen wie beispielsweise OPC-UA in die Cloud über­tragen.

Noch weiter geht die von Exxon Mobile in den USA vorgeschlagene neue Struktur für die künftige Prozessautomatisierung: Die Open Process Automation, OPA. In diesem Konzept wird die klassische Pyramide der Prozessautomatisierung aufgelöst und eine komplett offene Automatisierung angestrebt: In den Anlagen der Zukunft sollen Hard- und Software beliebiger Hersteller genutzt werden können und ohne Anpassungsaufwand problemlos zusammenarbeiten. Konsequent zu Ende gedacht, wird bei OPA die Intelligenz komplett in das Feld verlagert, das klassische zentrale Prozessleitsystem hat ausgedient.

Durchgängiges Engineering und modulare Automation

Auch wenn die Namur in ihren Projektionen für die Zukunft nicht so weit geht, die Automatisierungspyramide komplett aufzulösen, so wünschen sich die deutschen Prozessautomatisierer doch ebenso wie ihre amerikanischen Kollegen die lückenlose Integration und Zusammenarbeit der verschiedenen Automatisierungsgewerke über den kompletten Lebenszyklus einer Anlage. So sollen künftig beispielsweise Automatisierungssysteme komplett aus den Engineeringdaten parametriert und konfiguriert werden. Mit dem Ansatz des Modul Type Package, MTP, sollen modulare Prozesseinheiten künftig ohne großen Engineeringaufwand zusammengeschaltet und in übergeordnete Leittechnikstrukturen eingebunden werden können.

Der Wunsch nach modular aufgebauten Anlagen folgt dabei den aktuellen Trends in der Spezialchemie und der Pharmaproduktion: Um volatile Märkte zu bedienen, müssen die Hersteller in der Lage sein, kleine Chargen in immer kürzerer Zeit produzieren zu können. Klassische Ansätze im Anlagenbau sind dafür zu langwierig – der Engineeringprozess muss durch Standardisierung vereinfacht werden. Dafür werden die verfahrenstechnischen Einheiten als Module aufgebaut und über standardisierte Schnittstellen flexibel miteinander verschaltet. Dass dabei auch eine modulare Automatisierung genutzt werden soll, ist logisch und konsequent.

Automatisierungsanbieter erschließen sich mit neuen Dienstleistungen Prozesswissen

Auch im Projekt MTP arbeiten Anwender und Hersteller von Prozessautomatisierung Hand in Hand, um die Vision eines durchgängigen Engineerings Realität werden zu lassen. Dass sich die Anwender in immer stärkerem Maße auf ihre Lieferanten stützen, ist einem weiteren Trend in der Prozessindustrie geschuldet: der immer dünner werdenden Personaldecke in der Ingenieurtechnik. Die Automatisierungslieferanten reagieren darauf mit neuen Serviceangeboten, wie sie beispielsweise in der Öl- und Gasindustrie bereits Einzug gefunden haben: In leitwartenähnlichen „Operation Centers“ der Anbieter unterstützen deren Ingenieure die Prozessbetreiber während der Betriebsphase bei Optimierungsmaßnahmen und Engineering-Aufgaben. Für die Automatisierer sind diese Dienstleistungen nicht nur ein weiteres Produkt, sondern auch die Grundlagen für neue Geschäftsmodelle: Denn künftige Big-Data-Anwendungen erfordern in der Prozessindustrie vor allem eines: Das Wissen um die Mechanismen und den verfahrenstechnischen Kontext.

Open Process Automation versus Namur Open Architecture

Digitalisierung in der Prozessindustrie

Sie möchten gerne weiterlesen?

Unternehmen

Hüthig GmbH

Im Weiher 10
69121 Heidelberg
Germany