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Das Abbild in Form eines digitalen Zwillings kann helfen, Produktionsengpässe in der Anlage zu identifizieren. Bilder: Accenture

CT: Sie bieten digitale Lösungen für die Chemieindustrie. Wie sehen Sie den Stand und die Bereitschaft zur Digitalisierung in der Branche?
Götz Erhardt: Da hat sich in letzter Zeit viel getan. Insbesondere im Downstream-Bereich wie in Raffinerien hat man relativ früh damit begonnen, digitale Technologien zu nutzen, um die Anlagenleistung zu erhöhen. Aber auch die chemische Industrie insgesamt ist aus meiner Sicht mittlerweile auf einem guten Weg. Dort ist man jetzt immer öfter dabei, sich von ersten Pilotvorhaben weiterzuentwickeln und den Schritt in Richtung unternehmensweite Skalierung zu machen – insbesondere in den Bereichen digitaler Betrieb und Dokumentation sowie Wartung und Instandhaltung.

Zur Person:

Götz Erhardt kam im Jahr 2000 zu Accenture und ist dort seit 2015 als Geschäftsführer für den Bereich Grundstoffindustrie und Energie tätig. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Beratungserfahrung mit Fokus auf die produzierende Industrie. Zu seinen Schwerpunktthemen zählen strategischer Wandel, Digitalisierung und Industrie 4.0 sowie marktorientierte Organisation. Erhardt studierte Philosophie an der Freien Universität Berlin und absolvierte einen MBA an der University of Bradford in Großbritannien.

CT: Eine digitale Lösung, die derzeit in aller Munde ist und die Sie auch propagieren, ist der „digitale Zwilling“. Was ist darunter eigentlich genau zu verstehen?

Götz Erhardt: Ein digitaler Zwilling hat im Wesentlichen drei Komponenten: Einmal ist er ein digitales Abbild des Anlagevermögens als 3D-Modell – also letztlich all dessen, was in der Anlage verbaut ist und was eine chemische Anlage umfasst: Rohrleitungen, Wärmetauscher, Kompressoren, Pumpen und so weiter. Das nenne ich einen „statischen Digital Twin“. Dann gibt es noch den „Performance Digital Twin“. Der beinhaltet alles, was sich auf die Leistung oder die Leistungsfähigkeit der Anlage bezieht – inklusive der Instandhaltungs- und Wartungsvorschriften der Anlage. Da sprechen wir also über alles, was ich brauche, um eine Anlage zu betreiben, bis hin zur Ausbringung. Es geht dabei erstmal nicht darum, die komplette Anlage abzubilden, sondern nur den relevanten Teil und die Parameter, die man beeinflussen kann. Dort haben wir es dann vor allen Dingen mit Daten aus der Prozessleittechnik zu tun. Und dann gibt es zum Schluss noch den „Digital Twin der Produkte“, der auch noch die verschiedenen Kundenspezifikationen beinhaltet.

CT: Wenn man in diese Technik einsteigen will: Wie umfangreich ist das und wie lange dauert das?
Götz Erhardt: Zum Glück sind die bisherigen Anlagen ja nicht analog. Einfach zu sehen, wie ich eine Anlage besser fahren kann, geht relativ schnell: Da reden wir über etwa sechs Wochen. Anders ist das natürlich bei der Digitalisierung einer kompletten Anlage. Da müssen Sie Papierdaten scannen, über Laserscanning nachmessen etc. Das ist dann schon ein umfangreicheres Vorhaben. Daher liegen wir hier bei mindestens einem Jahr.

CT: Welche Dienstleistungen bietet Accenture als Unternehmensberatung in diesem Prozess an?
Götz Erhardt: Wir können hier zum einen die klassische Data Science anbieten – also Daten aufbereiten, Modelle bauen und validieren, entsprechende Business Cases rechnen sowie die Modelle und Arbeitsanweisungen dann großflächig innerhalb eines Unternehmens ausrollen. Wir können zum anderen aber auch über unsere Outsourcing-Units beispielsweise das Anlagenregister pflegen, also das Engineering-Data-Management übernehmen.

CT: Was macht die Technologie des digitalen Zwillings gerade für die Chemieindustrie so interessant?
Götz Erhardt: Erstens liegen die nötigen Investitionen viel niedriger als etwa in der diskreten Fertigung, zum Beispiel bei einem klassischen metallverarbeitenden Betrieb. Das liegt daran, dass Sie an den chemischen Anlagen schon viele Messpunkte haben. Das heißt, Sie müssen nicht so viel Sensorik nachrüsten. Der zweite Punkt ist, dass Sie sich prinzipiell als chemischer Betrieb darauf vorbereiten müssen, in Zukunft kürzere Kampagnen und kleinere Losgrößen mit optimaler Ausbeute zu fahren. Natürlich unterliegen Sie da immer noch den Einschränkungen der Physik, aber Sie können über Analytik und KI hier deutlich näher am Optimum arbeiten. Insgesamt wird die chemische Industrie eher in Richtung autonome und durchaus auch kleinere Anlagen gehen.

CT: Dennoch sind – gerade für mittelständische Betriebe – doch relevante Investitionen nötig. In welchen Zeiträumen zahlen die sich aus?
Götz Erhardt: Auf jeden Fall auf kurze Sicht. Nehmen wir mal eine Konti-Anlage: Wenn Sie da Muster finden – und das haben wir bisher in allen Projekten – dann lohnt sich das sofort. In einem Beispiel haben wir relativ schnell – bezogen auf die Jahresproduktion – ein Potenzial in Millionen-Euro-Höhe gefunden. Und das war noch konservativ gerechnet. Ein digitaler Zwilling lohnt sich also in den meisten Fällen.

Innovation Center

Auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen hat Accenture sein „Industrie X.0 Innovation Center“ eröffnet.

CT: Wieso macht das dann noch nicht jeder Chemiebetrieb?
Götz Erhardt: Ich glaube, die Unternehmen nehmen sich manchmal ein Stück weit zu viel vor. Sie versuchen dann, alle Probleme auf einmal zu lösen. Natürlich möchten sie, dass der Anlagenläufer die Daten digital erfasst, statt auf einem Klemmbrett. Gleichzeitig denken sie darüber nach, das Anlagenregister zu digitalisieren. Insbesondere bei Konti-Anlagen – aber auch in Batch-Anlagen – ist es immer ein sinnvoller Start, zunächst die typischen Produktionsengpässe anzuschauen und in Modellen zu rechnen. Das kann dem Betriebsingenieur oder Anlagenführer als Entscheidungshilfe dienen.

CT: Bei aller digitalen Technik. Wie steht es da um das Thema IT-Sicherheit?
Götz Erhardt: Gerade bei kritischen Assets müssen Sie da natürlich sehr genau hinsehen. Aber das müssen Sie in jeder Branche. IT-Sicherheit wird meiner Meinung nach zu defensiv betrachtet, sie muss integraler Bestandteil sein. Zwar können Sie Ihre Organisation immer so gut wie möglich vorbereiten und technische Schutzmaßnahmen ergreifen. Trotzdem sind Sie gegenüber Hacker­angriffen nie immun – etwa wenn jemand in der Anlage auf den Anhang einer E-Mail klickt und so Malware auf den Computer gelangt. Das können Sie nur dadurch verhindern, indem Sie Ihre Leute trainieren und ganzheitliche Sicherheitskonzepte umsetzen. Das gehört in jedem Fall dazu, egal ob Sie digitalisieren oder nicht. Der Digital Twin ist kein zusätzliches Sicherheitsrisiko oder Einfallstor.

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Kunden aus der Prozessindustrie können dort mit Experten des Beratungsunternehmens Prototypen digitaler Produkte und Dienstleistungen entwickeln.

CT: Wie wird sich aus Ihrer Sicht die Digitalisierung in der Chemieindustrie entwickeln?
Götz Erhardt: Einerseits geht es darum, die bestehenden Anlagen zu verbessern. Aber der Zielzustand ist auf jeden Fall eine autonomere Produktion, die mit weniger Personal gefahren wird. Dazu braucht man digitale Technologien. In den nächsten 20, 30 Jahren wird die chemische Industrie aufgrund von Regularien, aber auch im Zuge der Kreislaufwirtschaft kleinlosiger werden und vor allen Dingen auch geringere Mengen produzieren – zum Beispiel im Bereich Pflanzenschutz. Es wird daher auch Änderungen in der Physik geben: kleinere Anlagen und ein flexibleres, modulares Layout – wie bereits heute schon ansatzweise in der pharmazeutischen Industrie zu sehen ist. Das wird für die Chemie auch kommen und ist ohne Digitalisierung nicht möglich, sonst können Sie die kleinen Losgrößen gar nicht bedienen.

CT: Wie kann man sich auf diese Entwicklung vorbereiten?
Götz Erhardt: Ein guter Teil der Innovation in der chemisch-technischen Produktion wird aus der Hardware kommen – also „Deep Tech“. Da wissen wir heute natürlich noch nicht, welche Anlagen- und welche Verfahrenstechnik das genau sein wird. Die „alte Chemie“ war sehr stark auf Produkte und Verfahrenstechnik abonniert. Die „neue chemische Industrie“ dagegen wird neben den physischen Assets und dem verfahrenstechnischen Know-how auch digitale Assets brauchen. Diese digitalen Assets helfen dann bei der Differenzierung gegenüber Mitbewerbern. Aber wie genau die Verfahrenstechnik und ein Anlagenpark der Zukunft aussehen wird – gerade auch im Hinblick auf die Sektorenkopplung –, das wissen wir heute noch nicht.

CT: Was raten Sie ganz konkret einem Anlagenbetreiber, der in die Digitalisierung seiner Anlage einsteigen will?
Götz Erhardt: Ganz eindeutig: Nehmen Sie sich die besten Mitarbeiter und holen Sie sich Kompetenz von außen. Entwerfen Sie gemeinsam eine Roadmap mit einem vernünftigen Anspruchsniveau – sprich: Nehmen Sie sich nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig vor. Bauen Sie digitale Technologie genau so aus, wie wenn Sie einen Anlagen-Blueprint haben und den weltweit ausrollen wollen. Und wenn Sie einmal ein Anlagenlayout haben, das sich bewährt hat, dann nutzen Sie dieses als Ausgangspunkt. Vermeiden Sie es, das Rad beim nächsten Mal neu zu erfinden.

Zur Neugründung – Innovation Center für die Prozessindustrie

Auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen hat Accenture am 20. Mai 2019 sein „Industrie X.0 Innovation Center“ eröffnet. Dort sollen Unternehmen aus der Chemie, der Stahl- und Energiebranche sowie weiteren Prozessindustrien dabei unterstützt werden, ihre Werke und Produktion zu vernetzen und smarte Produkte und Services zu entwickeln. Dazu verfolgt das Beratungsunternehmen einen dreistufigen Ansatz: Zunächst soll anhand von Anwendungsbeispielen gezeigt werden, wie digitale Techniken wie KI, Blockchain oder das Internet der Dinge in den Prozessindustrien angewendet werden können. Mithilfe von Design thinking und Workshops soll dann gezeigt werden, wie digitale Trends auf das Geschäftsmodell angewendet werden können. Schließlich können Kunden aus der Prozessindustrie gemeinsam mit Experten des Beratungsunternehmens in kurzer Zeit Prototypen von Produkten und Dienstleistungen entwickeln. Accenture betreibt weltweit 20 Innovationszentren für Industrie X.0.

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