Raffinerie Industrieanlage

Monatelange Detailarbeit für diesen Moment: Der Betreiber fährt die Produktion herunter – der Turnaround beginnt. (Bild: chalermchai k – Fotolia)

  • Eine Großanlage wie das Dow-Chemiewerk in Böhlen zu Instandhaltungs- und Wartungszwecken herunterzufahren – ein sogenannter Turnaround – ist eine aufwendige Sache.
  • Neben genauer Planung und Fachwissen ist dabei vor allem Erfahrung gefragt: Die erforderlichen Instandhaltungsarbeiten und Erneuerungen sowie die besonders wichtigen Sicherheitsprüfungen durch den Dienstleister betreffen Bauteile, die teilweise über 40 Jahre alt sind.
  • Die Uhr läuft: Jeder Tag Stillstand kostet den Betreiber rund 1 Mio. Euro Umsatz.

Turnaround, Großabstellung, Shutdown oder Stillstand – in der Prozessindustrie bezeichnen diese Begriffe das Management eines Instandhaltungs- und Wartungsprojekts beim Betrieb kontinuierlich arbeitender Großanlagen. Eine solche Großanlage, bei der der Betreiber im Spätsommer 2015 einen sechswöchigen Turnaround durchführte, ist das Chemiewerk in Böhlen bei Leipzig. Das Werk gehört zu Dow Olefinverbund, einer Tochter der amerikanischen The Dow Chemical Company, und nimmt eine Fläche von 320 ha ein. Eine mehr als 430 km lange Pipeline versorgt den Standort direkt vom Ostseehafen in Rostock mit Rohbenzin, der dieses in die chemischen Grundstoffe Ethylen und Propylen umwandelt – Ausgangsprodukte für Kunststoffe, Farben, Klebstoffe und Kosmetika. Für den Turnaround hat sich das Unternehmen professionelle Unterstützung besorgt, um das ambitionierte Arbeitspensum zu stemmen. Experten und Spezialisten diverser Unternehmen und Zulieferer bevölkern das Gelände. „Hier in Böhlen umfasst unsere Stammbelegschaft rund 900 Mitarbeiter, von denen etwa 600 bei Dow und 300 bei externen Firmen beschäftigt sind“, erklärt Reiko Hass, Stillstandsleiter und als Manager verantwortlich für den Turnaround. „Während des Turnarounds kommen noch einmal knapp 1.200 Arbeiter von unterschiedlichen Fremdfirmen hinzu. Die vielen zusätzlichen Arbeitsprozesse erfolgreich zu koordinieren, ist eine Herausforderung, die wir alle drei bis fünf Jahre meistern müssen.“ Denn dann ist es wieder Zeit zu prüfen, ob die Betriebssicherheit der gesamten Anlage auch für die kommenden Jahre gewährleistet ist.

Fachliche Expertise besonders wichtig
Dies zu beurteilen, ist Aufgabe von Olaf Fuchs und seinem Team. Der Sachverständige ist Leiter der Anlagenüberwachung Mitteldeutschland bei TÜV Süd Chemie Service in Schkopau. Dieser Standort des Dienstleistungsunternehmens entstand 2009 aus der Eigenüberwachung von Dow. Fuchs ist schon seit vielen Jahren bei den Turnarounds in Böhlen im Einsatz. Der Ingenieur kennt die Anlagen und Abläufe und koordiniert die regelmäßigen Prüfarbeiten, für die drei seiner Kollegen auch im regulären Betrieb vor Ort sind. „Für den Turnaround holen auch wir uns personelle Unterstützung von unseren Niederlassungen aus Frankfurt-Höchst, Leverkusen und dem übrigen Bundesgebiet“, merkt der Sicherheitsexperte an. „Ein Team aus insgesamt 13 erfahrenen Fachleuten ist nötig, um die gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen termingerecht abzuwickeln.“ Dazu gehören die wiederkehrenden Prüfungen der zahlreichen Druckbehälter am Standort. Sind sie dicht? Weisen sie Mängel oder Korrosionsschäden auf? Wenn ja: Was ist zu tun, um sie die nächsten Jahre sicher weiter betreiben zu können? „Um all dies einschätzen zu können, ist langjährige Praxis- und Berufserfahrung in der chemischen Industrie eine notwendige Grundvoraussetzung bei unseren Mitarbeitern“, betont Fuchs. Es ist folglich kein Zufall, dass fast alle Mitarbeiter seines Team über 40 Jahre alt sind: „Was bei diesem Großprojekt zählt, ist die fachliche Expertise, auf die sich der Auftraggeber voll und ganz verlassen kann. Gerade bei einem Werk mit einer Tradition wie in Böhlen ist Erfahrung das A und O.“ Ohne die jahrelange Praxiserfahrung in der chemischen Industrie könnten die Mitarbeiter beispielsweise Korrosionsbilder nicht richtig einstufen. „So ist eine Schweißnaht von früher nicht mit einer Automatennaht von heute zu vergleichen und kann trotzdem noch immer integer sein“, erklärt der Sachverständige. Und bei falschen Befunden würde schließlich unnötigerweise eine Riesenmaschinerie in Gang gesetzt.

Der Cracker ist Herzstück des Werks
Eine „Riesenmaschinerie“ ist auch das Chemiewerk selbst, ein Labyrinth aus Rohrleitungen, Stahlträgern, Behältern und Apparaten. Herzstück des Anlagenkomplexes ist der Cracker. Im Chemiewerk Böhlen spaltet die Anlage in 15 Brennöfen bei rund 800 °C große Moleküle von Naphtha oder Flüssiggas in kleinere wie Ethylen oder Propylen auf. Der Cracker ist die Rohstoffquelle für die Standorte des mitteldeutschen Dow-Olefinverbundes und versorgt die Werke in Schkopau und Leuna mit Vorprodukten, die diese zu Kunstoffen weiterverarbeiten. Zudem versorgt er intern Anlagenteile mit Prozessdampf. „Wenn der Cracker hustet, dann husten hier alle Anlagen“, kommentiert Stillstandsleiter Hass die zentrale Bedeutung der Cracker-Einheit. „Daher müssen die anderen Anlagen und Anlagenteile zuvor heruntergefahren werden, wenn der Cracker gewartet werden soll. Allein das dauert inklusive der Säuberung der Anlagen rund zehn Tage.“ Die ältesten Teile des Crackers sind über 40 Jahre alt – umso wichtiger ist es, regelmäßig zu prüfen, welche das Personal reparieren oder austauschen muss.

To-do-Liste umfasst rund 25.000 Arbeitsschritte
Während des sechswöchigen Turnarounds nehmen die Fachleute der verschiedenen Gewerke und Firmen die betreffenden Teile der Anlage einmal komplett auseinander, prüfen, erneuern oder ersetzen Teile und bauen dann unter strengen Qualitäts- und Sicherheitsauflagen alles wieder zusammen. Der Betreiber nutzt den Turn­around auch dazu, die Prozessleittechnik in allen Teilen der Anlage auf den neuesten Stand zu bringen. „Die Innovationszyklen in diesem Hightech-Bereich werden immer kürzer, gleichzeitig steigen die Anforderungen an die funktionale Sicherheit“, erklärt Hass. Damit alles reibungslos funktioniert, sind umfangreiche und sorgfältige Planungen erforderlich. Diese begannen bereits am Ende des vorherigen Turnarounds. „Seither haben wir an unserer To-do-Liste fortlaufend gearbeitet“, merkt der Stillstandsleiter an. Die Liste umfasst bei Projektbeginn 1.200 bis 1.500 Jobs mit insgesamt rund 25.000 Arbeitsschritten – auch Sequenzen genannt, die der Reihe nach zu erledigen sind. Da die verschiedenen Tätigkeiten die Voraussetzungen für die nächstfolgenden Schritte schaffen und sich gegenseitig bedingen, sind das Koordinieren und Überwachen der Arbeitsprozesse und die Organisation der Material- und Ersatzteillager essenziell. Die Planung stimmen die Verantwortlichen Monate im Voraus ab und halten diese in einem komplexen Projektplan fest.

Mit Weitsicht planen bei Ersatzteilen
Die Besonderheit bei dem Turnaround in Böhlen ist, dass alle Teile, auch Kleinstteile, vorab bestellt und kommissioniert werden. So entstehen während des Großprojekts keine Wartezeiten. Jeden Abend prüft das Team, ob der Plan bezüglich Sicherheit und Fortschritt eingehalten wurde. Abweichungen müssen gute Gründe haben. Denn für den Auftraggeber bedeutet das Projekt auch hohe Kosten. Normalerweise setzt das Werk pro Tag rund eine Million Euro um. Bei 50 Tagen Stillstand sind dies 50 Mio. Euro Umsatz, die ausfallen. Hinzu kommen die Investitionen von 42 Mio. Euro für den Turnaround sowie für technische Innovationen wie das schrittweise Einführen des neuen Prozessleitsystems. Dies ergibt Kosten von insgesamt 92 Mio. Euro für die Generalüberholung. Bei dem gesamten Projekt steht das Thema Sicherheit an erster Stelle – unter anderem auch deshalb, weil die meisten Prüfungen der TÜV Süd Chemie Service „legal related“ sind, also gesetzlich gefordert. Sie machen rund 80 % der Arbeitspakete aus und sind laut Hass die „größten Herausforderungen“. Zu den Prüfungen gehört unter anderem das Korrosionsmonitoring der Behälterinnenwände. Damit ein Sachverständiger in den Behälter steigen kann, muss dieser sauber, sicher zugänglich und frei von giftigen Dämpfen und Gasen sein. Dies setzt komplexe Prozesse und diverse Arbeitsschritte voraus, die es exakt zu terminieren gilt. Denn auch qualifiziertes Sicherungspersonal muss bei der Prüfung vor Ort sein, damit Hilfe im Notfall schnell zur Stelle ist.

Betriebsinterne Vorgaben höher als gesetzliche
Maßgeblich für die Prüfungen ist die Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), inklusive dem Explosionsschutz, der jetzt in der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) geregelt ist. Wichtig sind aber auch unternehmensinterne Vorschriften. Da der amerikanische Konzern Wert auf Sicherheit legt, sind die internen Anforderungen zumeist höher als die gesetzlichen. Zwar ist das Herunterfahren der Anlagen wegen der anfänglich noch laufenden Produktionsprozesse am kritischsten. Die entscheidenden Wochen sind aber die drei Folgewochen, in denen die Sachverständigen arbeiten können. Die Prüfpflichten setzt der Betreiber flexibel auf Basis des gesetzlich erlaubten Rahmens fest: Beispielsweise muss der Betreiber Behälter, die unter Druck stehen, spätestens alle fünf Jahre prüfen lassen. Sollten aber die Prüfungen zu dem Ergebnis führen, dass die Sicherheit für diesen Zeitraum nicht zu garantieren ist, sind die Prüffristen zu verkürzen. Nur in Ausnahmefällen ist es möglich, die Prüffrist bis zu einem gewissen Grad, vorausgesetzt der behördlichen Zustimmung, zu verlängern. Der Turnaround 2015 war vom Umfang her zwar kleiner als sonst, aber: „Wenn manche Anlagenteile noch laufen, ist die Koordination umso herausfordernder, gerade bezüglich der Sicherheit“, erläutert Turnaround-Manager Hass. Was es diesmal jedoch für die Mitarbeiter von TÜV Süd etwas einfacher machte: Es gab überwiegend innere Prüfungen und weniger der aufwendigeren Druckprüfungen als sonst. „Die kommen dann beim ganz großen Stillstand in fünf Jahren wieder auf uns zu“, erklärt der Sachverständige Fuchs.

Zur Vorbereitung: Sechs Tipps für einen erfolgreichen Turnaround

  • Arbeitsschutz und Betriebssicherheit haben oberste Priorität: Nur wenn dieses Ziel von der Unternehmensführung klar formuliert ist und im gesamten Unternehmen gelebt wird, ist es möglich, die komplexen Turnaround-Prozesse top-down zu planen und erfolgreich umzusetzen.
  • Langjährige Praxiserfahrung zählt – bei allen Beteiligten, denn die komplexen Anlagen sind in ihrer spezifischen Konfiguration oft einmalig. So ist es von hohem Wert, wenn Mitarbeiter, Zulieferer und Dienstleister die Anlagen, Komponenten und ihre Eigenheiten schon längere Zeit und bis ins Detail kennen.
  • Ein kommunikationsstarkes Team bilden, das Verantwortung übernimmt: Bei unvorhergesehenen Ereignissen oder gegenläufigen Interessen (beispielsweise Budgetierung contra Instandsetzungsmaßnahme) ist entscheidend, dass sich die beteiligten Parteien schnell auf eine praxis­taugliche Entscheidung einigen.
  • Die Motivation der Mitarbeiter fördern, sie gleichzeitig jedoch nicht unter zu großen Zeitdruck setzen. Denn Stress bedingt Fehler, und die daraus folgenden Korrekturen verursachen deutlich höhere Kosten als eine gründliche und gewissenhafte Arbeitsweise.
  • Die Soll- und Ist-Situation mit technischen Hilfsmitteln und definierten Prozessen stets im Blick behalten: Sowohl bei den Planungen der vielen Arbeitssequenzen als auch bei der Organisation der Arbeitsmittel, Werkzeuge und Ersatzteile leisten professionelle Software-Systeme und Datenbanken wertvolle Dienste.
  • Erfahrene unabhängige Dritte einbinden: Mit ihrer Expertise und ihrem Sachverstand sorgen sie dafür, im Zweifelsfall auf der sicheren Seite zu sein. Ihr Blickwinkel ist frei von unternehmensinternen Interessen, durch die vorhandene Restrisiken ausgeblendet werden können. 1607ct904

Die Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV) sowie Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) können Sie hier kostenlos einsehen.

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