- Die technische Flexibilität von modularen Anlagen allein reicht nicht für einen Wettbewerbsvorteil aus, da nach Umbauten die Sicherheit der Anlage neu bewertet werden muss.
- Das vorgestellte Interactive Hazop-Verfahren ermöglicht eine modulare und sichere Produktion trotz sich ständig ändernder Betriebsparameter und Anlagencharaktere.
- Das Verfahren ermöglicht eine schnellere Sicherheitsbewertung und trägt dazu bei, dass die Vorteile modularer Anlagen im globalen Wettbewerb erhalten bleiben.
In den frühen 1990er-Jahren kam es erstmals zum Einsatz modularer Anlagen in der chemischen Industrie. In der Zwischenzeit haben diese sich deutlich weiterentwickelt, wie beispielsweise im Standard VDI 2776 aufgezeigt wird. Immer mehr Unternehmen möchten nun die Vorteile nutzen, die sich durch den Einsatz moderner modularer Anlagen ergeben. Einzelne Module können unabhängig voneinander vorfabriziert und an beliebigen Orten zu einer Produktionseinheit zusammengesetzt werden. Vor allem hinsichtlich der Flexibilität, der Kosten und des Faktors Zeit entstehen damit signifikante Wettbewerbsvorteile gegenüber statischen Anlagen in einem dynamischen Marktumfeld.
Neue Möglichkeiten – neue Erwartungen
Mit den sich stetig weiterentwickelnden Produktionsarten durch die Verwendung modularer Anlagen verändern sich allerdings auch die Kundenwünsche. Das führt dazu, dass Aufträge immer komplexer werden. Bemerkbar macht sich das vor allem in Form von kleineren Losgrößen, geringen Volumina und kurzen Herstellungszeiten sowie Produktlebenszyklen. Mitunter lassen sich solche Aufträge mit fest installierten, statischen Anlagen nur sehr schwer wirtschaftlich realisieren. Aber auch vorkonfigurierte Mehrproduktanlagen kommen in einem Marktumfeld mit schwerer werdender Vorhersagbarkeit öfter an ihre Grenzen. Umbauten und Anpassungen werden häufiger – die Geschwindigkeit, mit der die Anlagen wieder einsatzbereit sind, entscheidet dann darüber, ob die Produktion wirtschaftlich ist oder nicht.
Stillstandzeiten minimieren – trotzdem sicher produzieren
Gründe dafür, dass die Anlage stillsteht, gehen aber über Umbauten und Anpassungen hinaus. Denn jedes Mal, wenn Module getauscht, hinzugefügt oder entfernt werden, ändert sich der Anlagencharakter. Das betrifft auch die Unterschiede in der Fahrweise. Dann müssen Betriebsparameter neu bestimmt und angepasst werden. Damit geht einher, dass Gefahrenpotenziale für den laufenden Betrieb oder für das Personal entstehen, die lokalisiert werden müssen. Bei jeder Änderung der Anlagenbeschaffenheit und/oder des Betriebsmodus muss daher auch eine erneute Gefährdungsbeurteilung erfolgen. Es gilt also auch, bei den notwendigen Sicherheitsbewertungen schnell und strukturiert vorzugehen. Andernfalls geht der Flexibilitätsvorteil modularer Anlagen im globalen Wettbewerb schnell verloren.
Neben einer – speziell für die jeweilige modulare Anlage – zuverlässigen Sicherheitsbewertung geht es auch darum, dass die Maßnahmen rechtskonform sind. Für Anlagenbetreiber ist das ein absolutes Muss. Inhaltlich lassen sich geeignete Maßnahmen vor allem aus der DIN EN 61882 „Hazop-Verfahren (Hazop-Studien)“ ableiten sowie aus Vorschriften, die sich aus den Richtlinienreihen VDI/VDE/Namur 2658 „Automatisierungstechnisches Engineering modularer Anlagen in der Prozessindustrie“ und VDI 2776 „Modulare Anlagen“ ergeben.
Hazop im Wandel der Zeit
Um auf Augenhöhe mit den flexibleren modularen Produktionsanlagen zu sein, sollte auch das eingesetzte Hazop-Verfahren zu den neuen Erfordernissen passen. Das bisher angewandte manuelle Verfahren ist dafür zu statisch. Deshalb ist Interactive Hazop (iaHazop) entstanden. Diese Variante wird dem Produktionsbetrieb mit modularen Anlagen gerecht. Denn das Sicherheitskonzept wird dabei – wie die Produktion – passenderweise auch modularisiert und systematisiert und auf einzelne Module der Anlage angewendet. Selbst beim Sicherheitsniveau wird das aktuelle Niveau nicht nur gehalten, sondern bisher verborgenes Optimierungspotenzial kann ebenfalls erkannt und genutzt werden. Außerdem besteht mit iaHazop die Möglichkeit, einzelne, bisher manuelle Teilschritte ebenfalls zu digitalisieren und zu teilautomatisieren. Das beschleunigt den Freigabeprozess und schafft überdies zusätzliche zeitliche Kapazitäten.
Zur Automatisierung der Prozesse werden gewisse Regeln benötigt – die Hazard und Safety Rules. Hazard Rules beschreiben Gefährdungen und Fehlermöglichkeiten, die sich auf der Basis von Verknüpfungen mit Ergebnissen von Simulationstools und Sensordaten ableiten lassen. Safety Rules zeigen, ob die gewählten Schutzmaßnahmen wirksam sind. Auf dieser Basis kann auch ein digitaler Zwilling programmiert werden. Entscheidende Wettbewerbsfaktoren wie Effizienz, Transparenz und Flexibilität werden durch diese Maßnahmen gewährleistet.
Praxisbericht aus Darmstadt
Das Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck produziert chemische Produkte in den Bereichen Life Science, Healthcare und Electronics. Für eine modulare Anlage am Produktionsstandort Darmstadt, mit der unter anderem Vorprodukte für die Halbleiterindustrie hergestellt werden, entstand in Zusammenarbeit mit TÜV SÜD ein auf modulare Anlagen abgestimmtes Sicherheitskonzept.
Das Anforderungsprofil entsprach dem Trend: geringe Stückzahlen, sehr spezifische Kundenwünsche, häufiges Umrüsten und dadurch ständig wechselnde Betriebsparameter. Dabei hat sich eine allgemein einsetzbare „ready-to-use“-Vorgehensweise herauskristallisiert, die sich in drei Schritten veranschaulichen lässt:
- Die PEAs (Process Equipment Assemblies), also sämtliche standardisierte Einzelmodule der Prozesskette, werden mit einem Beispiel-Teilreferenz-Prozess errichtet und ausgelegt.
- Im Anschluss werden die PEAs mit ihren Teilprozessen zu einem Teilverfahren zusammengefügt.
- Als letzter Schritt steht das Verbinden aller Teilverfahren zu einem Gesamtverfahren.
Dem Gedanken hinter iaHazop folgend wurde dann auch die Sicherheitsbewertung auf das modulare Anlagenkonzept übertragen – hin zu einer modularen und im ersten Schritt weiterhin manuellen Hazop. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass die Anzahl der einzelnen Teilbewertungen und damit auch die Zahl des involvierten Personals größer werden. Da die Teilbewertungen unabhängig voneinander vorgenommen werden können, liegen sie tendenziell auch zeitlich weiter auseinander. Ein besonderes Augenmerk lag daher auf einer exakten Verwendung von Fachbegriffen und einer lückenlosen Dokumentation. Gerade beim Betrachten der Schnittstellen zwischen den Teilprozessen ist das unabdingbar. Merck und TÜV SÜD erreichten so, dass eine flexible und sichere Produktion trotz der veränderten Produktionsbedingungen möglich ist.
Sicherheitstechnische Besonderheiten modularer Anlagen
Modulare Anlagen bestehen aus sogenannten PEAs (Process Equipment Assemblies). Das sind einzelne standardisierte Module, denen vor dem Hintergrund der Sicherheitsbeurteilung jeweils ein Teilprozess aus dem Produktionsverfahren zugeordnet ist. Um das Gesamtverfahren zu betrachten, werden diese Teilprozesse unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen, die sich aus den Besonderheiten des Aufstellungsortes ergeben, zusammengefügt. Die größte Herausforderung besteht darin, zu veranschaulichen, welche Interaktionen es zwischen den Teilverfahren gibt. Außerdem ist es wichtig, dass sich das Sicherheitskonzept unkompliziert mit dem Genehmigungsprozess und den kundespezifischen Arbeitsabläufen verbinden lässt.