Jürgen Nowicki CEO Linde Engineering

„Ich bin sehr optimistisch für unsere Branche, denn den Nachhaltigkeitsbestrebungen der Gesellschaft und den politischen Regulierungen in Europa und dem Rest der Welt kann sich keiner entziehen.“ Jürgen Nowicki ist CEO Linde Engineering.

Jürgen Nowicki

Jürgen Nowicki ist Executive Vice President Linde plc und CEO von Linde Engineering. Nowicki kam 1991 als Innen­revisor zu Linde und war anschließend in verschiedenen Positionen im Bereich Finanzen und Controlling tätig. Im Jahr 2002 wurde er zum CFO von Linde Gas North America, USA, ernannt und 2006 zum Head of Finance & Control für die Linde Group. Im Jahr 2011 übernahm er die Funktion des Managing Director Linde Engineering und wurde 2015 zum Sprecher der Geschäftsführung von Linde Engineering ernannt. Jürgen Nowicki hat einen Masterabschluss in Wirtschaftsingenieurwesen von der Technischen Universität Karlsruhe, Deutschland.

CT: Herr Nowicki, brechen mit der Umstellung auf erneuerbare Energien und eine nachhaltige Wirtschaft für den Anlagenbau goldene Zeiten an?

Nowicki: Das Thema Nachhaltigkeit hat enorm an Fahrt aufgenommen. Der Trend wird sich weiter fortsetzen und stark an Geschwindigkeit zunehmen. Prozess­anlagen emittieren große Mengen an Kohlendioxid: ob Chemie, Stahl oder Zement. Diese in eine nachhaltige Struktur zu überführen, ist eine gigantische Aufgabe. Die Politik wird die Rahmenbedingungen festlegen und noch genauer definieren, was man in welchen Zeit­räumen und welcher Reihenfolge machen will. Denn nachhaltige Technologien sind derzeit noch erheblich teurer als die konventionellen. Die Ökonomie der Maßnahmen ist im Moment noch das Hauptproblem. Private Investoren und Betreiber gehen daher mit ihrem Engagement noch kaum über Leuchtturmprojekte hinaus. Aber zunehmende Regulierung wird den Transformationsdruck weiter erhöhen, sodass nachhaltige Geschäftsmodelle auch wirtschaftlich sinnvoll werden. Sobald diese Transformation in Gang kommt, dürften wir im Anlagenbau eine Flut von interessanten Projekten sehen.

CT: … und damit meinen Sie wahrscheinlich nicht nur grünen Wasserstoff.

Nowicki: Nein. Neben der Schaffung von Produktionskapazitäten für erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff als Energieträger, zum Beispiel in der Mobilität oder Industrie wird es die Hauptaufgabe sein, den großen Bestand an konventionellen Kraftwerken und Industrieanlagen zu dekarbonisieren. Denn hier werden weiterhin große Mengen an CO2 ausgestoßen. Es ist schon etwas frustrierend, dass die Politik fast nur über grünen Wasserstoff reden möchte. Dabei wird bei sachlicher Betrachtung der Mengenbilanzen sofort klar: Grüner Wasserstoff kann einfach kurzfristig nicht in ausreichenden Mengen für all die bereits existierenden und zukünftig angedachten Anwendungen bereitgestellt werden, auch weil die notwendige erneuerbare Energie kurz- und mittelfristig nicht verfügbar ist. Die Dimensionen scheinen oft nicht klar, deshalb vielleicht ein Beispiel: Wir bauen gerade in Leuna den derzeit größten PEM-Elektrolyseur. Dieser hat 24 Megawatt Elektrolyse­leistung. Dadurch können im Jahr 3.500 Tonnen grüner Wasserstoff produziert werden. Das klingt nach viel, aber eine einzige konventionelle mit Erdgas betriebene Wasserstoffanlage produziert leicht das Zwanzigfache. In Europa werden jährlich ca. 10 Millionen Tonnen Wasserstoff gebraucht, auf der Welt sind es sogar 70 Millionen Tonnen. Dieser wird derzeit zu 99 Prozent unter Einsatz fossiler Brennstoffe und Ausstoß von CO2 hergestellt. Ich denke, das zeigt die Größenordnungen. Die Wasserstoffproduktion kann man nicht über Nacht umstellen. Das Ziel ist grün, aber der klimaschonende Weg führt über CCS und blauen Wasserstoff.

CT: … das heißt die Nutzung von Erdgas und die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid.

Nowicki: Richtig. Blauer Wasserstoff ist derzeit deutlich günstiger als grüner Wasserstoff. Zudem wäre er sehr schnell in großen Mengen verfügbar, weil bestehende Anlagen umgerüstet werden können, so dass 95 Prozent oder mehr des CO2 abgetrennt werden könnten. Wenn man also den CO2-Ausstoß schnell und massiv reduzieren will, muss man vor allem bei den aktuell bestehenden Industrieanlagen das freigesetzte CO2 abfangen und lagern und das nicht nur bei der Wasserstoffproduktion. Die Speicherung von CO2 wird in Deutschland sehr kritisch gesehen. Ich halte das Problem aber für beherrschbar. Die langfristige Speicherung ist technisch nicht besonders kompliziert, das Gas ist auch nicht aggressiv. Und wenn einmal ausreichend erneuerbare Energien bereitstehen, könnte man überlegen, die gespeicherten Mengen in andere klimaunschädliche Produkte umzuwandeln. In 50 Jahren wird das Problem gelöst sein. Man braucht also keine Endlager.

Linde
Linde produziert beispielsweise am Standort Leuna Wasserstoff und errichtet dort einen Elektrolyseur für grünen Wasserstoff. (Bild: Linde)

CT: Wir haben global bislang sehr unterschiedliche Situationen. Die aufstrebenden Nationen werden zunächst billige fossile Energieträger nutzen wollen. Wie kriegt man das globale Ungleichgewicht politisch in den Griff?

Nowicki: Gas und Kohle werden nicht über Nacht verschwinden. Viele Länder sind noch auf lange Zeit von diesen Energiequellen abhängig. Auf der Welt sind Tausende Kohle- und Gaskraftwerke in Betrieb und Hunderte im Bau. Ganze Industrien wie Stahl, Zement oder Chemie und Petrochemie arbeiten fast ausschließlich mit fossilen Brennstoffen als Hauptenergiequelle. Neben der Umweltbelastung wird die unterschiedliche Ausstiegsgeschwindigkeit zum Problem werden. Produzenten in den Ländern, die am schnellsten klimaneutral werden, könnten durch höhere Investitions- und Energiekosten einen erheblichen Wettbewerbsnachteil erleiden. Mögliche Lösungskonzepte wie zum Beispiel die Carbon Border Tax an den europäischen Außengrenzen sind aber hochkompliziert, denn unsere außereuropäischen Handelspartner, die sich vielleicht auf einem langsam­eren Transformationspfad bewegen, werden das kaum widerspruchslos hinnehmen. Man muss also einen großen internationalen Konsens finden. Das ist keine einfache Aufgabe für die Politik. Aber auch hier könnten CCS-Technologien hilfreich sein. Sie bieten den Exporteuren und Nutzern von fossilen Brennstoffen eine klima­schonende Transformationsmöglichkeit. Ein denkbares Modell wäre zum Beispiel, dass die Exporteure fossiler Energien das aufgefangene CO2 zurücknehmen und in ihren Gas- und Ölfeldern speichern. Erste Überlegungen gibt es dazu bereits in Norwegen, Russland oder Saudi-Arabien.

CT: Dennoch: Wie viel Chance steckt für den Anlagenbau im Thema Nachhaltigkeit?

Nowicki: Ich bin sehr optimistisch für unsere Branche, denn den Nachhaltigkeitsbestrebungen der Gesellschaft und den politischen Regulierungen in Europa und dem Rest der Welt kann sich keiner entziehen. Die Umstellung wird hohe Investitionen erfordern, doch in den meisten Ländern sind die Regierungen bereit, solche Projekte mit Subventionen erheblich zu unterstützen. Wir sehen an vielen Stellen sehr dynamische Aktivität. Im Moment sind das vor allem noch Machbarkeits­studien. Ammoniak auf Basis von grünem oder blauen Wasserstoff erscheint aus vielen Gründen sehr attraktiv. Aber auch die Produktion von grünem oder blauen Wasserstoff mit anschließender Verflüssigung für den Export wird intensiv untersucht. Ein weiteres Beispiel ist die Umstellung der Beheizung von Prozessanlagen von Erdgas auf Wasserstoff oder Strom. Interessant ist auch die Biokraftstoffproduktion aus genutztem Pflanzenöl unter Abscheidung von CO2. Und wir prüfen ständig, wie der CO2-Abdruck bestehender Anlagen verkleinert werden kann, zum Beispiel durch CO2-Abscheidung oder Verbesserung der Energieeffizienz.

Linde
Mit eigenen Technologien und Anlagen zur Verflüssigung von Wasserstoff ist Linde gut für den Wasserstoff-Boom gerüstet.

CT: Zum Kerngeschäft von Linde gehört allerdings auch der Bau von Olefinanlagen.

Nowicki: Die Bedeutung von Rohstoffkreisläufen und Recycling wird noch zunehmen, aber nach den meisten Prognosen wird der Bedarf an Kunststoffen trotzdem weiter steigen. Auch in diesem Segment bewegen sich die Betreiber weg von der Verbrennung von Öl und Gas und hin zur Nutzung von grünem Strom oder nachhaltigem Wasserstoff. Diese Technologien entwickeln wir sehr intensiv. Ein Beispiel wäre die Umstellung der Beheizung von Ethylen-Spaltöfen von Gas auf Strom. Auch das macht natürlich erst dann Sinn, wenn ausreichend nachhaltige Energie verfügbar ist.

CT: Eine nachhaltige Industrie braucht zunächst einmal jede Menge nachhaltig erzeugten Strom. Wie realistisch ist das, dass wir so viele Wind- und Solaranlagen in Deutschland und Europa bauen?

Nowicki: Dafür fehlt nach meiner Einschätzung weithin die gesellschaftliche Akzeptanz, zumindest in Deutschland. Denn man müsste die Anzahl von Windkraft- und Solaranlagen um ein Vielfaches erhöhen, um den Industriestandort Deutschland unabhängig zu machen. Wir werden auch weiterhin von Energieimporten abhängig sein. Aber andere Länder in Europa und Nordafrika haben hervorragende Voraussetzungen, große Kapazitäten an erneuerbaren Energien aufzubauen und zu exportieren und so vielleicht ganz neue Industriestandorte zu etablieren.

CT: Auf welches Szenario stellen Sie sich bei Linde ein?

Nowicki: Ich bin davon überzeugt, dass die Wirtschaft langfristig auf nachhaltig erzeugter Energie basieren wird. Für eine Übergangszeit wird aber CCS eine große Rolle spielen. Einerseits zur Herstellung von blauem Wasserstoff und andererseits zur Dekarbonisierung von bestehenden Anlagen. Damit lässt sich am schnellsten ein starker positiver Effekt für das Klima erreichen. Neubauprojekte werden zunehmend auf Basis von nachhaltig erzeugter Energie entwickelt werden mit starkem Fokus auf Energieeffizienz. Die technologische Transformation nimmt gerade richtig Fahrt auf. Wie lange der Prozess dauern wird, hängt vor allem am politischen Willen.

Keynote zum Engineering Summit

Engineering Summit

Wie sich der Anlagenbau auf die Dekarbonisierung der Industrie einstellt, wird auch Schwerpunkt des kommenden Engineering Summit sein, der vom 1. bis 2. Dezember 2021 in Darmstadt stattfinden wird. Jürgen Nowicki wird dazu die Keynote zum Thema „Nachhaltigkeit und Klimaneutralität als Herausforderung und Chance für den Industrieanlagenbau“ halten. Der Kongress richtet sich an Führungskräfte des europäischen Anlagenbaus und adressiert die aktuell drängenden Themen des mittelständischen und des Großanlagenbaus. Infos unter www.engineering-summit.de

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