Was bedeutet die ISO 14068-1 für Anlagenbetreiber?
Die internationale Norm ISO 14068-1 verschärft die Anforderungen für Unternehmen, die ihre Treibhausgasemissionen neutralisieren wollen. Das stellt besonders die Chemie- und Verfahrenstechnik vor Herausforderungen in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie.
Dr.-Ing. Gabriela Espinosa, Sustainability Services Product Manager, TÜV SÜD Energietechnik Baden-WürttembergDr.-Ing. Gabriela Espinosa, Sustainability Services Product Manager, TÜV SÜD EnergietechnikBaden-Württemberg
Um wirklich treibhausgasneutral zu werden, muss die Pharmazie- und Chemiebranche ihre gesamte Wertschöpfungskette betrachten und langfristig planen. Prüforganisationen unterstützen dabei.(Bild: Shutterstock)
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Die ISO 14068-1 schafft einen einheitlichen Rahmen, der Unternehmen zu echter Treibhausgasneutralität führen kann.
Die Richtlinie setzt voraus, dass Betreiber sich zur „Reduzierung vor Kompensierung“ verpflichten.
Für Entscheider in Chemie, Verfahrenstechnik und Anlagenbau bietet die Norm eine wichtige Orientierungshilfe, um zukunftssichere, regulatorisch konforme und glaubhafte Nachhaltigkeitsstrategien zu etablieren.
Viele Branchen stehen vor einem Dilemma: Eine 2024 veröffentlichte Untersuchung des NewClimate Institute und Carbon Market Watch belegt eine erhebliche Lücke zwischen Unternehmensambitionen und den Reduktionszielen aus dem Pariser Klimaabkommen. So werden die untersuchten Unternehmen ihre Emissionen bis 2030 durchschnittlich nur um 30 % reduzieren. Um die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, wäre allerdings eine Reduzierung um mindestens 43 % nötig.
Erst reduzieren, dann kompensieren
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Die ISO 14068-1 hält an dem Prinzip „Reduktion vor Kompensation“ der ISO 14060-Reihe fest, setzt aber neue Impulse. Bislang war es für Unternehmen möglich, ihre Treibhausgasbilanz durch den Zukauf von CO₂-Zertifikaten auszugleichen. Die neue Norm schließt dieses Schlupfloch: Nur wer Emissionen nachweislich reduziert und unverminderte Emissionen eindeutig und normkonform quantifiziert, darf diese kompensieren. Zwar behalten CO₂-Zertifikate ihre Berechtigung, aber nur, wenn sie als ergänzende Maßnahme unverminderte – dies beinhaltet auch unvermeidbare – Emissionen kompensieren. Die Norm gibt dafür klare Kriterien vor: Die Offsetting-Maßnahmen müssen real, messbar, dauerhaft und zertifiziert sein – und höchstens fünf Jahre vor dem betreffenden THG-Neutralitätsberichterstattungsjahr entstanden sein. Nur dann sind sie Teil einer glaubwürdigen Klimastrategie.
Im Zentrum der Norm steht der „Carbon Neutrality Management Plan“ (CNMP). Unternehmen müssen darin ambitionierte Ziele formulieren, wie sie ihre Emissionen kurz- und langfristig reduzieren wollen, und wissenschaftsbasierte Methoden zur Bewertung von Restemissionen anwenden. Darüber hinaus müssen sie organisatorische und operationale Berichtsgrenzen festlegen und alle Fortschritte regelmäßig dokumentieren, verifizieren und transparent kommunizieren.
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Treibhausgase konsistent entlang der komplexen Lieferketten zu quantifizieren ist eine große Herausforderung für Unternehmen der Chemiebranche. So verursachen beispielsweise fossile Rohstoffe wie Naphtha (aus Erdöl), Erdgas und Ammoniak erhebliche Treibhausgasemissionen, weil für ihre Förderung oder Nutzung energieintensive Prozesse nötig sind, die zum Beispiel Methan freisetzen und schwer zu dekarbonisieren sind (Beispiel Ammoniaksynthese oder mehrstufige Syntheseprozesse). Zudem müssen solche Rohstoffe meist aus entfernten Ländern wie den USA und Saudi-Arabien importiert werden. Hinzu kommt, dass in der Pharmaindustrie häufig Feinchemikalien und Wirkstoffe aus petrochemischen Vorprodukten oder biotechnologischen Verfahren eingesetzt werden, mit zusätzlichen Emissionen durch komplexe Synthesen und globale Lieferketten.
Demgegenüber stehen biobasierte Materialien wie Zucker, Pflanzenöle oder Cellulose – meist aus europäischer Landwirtschaft – sowie anorganische Stoffe wie Chlor und Schwefelsäure – oft aus heimischer Produktion – mit vergleichsweise geringen Emissionen, abhängig vom Strommix und der landwirtschaftlichen Herkunft.
Stärkere Gewichtung der gesamten Wertschöpfungskette
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Ein wirksamer CNMP sollte die gesamte Wertschöpfungskette und den Lebenszyklus der Produkte einbeziehen, um eine konsistente, transparente und glaubwürdige Klimastrategie zu ermöglichen. Das greift die ISO 14068-1 auf: Emissionen sind vollständig zu bilanzieren, inklusive aller sieben Treibhausgase nach dem neuesten Sachstandsbericht des IPCC (CO₂, CH₄, N₂O, HFKW, PFKW, SF₆, NF₃) – entlang der gesamten Wertschöpfungskette. So fallen nicht nur Emissionen aus eigenen Prozessen ins Gewicht (Scope 1), sondern auch solche aus zugekaufter Energie (Scope 2) und vor- bzw. nachgelagerten Lieferketten (Scope 3). Zum Beispiel fließen für die Wärmeerzeugung in Chemieanlagen nun nicht mehr nur die freigesetzten Treibhausgase in die Bilanz ein, sondern auch jene aus der Herstellung und dem Transport der Brennstoffe.
Neue Transparenzpflichten
Die ISO 14068-1 verlangt Klarheit: Unternehmen müssen offenlegen, welche Emissionen in ihre Klimaziele einfließen und welche Maßnahmen sie zur Reduktion tatsächlich ergreifen. Unpräzise formulierte oder rein kompensatorische Zielsetzungen gelten nicht als ambitioniert und werden daher künftig nicht ausreichen – ein Prinzip, das auch im Einklang mit den Vorgaben des EU Green Deal ist. Zudem folgt die ISO 14068-1 den geplanten Anforderungen der EU an „Green Claims“: Nur wer belastbare, wissenschaftlich fundierte Strategien verfolgt, und diese eine Prüfung durch unabhängige Dritte erfolgreich bestanden haben, kann sich glaubhaft als THG-neutral positionieren.
Darüber hinaus betont die neue Norm auch die Verantwortung des Top-Managements, THG-Neutralität strategisch zu verankern und glaubwürdig umzusetzen. Als Grundlage für Glaubwürdigkeit und langfristige Wirksamkeit sollen Ressourcen bereitgestellt und die Integration in strategische und operative Prozesse sichergestellt werden.
Zur Umsetzung der ISO 14068-1 müssen Unternehmen eine Vielzahl an Maßnahmen prüfen und einleiten: Dazu zählen Effizienzsteigerungen im Energie- und Ressourceneinsatz, Beschaffung kohlenstoffarmer Materialien, Abfallvermeidung sowie der Einsatz von CCS (Carbon Capture and Storage = Kohlenstoff-Abscheidung und -Speicherung) sowie CCU (Carbon Capture and Utilization = Kohlenstoff-Abscheidung, Transport und anschließende Nutzung).
Auch strategisch und organisatorisch ist ein Umdenken erforderlich, um die THG-Bilanz deutlich zu verbessern, zum Beispiel indem logistische Prozesse optimiert, verbindliche Nachhaltigkeitskriterien bei der Auswahl von Lieferanten eingeführt sowie neue Produkte mit verbessertem Carbon Footprint und erleichtertem Rückbau am Ende ihres Lebenszyklus entwickelt werden – insbesondere unter Berücksichtigung des zugrundeliegenden Strommixes und der Herkunft der eingesetzten Rohmaterialien. Lieferanten-Audits dienen hier nicht als Kontrollinstrument, sondern zur Förderung von Transparenz und Zusammenarbeit entlang der Wertschöpfungskette. Eine enge Kollaboration mit Partnern fördert ein besseres Verständnis über die Emissionsquellen sowie über gemeinsame Synergien und hilft dabei, konsistente Ansätze zur Emissionsquantifizierung einzuführen. Um Aufwand und Kosten zu minimieren, wäre ein kollaborativer Vertragsansatz denkbar, bei dem alle Beteiligten entlang der Wertschöpfungskette Verantwortung für ihre direkten Emissionen übernehmen und zudem anteilig die Emissionen aus vorgelagerten Rohmaterialien kompensieren – ein Modell mit Zukunftspotenzial. Voraussetzung dafür wäre eine glaubhafte, jährlich dokumentierte und verifizierte Berichterstattung, die Transparenz schafft und konsistente Quantifizierungsansätze ermöglicht.
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TÜV SÜD unterstützt Chemieunternehmen bei der Umstellung auf klimafreundliche Systeme, übernimmt das Projektmanagement und begleitet die Anpassung der Infrastruktur.(Bild: Shutterstock)
Professionelle Begleitung empfehlenswert
Die strukturellen Veränderungen erfordern umfassende Expertise. Sachverständige können bei der Umstellung auf klimafreundliche Systeme unterstützen, das Projektmanagement übernehmen und die nötige Infrastrukturanpassung begleiten. Auch das Fachwissen akkreditierter THG-Verifizierungsstellen wie TÜV SÜD ist gefragt, denn die Verifizierung treibhausgasbezogener Informationen umfasst verschiedene Bereiche:
Corporate Carbon Footprint (CCF) für das Unternehmen,
Product Carbon Footprint (PCF) für einzelne Produkte,