Chemieanlage und Stoppuhr

(Bild: JT Jeeraphung / BillionPhotos – AdobeStock; Portrait Accenture)

Tobias Gehlhaar

Tobias Gehlhaar leitet als Geschäftsführer den Bereich Chemie, Grundstoffe und Versorgungswirtschaft bei Accenture in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sein Beratungsschwerpunkt liegt dabei auf der Digitalisierung und den damit einhergehenden neuen Fähigkeiten und Geschäftsmodellen, insbesondere in der Energiewirtschaft.
Gehlhaar ist Diplom-Informatiker und seit dem Jahr 2000 für das Unternehmen tätig.

CT: Sie sind bei Accenture neu für die Chemieindustrie zuständig. Was fasziniert Sie an dieser Branche?
Tobias Gehlhaar: Ich bin jetzt seit 22 Jahren bei Accenture, dort hat mich lange Zeit die Informations- und Elektrotechnik umgetrieben – ich habe in diesem Bereich viele Jahre die großen Energieversorger begleitet. Von dort bin ich vor einigen Jahren auch zur Chemieindustrie gekommen, da beide bei uns zum Bereich Grundstoffindustrien gehören. Was diese Branchen gemeinsam haben, ist, dass sie zu den großen Leitindustrien in Deutschland gehören. Da geht es wirklich um Schwerindustrie und dementsprechend sind auch die Herausforderungen ähnlich. Das Spannende für mich ist hier besonders, wie sich die Unternehmen aus diesem Bereich nun verstärkt Themen wie Digitalisierung und KI nähern und neue Technologien adaptieren.

CT: Die Branchen Energie und Chemie werden auch immer mehr zu „Konkurrenten“ – etwa im Bereich Wasserstoff. Wie sehen Sie dieses Spannungsfeld?
Tobias Gehlhaar: Im Produktionsbereich ist aus meiner Sicht das Feld komplett offen. Ich glaube beispielsweise nicht, dass ein Unternehmen, das traditionell Kohlekraftwerke betrieben hat, einen schnelleren Zugang hat als ein Unternehmen im Chemieumfeld. Alles was mit Netzen zu tun hat, ist ohnehin schon lange davon getrennt. Ich persönlich glaube, dass wir beim Thema Brennstoffbeschaffung und Energieeffizienz in Zukunft vielmehr Kooperationen zwischen beiden Bereichen sehen werden. Da sind sehr unterschiedliche Fähigkeiten gefragt. Ein Hemmschuh ist hier allerdings, dass gerade deutsche Industrieunternehmen sehr zurückhaltend sind, was Partnerschaften auf Augenhöhe angeht. Die Überlegung, dass man alleine die Wertschöpfung bestimmen muss, ist teilweise sehr tief in den Unternehmenskulturen verankert.

CT: Partnerschaften sind auch Thema in der aktuellen Accenture-Studie zu Innovation in der Chemieindustrie. Wo sehen Sie die wichtigsten Wachstumstreiber?
Tobias Gehlhaar: Ein Wachstumsmarkt wird aus unserer Sicht die Energieeffizienz sein – hier geht es um alles, was mit Beschichtungen und Isolierungen zu tun hat. Ein weiteres großes Thema sind mit Sicherheit recyclebare, trennbare Materialien, die leicht zu nutzen sind. Wir haben jedoch festgestellt, dass das Thema Nachhaltigkeit bei vielen Chemieunternehmen noch nicht ganz im Herzen des Geschäfts angekommen ist und dort (noch) zu wenig investiert wird. Die Frage ist: Haben die Unternehmen das Thema noch nicht ganz für sich erschlossen oder aber trauen sie einfach der Geschwindigkeit bzw. dem Trend nicht. Das ist ja in gewisser Hinsicht auch eine Richtungsfrage. Aber es ist schon auffällig, dass wir hier nicht deutlich mehr entweder an eigener Forschung und Entwicklung oder an Investitionen in Partnerschaften sehen. Da gibt es keinen klaren Anstieg im Vergleich zu den letzten Jahren.

CT: Was bedeutet das für die Zukunft der Chemiebranche?
Tobias Gehlhaar: Es gibt in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte durchaus Beispiele, die uns zeigen, wo die Reise hingehen könnte: In der Finanzbranche etwa haben wir gesehen, dass einige Innovationen in diesem Bereich nicht bei den großen Playern, sondern bei kleinen Startups, den sogenannten Fintechs, stattgefunden haben. Hier haben Großbanken gerade im Privatkundenbereich auch an Boden oder an Wirtschaftlichkeit verloren. In anderen Bereichen sind führende Player, die sich nicht rechtzeitig angepasst haben, später sogar ganz verschwunden. So eine Entwicklung ist auch in der Chemie möglich, gerade vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Verwerfungen im Energiebereich. Die Vorstellung, dass Assets ein Unternehmen langfristig schützen, ist falsch. Sobald sich Innovationen durchsetzen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Innovatoren schaffen es nicht, selbst zu skalieren, dann schwappen die Innovationen zu etablierten Unternehmen hinüber und diese können sie nutzen beziehungsweise vermarkten. Oder aber, es erwachsen neue Player – wie beispielsweise in der Telekommunikation und Technologie – die den großen Playern dann einen substanziellen Teil ihrer Margen „stehlen“. Daher ist es aus meiner Sicht ein Risiko, zurückhaltend in Innovationen zu investieren. Vielleicht zahlt sich das Abwarten auf lange Sicht aus, da ist dann aber viel Glück dabei.

CT: Sie sehen hier bei den Chemieunternehmen also noch Defizite?
Tobias Gehlhaar: In unserer Studie haben wir verschiedene Merkmale untersucht, die darauf hinweisen, ob sich die Unternehmen im Kern wandeln. Dazu gehören Investitionen in die eigene Forschung, Patentanmeldungen – auch im Vergleich zu Start-ups – und wie erwähnt auch das Thema Partnerschaften. Eigentlich hätten wir hier schon in den letzten Jahren – etwa bei Themen wie der künstlichen Intelligenz – eine stufenartige Entwicklung erwartet. Dass Chemieunternehmen Innovationen schaffen, wie sie ihr Geschäft betreiben oder welche Produkte sie auf den Markt bringen. Genau diese Entwicklung haben wir laut der Studie nicht gesehen. Erst die Zeit wird zeigen, ob sich diese Zurückhaltung langfristig auszahlen wird oder nicht.

CT: Sehen Sie hier international Unterschiede?
Tobias Gehlhaar: Neben der erwähnten Zurückhaltung bei Partnerschaften sind auch Entscheidungen unter Risiko etwas, das mitteleuropäischen Unternehmen kulturell schwerer fällt. Tesla beispielsweise wartet beim Bau einer neuen Anlage nicht erst ab, bis auch wirklich alle Genehmigungen da sind. Man legt lieber schon mal los und plant dann im Zweifel um. Die Entscheidungen und Umsetzungen von hiesigen Unternehmen sind vielleicht ausgewogener, aber eines sind sie meist nicht: schnell. Und allein schon durch neue Verordnungen und Regeln, die beispielsweise im Bereich Energiewende in den nächsten Jahren kommen werden, wird Geschwindigkeit und Bereitschaft zum Wandel zum Wettbewerbsvorteil werden. Wenn es dann bald nicht mehr vor allem um Produktionskapazitäten und Qualität geht – alles Dinge, in denen die deutsche Industrie stark ist –, dann wird das zum Problem. Da können wir uns noch viel aus anderen Weltregionen abschauen.

 

CT: Wie können sich Chemieunternehmen richtig aufstellen?
Tobias Gehlhaar: Am Ende geht es um die Frage: Wie schnell ist ein Unternehmen in der Lage, von einer Idee zur Umsetzung zu kommen. Dabei ist es egal, um was für eine Art von Innovationsidee oder -projekt es geht. Hier sollte man sich selbstkritisch mit der Frage auseinandersetzen: Wo stehen wir da? Dabei geht es dann um verschiedene Freigabestufen, Hierarchien im Unternehmen und so weiter. Eine ehrliche Bestandsaufnahme ist hier eine sehr hilfreiche Maßnahme. Denn wir sind uns sicher: Geschwindigkeit wird immer wichtiger. Und außerdem ist da noch das Thema Risiko. Wenn Unternehmen nur in ihren eigenen Produktlinien denken und diese inkrementell weiterentwickeln, wird dabei nicht die nächste Disruption entstehen, die den Markt komplett umkrempelt. Ich glaube, dass es für Unternehmen in der aktuellen Phase des Umbruchs notwendig ist, die ein oder andere „Wette“ auf die Zukunft zu setzen. Das heißt Investitionen in einem Bereich zu tätigen, für die aktuell noch gar kein Markt da ist – das nennt man dann market making. Es geht darum, sich zu fragen „Was werden die nachgefragten Produkte der Zukunft sein?“ und genau dort auch stärker als bisher ins Risiko zu gehen.●

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