
Jürgen Vormann (links) und Prof. Dr. Hannes Utikal (rechts) bei der Digitalkonferenz der Vereinigung Chemie und Wirtschaft. (Bild: Infraserv Höchst)
Einen derart direkten Draht nach Brüssel wünscht man sich in der deutschen Chemieindustrie als Standleitung, denn nicht immer finden Unternehmen so schnell Gehör im Europäischen Parlament wie bei der Digitalkonferenz der Vereinigung Chemie und Wirtschaft (VCW) der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh). Unter anderem war Jutta Paulus zugeschaltet, die für die Grünen dem Umweltausschuss des Europaparlaments angehört und die virtuelle Podiumsdiskussion zwischenzeitlich kurz verlassen musste, um an einer Abstimmung teilzunehmen. Der Meinungsaustausch zwischen Politik, Unternehmen und Verbände war einer der vielen interessanten Agenda-Punkte bei der Veranstaltung, die vom Zentrum für Industrie und Nachhaltigkeit der Provadis Hochschule konzipiert und Infraserv Höchst, Standortbetreibergesellschaft des Industrieparks Höchst, unterstützt wurde. „Die CO2-neutrale Chemieindustrie 2050: Den Transformationspfad proaktiv gestalten“ lautete das Motto der Veranstaltung, die zahlreiche Referate, Workshops und Möglichkeiten zum virtuellen Austausch bot.
Jürgen Vormann: Wettbewerbsfähigkeit der Chemiebranche im Fokus
Den direkten Draht nach Brüssel nutzte Jürgen Vormann, Vorsitzender der Geschäftsführung von Infraserv Höchst, für ein klares Statement aus Sicht der Chemie-Unternehmen. „Wir unterstützen die klimapolitischen Ziele der Bundesregierung und engagieren uns schon seit Jahren sehr intensiv dafür, die Treibhausgas-Emissionen weiter zu reduzieren“, so Vormann. „Doch es ist wichtig, bei der gesellschaftlichen Debatte und den politischen Entscheidungen neben den ökologischen Aspekten auch die ökonomischen und sozialen Belange angemessen zu berücksichtigen.“ Die Politik müsse sich auf den unterschiedlichen Ebenen der Folgen bewusst sein, die gesetzliche Vorgaben in der Praxis haben. „Die politischen Entscheidungsträger dürfen bei den Klimaschutz-Bestrebungen die Wettbewerbsfähigkeit der Chemiebranche, der als Innovationstreiber bei der Lösung zentraler Zukunftsfragen eine wichtige Rolle zukommt, nicht aus den Augen verlieren.“ Ein Appell, den Jutta Paulus zumindest dahingehend zustimmte, dass „ein gemeinsamer Rahmen“ für gesetzgeberische Initiativen wichtig sei. Gleichzeitig ließ die Europaparlamentarierin aber auch durchblicken, dass der „European Green Deal“ für die Chemieindustrie noch einige Herausforderungen mit sich bringen werde. Unterstützung erhielt Jürgen Vormann von Carola Dittmann von der Stiftung Arbeit und Umwelt der Chemie-Gewerkschaft IG BCE, die sich auch für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs aussprach, und Dr. Stefan Ruppert, Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor von B. Braun Melsungen. Der hessische FDP-Landesvorsitzende und ehemalige Bundestagsabgeordnete konnte den Austausch zwischen Industrie und Politik aus beiden Perspektiven beleuchten. Für den Verband der Chemischen Industrie (VCI) nahm Dr. Jörg Rothermel, Abteilungsleiter für Energie und Klimaschutz, an der virtuellen Podiumsdiskussion teil. Der Verband organisiert bereits verschiedene Austauschformate und setzt sich für einen konstruktiven Dialog zwischen Wirtschaft und Politik ein.
VCI: „Treibhausgasneutralität ist machbar“
Rothermel hatte die Videokonferenz mit seinem Vortrag zu „Chemistry4Clmate: der Weg in eine treibhausneutrale Chemieproduktion“ eröffnet. „Treibhausgasneutralität ist machbar“, sagte der VCI-Vertreter, der darauf verweisen konnte, dass die chemische Industrie in Deutschland die Treibhausgas-Emissionen im Vergleich zum Jahr 1990 bereits um 50 Prozent reduzieren konnte, obwohl die Produktionsmengen im gleichen Zeitraum um 70 Prozent gestiegen sind. Für eine CO2-neutrale Chemieproduktion müssten allerdings enorme Mengen an „grünem“ Strom sowie Wasserstoff verfügbar sein, zu wettbewerbsfähigen Konditionen. Hier fehlen bislang Infrastruktur und Produktionskapazitäten, notwendige Technologien stehen zum Teil heute noch nicht zur Verfügung. „Auf dem Weg zur CO2-neutralen Chemieproduktion müssen wir noch einige technische und ökonomische, aber auch politische Herausforderungen bewältigen“, so Rothermel.
Neue Geschäftschancen für Unternehmen
An diese These konnte Prof. Dr. Stefan Lechtenböhmer, Abteilungsleiter zukünftige Energie- und Industriesysteme des Wuppertal Instituts, bei seiner Key Note zum Thema „Herausforderungen der Klimaneutralität für die Chemische Industrie“ direkt anknüpfen. Aus seiner Sicht ist ein grundlegender Umbau der Chemieindustrie erforderlich, woraus sich für viele Unternehmen auch neue Geschäftschancen ergeben.
„Unternehmen benötigen eine individuelle Transformationsagenda“
„Auch Unternehmen müssen individuell prüfen, wie sie bis zum Jahr 2050 CO2-neutral werden können. Das ist vielfach eine technische und ökonomische Herkulesaufgabe Verfügbare Technologien und Produktionsprozesse sind ebenso zu beleuchten wie auch die neue Geschäftsmodelle“, so Prof. Utikal, Leiter des Zentrums für Industrie und Nachhaltigkeit der Provadis Hochschule und Moderator der Digitalkonferenz. Entscheidend sei, dass die Unternehmen diese Aufgabe im engen Austausch mit Wissenschaft sowie Gesellschaft und Politik angingen, da sie nur im Schulterschluss die gewaltige Umstellung erreichen könnten.
Nach den Key Notes konnten die Teilnehmer aus vier praxisnahmen Unternehmensvorträgen auswählen. Prof. Thomas Bayer, Infraserv Höchst, beschrieb für die Industriepark-Betreibergesellschaft den Infraserv-Transformationspfad zur CO2-Neutralität. Tara Nitz, Global Positioning and Advocacy Circular Economy Covestro, Dr. Heiko Thielking, Head of Corporate Strategy Lanxess und Dr. Marco Bosch, Head of Carbon Management and Upstream Technologies BASF, stellten ihre Aktivitäten zu diesem Thema vor.
Viele Themen und Auswahlmöglichkeiten für die Konferenz-Teilnehmer
Auch beim „Markt der Möglichkeiten“, der in insgesamt 15 Impulsvorträgen mit anschließenden Diskussionen das Innovationspotenzial sowie die Optionen für die Gestaltung des Transformationspfades aufzeigte, konnten sich die Teilnehmer für die Themen ihrer Wahl entscheiden. Neben der inhaltlichen Vielfalt war die Digitalkonferenz vor allem durch die Möglichkeit, sich aus den vielen Vorträgen und Workshops ein individuelles Programm zusammenzustellen, besonders attraktiv.
Der Frage „Wie tickt Deutschland?“, widmete sich Frank Quiring, Mitglied der Geschäftsführung des Rheingold Instituts, am Nachmittag. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf gesellschaftliche Entwicklungen und den Umbau der Chemieindustrie standen im Mittelpunkt seines Vortrags. Nach der Diskussionsrunde mit Teilnehmern in Brüssel, Berlin, Frankfurt und Melsungen endete die Digitalkonferenz mit drei Workshops zur Rolle der Finanzwirtschaft bei der Transformation, klimakompatiblen Unternehmensstrategien und Implikationen einer CO2-neutralen chemischen Industrie für die Hochschullehre.
Szenarien für die Chemieindustrie 2040

Klimavorreiter oder weltweite Nebenrolle? Die folgenden vier Szenarien sind sehr unterschiedlich. (Bild: Kobes – Fotolia)

Szenario 1, Speerspitze in eine grüne Zukunft: Im ersten Szenario übernimmt die Chemieindustrie eine tragende Rolle in einer nachhaltigen, kollaborativen Welt. Die Märkte sind offen und die Kunden verlangen immer mehr Produkte, die dem Umweltgedanken gerecht werden. Deshalb wird auch die Chemieindustrie Teil eines großen, orchestrierten und branchenübergreifenden Verbunds. Die europäischen Player schaffen es, Wertschöpfung in einer Kreislaufwirtschaft zu erzielen, und investieren massiv in Innovationen. Zudem entsteht sukzessive ein Netzwerk von Partnerschaften aller Branchenplayer entlang der Wertschöpfungskette. Auch werden Start-ups gegründet, die vermehrt auf digitale Potenziale setzen. Allerdings agieren die Unternehmen unter vergleichsweise strengen Umweltauflagen – die sich aber weltweit angleichen. (Bild: lassedesignen – AdobeStock)

Szenario 2, Anpassung an repressive Rahmenbedingungen: Im zweiten Szenario steht die europäische Chemiebranche kollektiv unter Regulierungsdruck und öffentlicher Beobachtung – anders als in China und den USA. Die Unternehmen müssen sich verändern und Kosten sparen. Die Produktion regionalisiert sich, größere Investitionen rentieren sich kaum. Intelligente neue Ansätze sorgen dennoch für ein Überleben der Firmen. Da es kaum noch Produktinnovationen gibt, spielen die einzelnen Unternehmen international keine große Rolle mehr. Es besteht die Gefahr einer ungewollten und radikalen Konsolidierung, die durch eine entsprechende EU-Stelle kaum aufgehalten werden kann. (Bild: bilderbox – Fotolia)

Szenario 3, Flucht in den Protektionismus: Die dritte mögliche Entwicklung führt zu einem Szenario mit starkem Euro-Protektionismus, wenig Innovationskraft und einem gesellschaftlichen Rückschritt hinsichtlich Nachhaltigkeit. Die realisierbaren Margen sind inzwischen teilweise auch von der Politik abhängig. Die Bedeutung des Exports und die Wettbewerbsfähigkeit schrumpfen und es kommt ebenfalls zu einer Konsolidierung. Die verbleibenden Akteure können jedoch – zumindest für eine gewisse Zeit – ein recht geruhsames Leben führen und die Branche auf niedrigem Niveau „verwalten“. (Bild: Martina Berg – Fotolia)

Szenario 4, Wertschöpfung in der Kreislaufwirtschaft: Im vierten und letzten Szenario gelingt die profitable Wertschöpfung in der Kreislaufwirtschaft. Die Öffentlichkeit ist in Umweltfragen hoch sensibilisiert, was zu gezielten Innovationen und Kollaborationen in der Branche führt. Es herrschen ein Klima des Verbrauchervertrauens und die Bereitschaft, auch höhere Preise zu bezahlen. Jedoch bleiben Strukturen und Assets der Unternehmen weitgehend unverändert, was eine allgemeine Innovationswelle eher ausbremst als befeuert. Insgesamt sind Umwelt und Industrie eine enge Verbindung eingegangen, die Unternehmen zunehmend dazu bringt, ihre Profitabilität im Rahmen einer umfassenden Kreislaufwirtschaft zu sichern und managen. (Bild: RFsole – Fotolia)
Dialog von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fördern
Am Ende gab es viel Lob von den Teilnehmern für die Organisatoren der Veranstaltung: Prof. Dr. Hannes Utikal, Leiter des Zentrums für Industrie und Nachhaltigkeit der Provadis Hochschule, der für das Konzept der Digitalkonferenz verantwortlich war, und Janine Heck, wissenschaftlichere Mitarbeiterin des ZIN und Doktorandin der Wirtschaftschemie an der WWU. „Die wirtschaftlich erfolgreiche Transformation der Chemieindustrie ist eine Herkulesaufgabe, welche die Branche nur in Kooperation mit der öffentlichen Hand und der Wissenschaft erreichen kann“, stellte Prof. Utikal fest. Die Digitalkonferenz habe dazu beigetragen, bei der Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in den Austausch zu bringen. „Dieser Dialog muss fortgesetzt und intensiviert werden“, so Utikal.
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