Der digitale Zwilling wird erwachsen

Asset Administration Shell im Einsatz

Die Verwaltungsschale gilt als Schlüsseltechnologie für digitale Zwillinge und den Digitalen Produktpass. Praxisbeispiele zeigen: Der Standard kommt im Maschinen- und Anlagenbau an – und eröffnet effizienteres Engineering und mehr Transparenz.

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Die Verwaltungsschale (Asset Administration Shell) bildet als digitale Hülle die strukturierte, maschinenlesbare Repräsentation technischer Informationen im digitalen Zwilling – von der einzelnen Pumpe bis zur kompletten Anlage.
Die Verwaltungsschale (Asset Administration Shell) bildet als digitale Hülle die strukturierte, maschinenlesbare Repräsentation technischerInformationen im digitalen Zwilling – von der einzelnen Pumpe bis zur kompletten Anlage.
  • Standardisierung und Regulierung schaffen Rahmen und Notwendigkeit für digitale Zwillinge, erste Großanwender zeigen bereits den Nutzen.
  • Mess- und sichtbare Ergebnisse lassen sich in kurzer Zeit erzielen und zugleich die Grundlagen für den künftig verpflichtenden Digitalen Produktpass legen.
  • Kooperationen entlang der Wertschöpfungs- und Lieferketten vom Komponentenlieferanten bis zum Anlagenbetreiber sind dabei unerlässlich.

Selbst in modernen Anlagen werden Dokumentationen, Prüfzertifikate und Ersatzteillisten häufig noch als PDF- oder Excel-Dateien per E-Mail ausgetauscht. Was in der Übergabe von Hersteller zu Betreiber verloren geht, kostet später Zeit, Geld und Nerven. Die Asset Administration Shell (AAS) – auf Deutsch: Verwaltungsschale – soll genau dieses Problem lösen.

Die AAS ist das digitale Abbild eines physischen oder virtuellen Objekts und bündelt alle relevanten Informationen und Funktionen eines „Assets“, etwa einer Pumpe, eines Sensors oder einer kompletten Anlage, in einer standardisierten, maschinenlesbaren Form. Sie gilt als zentrales Datengerüst für den digitalen Zwilling und als technische Grundlage für den Digitalen Produktpass (DPP), den die EU in den kommenden Jahren schrittweise verpflichtend einführt. Die in der AAS enthaltenen Informationen sind in der Regel über einen am Asset angebrachten QR-Code oder NFC-Chip abrufbar, bei elektronischen Komponenten oft auch direkt im internen Speicher hinterlegt.

Regulierung bringt Tempo

Aktuell bringt die Ecodesign for Sustainable Products Regulation (ESPR) neue Dynamik in diesen Bereich. Diese Rahmenverordnung der EU verlangt künftig für fast alle Produktgruppen einen Digitalen Produktpass, der technische, ökologische und sicherheitsrelevante Informationen maschinenlesbar bereitstellt.

Parallel dazu treiben Organisationen wie Plattform Industrie 4.0, Standardization Council Industrie 4.0 und die DKE die Standardisierung der Verwaltungsschale voran. Auf europäischer Ebene entsteht im CEN/Cenelec Joint Technical Committee 24 das sogenannte „Betriebssystem“ für den Digitalen Produktpass, eine Art technischer Unterbau, der Schnittstellen, Datenmodelle und Sicherheitsmechanismen beschreibt. Die erste Version soll noch in diesem Jahr verabschiedet werden – internationale Partner aus Asien und Nordamerika arbeiten bereits mit.

Wie sich dieser Wandel in der Praxis auswirkt, präsentierten und diskutierten Fachleute aus Industrie und Forschung während der „Digital Twin Days“ im Oktober in Heilbronn. Gastgeber und Organisator der Veranstaltung war das auf explosionsgeschützte Schaltgeräte spezialisierte Unternehmen R. Stahl. Das Vortragsprogramm enthielt zahlreiche Verweise auf aktuelle, erfolgreiche Projekte, die digitale Zwillinge im praktischen Einsatz nutzen.

Beispielsweise nutzt BASF im Rahmen des Digital Data Chain Consortiums bereits strukturierte digitale Handovers. Anlagenkomponenten sind mit einem ID-Link versehen, über den sich Dokumente direkt abrufen lassen. Das erspart die manuelle Suche und schafft Transparenz über Vollständigkeit und Aktualität der Daten. Siemens integriert die AAS in seine Engineering- und PLM-Tools: Über den Data Exchange Service können Ingenieure Informationen aus verschiedenen AAS-Servern durchsuchen und gezielt importieren.

Prozessanalysen zeigen, dass damit Effizienzsteigerungen von bis zu 60 % möglich sind. Aucotec nutzt die Verwaltungsschale in seiner Software Engineering Base, um Produktdaten über den gesamten Lebenszyklus hinweg konsistent zu halten. Das Unternehmen Conplement begleitet Hersteller beim Einstieg: Mit klar abgegrenzten Einsatzfeldern, etwa digitalem Typenschild oder Dokumenten-Handover, lässt sich ein erster AAS-basierter Workflow in wenigen Monaten aufbauen.

Mehrwert im Alltag

Für Anwender bedeutet die Verwaltungsschale weniger Suchaufwand, klarere Zuständigkeiten und höhere Datensicherheit. Informationen bleiben entlang der gesamten Wertschöpfungskette konsistent – vom Komponentenhersteller über den Anlagenbauer bis in den Betrieb. Einheitliche Klassifikationen wie Eclass oder das IEC Common Data Dictionary (IEC CDD) schaffen eine eindeutige Semantik; damit werden technische Merkmale, Zertifikate und Wartungsdaten erstmals vergleichbar und maschinenlesbar.

Auch die europäische Normungsarbeit zielt auf diese Durchgängigkeit: Bestehende Produktnormen werden digitalisiert, damit genormte Inhalte direkt in die Verwaltungsschale übernommen werden können. Auf diese Weise sollen Vertrauen und internationale Anschlussfähigkeit gestärkt werden – ein entscheidender Punkt, wenn Daten künftig nicht mehr zentral, sondern dezentral über Unternehmensgrenzen hinweg geteilt werden sollen.

Pragmatismus für den Anfang

Betreiber und Anbieter müssen nicht sofort mit Großprojekten beginnen. Die Lösungsanbieter empfehlen, zunächst eine oder zwei Produktgruppen zu wählen und sich auf einfache Anwendungsfälle zu konzentrieren – etwa das digitale Typenschild oder die strukturierte Dokumentation nach VDI 2770. In vielen Unternehmen reichen zehn bis 20 Attribute, um ein erstes Submodell einer AAS aufzubauen. Als wichtig gilt jedoch, frühzeitig einen Pilotkunden einzubeziehen, um Rückmeldungen zu Datenumfang, Nutzen und praktischer Anwendbarkeit zu erhalten.

Für die Entwicklung und Umsetzung veranschlagen die Experten aus Projekterfahrungen etwa einen Monat für das Ausarbeiten der Anwendungsfälle und Ermitteln der Datenquellen sowie zwei bis vier Monate für die Umsetzung bis zum produktiven Zwilling. Die eigentliche AAS-Infrastruktur sollte als Standardlösung eines spezialisierten Anbieters genutzt werden. Individuelle Anpassungen lassen sich in der Regel intern einbinden.


Baustein für den Digitalen Produktpass

Der Digitale Produktpass wird künftig ohne AAS-kompatible Datenstrukturen kaum umsetzbar sein. Gleichzeitig profitieren Betreiber und Hersteller schon heute von effizienteren Abläufen, geringeren Fehlerquoten und einer besseren Datenqualität. Die Verwaltungsschale ist damit weit mehr als ein Konzept. Sie ist die technische Grundlage, auf der sich regulatorische und industrielle Anforderungen verbinden. Dabei ist sie längst aus dem Forschungsstadium in die industrielle Praxis übergegangen.

Begriffserklärungen: Was sind AAS, ESPR, DPP und Co.?

Digitaler Zwilling
Digitale Zwillinge sind virtuelle Modelle von Produkten, Anlagen oder Prozessen, die aktuelle Daten aus dem Betrieb mit Planungs- und Konstruktionsinformationen verknüpfen.

Asset Administration Shell (AAS)
Die Verwaltungsschale ist das standardisierte digitale Abbild eines physischen oder virtuellen Objekts und bildet alle relevanten Informationen und Funktionen eines Assets maschinenlesbar ab.

Ecodesign for Sustainable Products Regulation (ESPR)
Diese EU-Rahmenverordnung verpflichtet Hersteller künftig, Produktinformationen in digitaler Form bereitzustellen – unter anderem über den Digitalen Produktpass.

Digitaler Produktpass (DPP)
Der Digitale Produktpass ist eine EU-weit geplante Datenschnittstelle, die technische, ökologische und sicherheitsrelevante Informationen zu einem Produkt über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg bereitstellt.

IDTA – Industrial Digital Twin Association
Die IDTA ist das zentrale Industrie-Konsortium, das die Standards und Submodelle der Verwaltungsschale entwickelt und koordiniert.

Datenraum / Data Space
Ein Data Space ist eine föderierte, sichere Datenumgebung, in der Unternehmen Informationen dezentral austauschen, ohne die Hoheit über ihre Daten zu verlieren.