- Präzise, beispielsweise durch Drohnen generierte Daten sind die Existenzgrundlage eines jeden Digitalen Zwillings.
- Ob Chemie-, Mineralöl- oder Energiekonzerne – Digitale Zwillinge sind fester Bestandteil der Prozessindustrie.
- „Den einen“ Digitalen Zwilling gibt es nicht. Es handelt sich vielmehr um ein adaptives Konzept, das sich stetig weiterentwickelt.
Die enorme Bedeutung von Digitalen Zwillingen für die Chemiebranche lässt sich am Beispiel Nokia veranschaulichen. Zugegeben, auch ich dachte im ersten Moment an Handys. Der finnische Anbieter für Netzwerktechnik und Informationstechnologie präsentierte auf der Achema jedoch keine Mobiltelefone, sondern Digital-Twin-Applikationen. Der Nokia Network Digital Twin soll Netzwerkoperationen in Echtzeit überwachen sowie eine virtuelle Darstellung von Kommunikationsnetzwerken und Betriebsumgebungen ermöglichen.
Laut eigener Aussage kommen Nokias Digital-Twin-Applikationen derzeit bei 47 Unternehmen der Prozessindustrie zum Einsatz. Die namentlich Genannten lesen sich wie das Who is Who der Branche: von Solvay über Chevron bis Petrobras – Digital Twins sind gekommen, um zu bleiben. Ein verfestigter Trend, der vielseitig eingesetzt wird.
So nutzt Solvay eine durch Digital Twins mit Informationen gespeiste Datenanalyseplattform zur Produktionsoptimierung. Cloudverbundene Sensoren laden Echtzeit-Betriebsdaten hoch, wodurch aktuelle Simulationen der laufenden Maschinen erzeugt werden. Dadurch will das Chemieunternehmen beispielsweise seinen Rohstoffverbrauch senken.
Bei Chevron werden Digitale Zwillinge beispielsweise eingesetzt, um potenzielle Engpässe zu identifizieren. Zudem setzt der kalifornische Energiekonzern sie zur Gefahrenprävention ein. „Digitale Zwillinge haben Chevron dabei geholfen, Sicherheitsgefahren zu erkennen, indem gefährliche Szenarien simuliert und Sicherheitsprotokolle getestet werden, ohne die Mitarbeiter zu gefährden“, so Mustafa Kara, Principal Data Scientist and Technical Advisor bei Chevron.
Petrobras erzielt laut eigener Aussage durch Digital Twins jährliche „Rentabilitäts- und Optimierungsgewinne“ von über 200 Mio. US-Dollar. Nun will der brasilianische Mineralölkonzern durch KI-Implementierung den Digitalen Zwillingen ermöglichen, eigenständig Entscheidungen zu treffen. So soll „jede Raffinerie mit maximaler Effizienz“ arbeiten. The Future is now – das berühmte Zitat des CBS-Directors Burton Benjamin – womöglich nie zutreffender als 2024.
Systemunabhängigkeit als Leitlinie
Als Software-Dienstleister für EPCs, Betreiber und Auftragnehmer in der Anlagenindustrie setzt auch das hessische Unternehmen Schuller auf Digitale Zwillinge. Firmengründer und CEO Helmut Schuller betont die Wichtigkeit von Interoperabilität in diesem Bereich. Ihm zufolge ist der Kernaspekt ein Daten- und Dokumentenmanagement, das unterschiedliche Systeme kollaborativ integrieren kann. „Den einen Digitalen Zwilling gibt es nicht. Es gibt und braucht verschiedene Blickwinkel auf das Thema“, erklärt Schuller.
Dieser Ansatz spiegelt sich semantisch auch im Namen der von seinem Unternehmen entwickelten Plattform: Collaboration Suite. Sie soll systemunabhängig Daten aggregieren, konsolidieren und diese für eine effiziente Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung visualisieren. Grundlage für diesen Dreiklang sind Schuller zufolge aktuelle Daten und der Zugriff auf die Historie des Gebäudes. Durch den direkten Abruf aktueller Daten aus Softwaresystemen oder Datensilos sollen Informationen umgehend generiert werden. Dies soll Arbeitsabläufe und die Kommunikation signifikant beschleunigen. Ziel ist eine virtuelle Echtzeit-Darstellung einer geplanten oder laufenden Anlage, innerhalb derer man sich frei bewegen und kommunizieren kann.
Typenschild trifft auf Plattform
Stahl, ein baden-württembergischer Anbieter von Produkten und Dienstleistungen für den Explosionsschutz, kombiniert eine Digital-Twin-Plattform mit digitalen Typenschildern für die Prozessindustrie. Was hat es damit auf sich?
Mit der Plattform will das Unternehmen die Prozesse entlang des Lebenszyklus einer Anlage optimieren. Von der Planung, der Inbetriebnahme über den laufenden Betrieb bis zur Außerbetriebnahme sollen damit alle relevanten Daten direkt und interoperabel zur Verfügung stehen. Stahl zufolge erleichtert dies sowohl die Wartung als auch die Fehlerbehebung und senkt die Planungskosten. Zudem sollen der Aufwand zur Datenpflege und Ausfallzeiten minimiert sowie Umweltbelastungen reduziert werden – zentrale Aspekte im Kontext von Industrie 4.0
Als Weiterentwicklung des herkömmlichen Typenschilds verlinkt das digitale Typenschild auf die erforderlichen Informationen und Kennzeichnungen für den Vertrieb, Transport und sicheren Einsatz von Produkten in digitaler Form. Die Norm IEC 61406 definiert das digitale Typenschild als QR-, 2D-Data-Matrix-Code oder RFID-Tag, der ein Asset (Komponente oder Anlage) eindeutig mittels einer URL identifiziert. Folglich können die Informationen jederzeit online abgerufen werden. Dies hilft beispielsweise dabei, Vorschriften wie die ESPR-Verordnung (Ecodesign for Sustainable Products Regulation) der Europäischen Union einzuhalten, die ab 2026 digitale Produktpässe verlangt.
Digitalisierte Produktionsprozesse
Über den Dächern Straßburgs könnten die Europa-Abgeordneten – rein theoretisch – Produkte von Flyability beobachten, während sie von ebenjenen selbst in Augenschein genommen werden. Das Maschinenbauunternehmen aus der Schweiz hat sich nämlich auf Drohnen zur Vermessung schwer zugänglicher Industriekomplexe spezialisiert. Nun fällt das EU-Parlamentsgebäude freilich nicht in diese Kategorie, chemietechnische Anlagen und Raffinerien hingegen sehr wohl.
So wird Flyabilitys Indoordrohne Elios in Räumen und Umgebungen wie Tanks, Silos, Rohrleitungen, Öfen und Reaktoren eingesetzt – Orte, die Menschen nicht nur aufgrund mangelnder Bewegungsfreiheit meiden sollten. Die Daten, gewissermaßen die Existenzgrundlage eines Digitalen Zwillings, müssen folglich mithilfe intelligenter Geräte-Assistenz beschafft werden. Die normative Kraft des Faktischen zeigt ein Blick auf die Unternehmen, in, über und durch deren Anlagen Elios fliegt: Covestro, Boehringer, Linde, Ineos, Shell, Thyssenkrupp und die BASF. Zweifelsohne Big Player.
Vertiefen wir den Blick auf das letztgenannte Unternehmen. Zusammen mit Siemens hat die BASF den Produktionsprozess ihres Chemiekomplexes im brasilianischen Guaratinguetá digitalisiert. In diesem Projekt wurde die von Siemens entwickelte Engineering-Software Comos eingesetzt, um die Prozesseinheiten der Anlage abzubilden, den Programmcode des Automatisierungssystems zu erstellen und dabei einen Digitalen Zwilling zu erschaffen mit dem Ziel, künftige Anlagen-Modernisierungen zu erleichtern. „Das Engineering-Team der BASF analysiert derzeit die Machbarkeit neuer Projekte mit weiteren Modulen, die im Tool verfügbar sind“, so Thiago Pellini, Key Account Manager bei Siemens.
Industrial Metaverse Conference
Eine gute Möglichkeit, sich über derartige Projekte und weitere konkrete Anwendungsfälle zu informieren, bietet die am 25. und 26.02.2025 in München stattfindende Industrial Metaverse Conference. Diese richtet sich an Führungskräfte, Technologieexperten, Forscher und Entscheidungsträger aus der Industrie.
Schwerpunktthemen der Veranstaltung sind das Metaverse für Produkte, Prozesse und Anlagen, in der Produktionsplanung und -optimierung sowie Anwendungen für Wartung und Instandhaltung. Neben Sicherheitsaspekten befasst sich die Konferenz auch mit der zentralen Frage, welche zusätzlichen Technologien für die Umsetzung des Metaverse benötigt werden: KI, schnellere Netze, VR-, Edge- und Cloud-Technologien sowie Blockchain stehen hier im Fokus. Weitere Infos zur Veranstaltung.
Gaming for Chemistry
Ein Blick über den Tellerrand hinaus ist selten eine schlechte Idee. So kooperiert der schwedische Anbieter für Sensor- und Messtechnik Hexagon mit dem US-Konzern Nvidia. Dieser entwickelt Grafikprozessoren und Chipsätze für PCs, Server und Spielekonsolen. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Was hat Gaming mit Digitalen Zwillingen in der chemischen Prozessindustrie zu tun? Die Antwort steckt in der Interoperabilität der Plattformen. Im Rahmen der Zusammenarbeit wird die Nexus-Fertigungsplattform von Hexagon mit der Omniverse-Plattform von Nvidia verbunden. Letztere dient der Entwicklung und dem Betrieb industrieller Metaverse-Anwendungen.
Die verbundenen Plattformen sollen komplementäre Technologien bieten, um die Fertigung für digitale Fabriken voranzutreiben: benutzerübergreifende Arbeitsabläufe durch eine einheitliche Ansicht für die Fabrikplanung und -gestaltung sowie die Optimierung der Prozessqualität und des Betriebs. Die Kooperation dient dazu „Möglichkeiten zu entwickeln, die Reality Capture, AI, Simulation, Datenanalyse und Visualisierung mit nahtlosen kollaborativen Planungsplattformen vereinen“, so Paolo Guglielmini, President und CEO von Hexagon.