Dr. Jürgen Spitzer ist Leiter der Strategie und Technology & Innovation der Siemens Prozess Automatisierung. Nach dem Studium und der Promotion in Physik durchlief er verschiedene berufliche Stationen bei Texas Instruments, Infineon, Siemens Energy und Siemens Industry. Er leitete viele Jahre die Prozessinstrumentierung und Gasanalytik bei Siemens in Karlsruhe. In der Aufgabe als Leiter Strategie und Technologie konzentriert er sich auf künftige Wachstumsfelder in der Prozessindustrie und freut sich, Innovationen für die Prozessindustrie voranzutreiben und zu implementieren.
Andreas Stutz ist Projektleiter im Bereich Technology and Innovations for Process Industries bei Siemens in Karlsruhe. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf zukünftigen Architekturen von Automatisierungssystemen in der Prozessindustrie. Darüber hinaus ist er externer Doktorand an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg. Seine Forschung im Rahmen der Promotion beschäftigt sich mit der Anwendung von Automatisierungsdienste-Choreografien in verteilten Automatisierungssystemen.
CT: An was genau forschen Sie im MTP-Labor in Karlsruhe?
Andreas Stutz: Wir beschäftigen uns hier zum einen mit Anwendungen, die sehr nah vor der Spezifikation stehen wie virtuelle Inbetriebnahme, Diagnose oder Methodenschnittstellen. Zum anderen arbeiten wir hier an Themen, die vom Konzept weit fortgeschritten sind und für die wir erste Spezifikationstexte erstellt haben. Oft haben wir Abschlussarbeiten, die prüfen, ob das, was wir geschrieben haben, auch funktioniert.
Außerdem führen wir im MTP-Labor (Anm. d. Red.: Module Type Package) Grundlagenarbeit durch, um auf die nächstfeinere Stufe der Modularisierung zu gelangen. Dabei handelt es sich um Einzelsteuerelemente, Sensoren und Aktoren, die wir adaptiv konfigurierbar machen wollen. Die Forschung, die wir hier in Karlsruhe durchführen, lässt sich für verschiedene Branchen nutzen, unter anderem Logistik, Wasserstoff, Fertigung und Schiffbau.
CT: Wie gut funktioniert das Scale-up vom Labor- in den Industriemaßstab?
Jürgen Spitzer: Um diese Frage grundsätzlich zu beantworten: Technisch haben wir bewiesen, dass der Scale-up funktioniert. Sie finden heute bereits Beispiele in der Industrie, wo MTP genutzt wird. Dabei handelt es sich dann jedoch nicht um flächendeckende Anwendungen, für die die gesamte Firma umstrukturiert wurde. Aber es funktioniert unter bestimmten Voraussetzungen.
CT: Gibt es aktuell Projekte oder Kooperationen im Bereich MTP?
Stutz: Auf Modulebene haben wir sehr früh mit GEA zusammengearbeitet. Der Zentrifugenhersteller sieht ein großes Potenzial in MTP und geht das Thema strategisch an. Als OEM (Anm. d. Red.: Original Equipment Manufacturer) ist er daran interessiert, MTP für die Maschinen, die er verkauft, zu nutzen. Und auch für den Schiffbau treibt GEA das Thema voran. Denn ein Schiff ist ein Konglomerat aus Zulieferungen, die alle eine Steuerung mitbringen. Für das Schiffsinformationssystem tippen diverse Entwickler monatelang Excel-Tabellen ab. Darum macht GEA Druck, dass MTP als Schiffsstandard weltweit akzeptiert wird, um Marktvorteile für den europäischen Schiffbau zu erzeugen und die Gewerke schneller integrieren zu können.
Im Forschungsumfeld arbeiten wir beispielsweise mit der Helmut-Schmidt-Universität aus Hamburg, der TU Dresden und dem KIT. In der Vergangenheit gab es auch Kooperationen mit der RWTH Aachen, die gerade am Thema Verwaltungsschale interessiert war.
Spitzer: Es gibt noch weitere Unternehmen, mit denen wir kooperieren, zu denen wir die entsprechenden Informationen allerdings nicht öffentlich machen dürfen.
Stutz: Ich gehe auch davon aus, dass es eine größere Anzahl an Projekten gibt, über die die Anwender nicht sprechen. Es gibt eine Reihe an Leuchtturm-Projekten, aber über weitere kommerzielle Anwendungen werden zumeist keine Informationen herausgegeben.
MTP kommt zwar aus dem modularen Anlagenbau, der erste industrielle Anwendungsfall, den wir begleitet haben, war allerdings eine konventionelle Chemieanlage von Evonik in Singapur. Die dort vorhandenen 72 Aggregate wurden auf fünf Module aufgezeigt und mit jeweils einer Simatic-S7-1500-Steuerung automatisiert. Mithilfe des MTP wurde das HMI (Anm. d. Red.: Human Machine Interface) von jedem dieser Module importiert. Für die Inbetriebnahme hatten wir zwei Monate angesetzt, letztendlich konnte die Inbetriebnahme auf zwei Wochen verkürzt werden. Das ist genau das, was MTP macht: Anhand einer einzelnen Unit haben wir mögliche Probleme identifiziert und behoben. Für die anderen Units wurde das MTP dann schlicht erneut eingelesen.
Spitzer: Insofern ist es erstaunlich, dass sich MTP nur langsam durchsetzt. Denn solche Projekte zeigen, dass diese modulare Vorgehensweise große Vorteile hat, die nicht zwingend in Euro bezifferbar sind.
CT: Warten die Unternehmen also ab, bis die Technologie perfektioniert ist?
Spitzer: Das Problem gibt es auch mit anderen Beispielen wie Feldbussen oder FDI (Anm. d. Red.: Field Device Integration), was sich bis zum heutigen Tag nicht richtig durchgesetzt hat. Am Anfang gibt es immer diejenigen Unternehmen, die Neuerungen enthusiastisch umsetzen, anschließend setzt Ernüchterung ein, die wie eine Schlucht überbrückt werden muss und dann – wenn man Glück hat – setzt sich eine Technologie wirklich durch.
Stutz: Was zudem betrachtet werden muss ist, dass die Anlagenbediener bei einer Umstellung abgeholt werden müssen. Das Bedienpersonal hat in einem geschlossenen System von einem Anbieter viele Funktionen, die MTP teilweise noch nicht bereitstellen kann. Unternehmen müssen ihren Mitarbeitenden zunächst die Vorteile erläutern.
Spitzer: Technologien setzen sich nur schwer durch, wenn sie nicht einfach genug sind. Die Themen der Personalqualifizierung und Akzeptanz in der Belegschaft sind auf jeden Fall wichtig.
CT: Stellen Sie fest, dass Unternehmen aus bestimmten Branchen sich mehr für MTP interessieren?
Spitzer: Die ersten Anwender stammten aus Pharma- und Feinchemie-Unternehmen. Wie Andreas eben gesagt hat, kommen aber immer mehr Unternehmen aus anderen Branchen auf uns zu beispielsweise aus der Logistik – oder nehmen Sie den Schiffbau, da hätten wir vor fünf Jahren noch nicht dran gedacht. Es ist also ein breites Spektrum an Branchen, die sich für MTP interessieren.
Stutz: Das ist der Punkt. Schaut man sich das Marketing für MTP der letzten Jahre an, ging es um Prozessindustrie 4.0, adaptive Anlagen und modulare Produktion. Ich glaube, MTP kommt jetzt in weiteren Branchen auf, weil man verstanden hat, was MTP ist. Die Menschen haben sich damit auseinandergesetzt und festgestellt, dass, obwohl die Technologie aus der modularen Produktion kommt, sie trotzdem beispielsweise für eine Package Unit in einer Raffinerie genutzt werden kann. Auch eine Wasserstoffanlage besteht aus nichts anderem als zusammengesetzten Modulen. In dem Fall meistens aus Schiffscontainern, die als Bauform verwendet werden. Stellt man – vereinfacht gesagt – zwölf Stück auf einen Hof, hat man eine Wasserstoffproduktion und die zwölf Steuerungen werden am Ende in ein Leitsystem integriert. Ein weiteres klassisches Beispiel sind Unternehmen aus dem Bereich Wasser und Abwasser. Die Systeme dort müssen zwar nicht täglich umgebaut werden, aber Wasserversorger betreiben teilweise 200 Pumpenwerke verteilt über ihre Landflächen. Beim Hochrüsten stellt sich dann die Frage: Will ich alle Pumpenwerke von Hand integrieren oder nutze ich MTP? Immer mehr Unternehmen stellen sich die Frage, ob sie MTP schon irgendwo einsetzen können. Darum glaube ich nicht, dass es die eine MTP-Branche gibt.
CT: Wie erklären Sie sich, dass gerade Pharma und Feinchemie als Pioniere vorangeschritten sind?
Spitzer: Das liegt an den kleineren Volumina. Ein Impfstoffhersteller zum Beispiel startet nicht gleich mit einer riesigen Anlage, sondern fängt im Labor an und skaliert dann hoch. Beim Hochskalieren bietet MTP einige Vorteile in puncto Geschwindigkeit und Kosten.
Stutz: Jede Weltregion will ihre Industrien unterstützen – der Druck, vor allem aus dem asiatischen Markt, ist hoch. Teilweise bieten asiatische Konzerne nicht vollends ausgereifte Rezepte an, damit sie die Ersten auf dem Markt sind. Bei diesem Vorgehen unterstützen modulare Anlagen.
In der Pharmabranche haben Unternehmen vor einigen Jahren angekündigt, dass sie alle 200 Stunden ein Rezept für ein Produkt hätten, das ein wenig besser ist als das vorherige. Will ein Unternehmen den Abtrennschritt nun von einer Membran auf eine Zentrifuge umstellen, bekommt es Probleme, wenn es seine Anlage konventionell und nicht modular gebaut hat. Die Anlage lässt sich dann nicht alle 200 Stunden umbauen.
Perfektioniert ein Unternehmen seinen Prozess allerdings noch im Labor und geht danach erst in den Großmaßstab, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Konkurrenz schneller auf dem Markt ist. Zudem kann es sinnvoll sein, wenn eine große Menge an Modulen zur Verfügung steht, kein Scale-up, sondern ein Numbering-up auszuführen. Dabei versucht man nicht, ein bestehendes Modul zu vergrößern, sondern zwei gleiche Module parallel zu schalten und auf diese Weise die Produktionsmenge zu erhöhen.
Spitzer: Mehrere gleiche Module parallel zu schalten, ist gerade bei Wasserstoff ein Thema. Wird eine bestehende Anlage zu klein, kann ein weiteres Elektrolyseurmodul dazu gestellt und parallelgeschaltet werden.
Stutz: Auch für Single-use-Anlagen bietet sich ein Numbering-up an. Das ist problemlos möglich, wenn ich die entsprechenden Module habe, und ich kann dieselbe Konfiguration für alle Module nutzen. Das spart Zeit und Kosten, wenn keine Engineering-Aufwände in ein Scale-up fließen. Das erfordert allerdings auch ein grundsätzliches Umdenken bei einigen Ingenieuren und Verfahrenstechnikern.
CT: Ist MTP auch bei nicht deutschen Kunden ein Thema?
Spitzer: Die Namur, die MTP am Anfang maßgeblich vorangetrieben hat, hat mittlerweile auch international eine große Strahlkraft. Das MTP-Konzept diskutieren auch internationale Kunden mit uns.
Stutz: Die Anlagen, in denen MTP genutzt wird oder werden soll, sind weltweit verteilt, einige in den USA einige im asiatischen Raum und einige in Europa. Um die Spezifikation, insbesondere international, weiter voranzutreiben, wechselte man zuletzt mit den Arbeitsgruppen vom VDI (Anm. d. Red.: Verein Deutscher Ingenieure) zur PNO (Anm. d. Red.: Profibus Nutzerorganisation). Für die Weiterarbeit am MTP-Konzept bietet die PNO mit ihrer internationalen Struktur die besseren Rahmenbedingungen. Aktuell wird daran gearbeitet, MTP zu einem internationalen Standard zu machen. Wir sind also auf einem guten Weg in den internationalen Bereich, den wir zukünftig weiter ausbauen werden und müssen.
Achema 2024, Halle 11.0 – E3