Souverän auf der Regulierungswelle surfen

Tsunamiwarnung in der EU-Chemikalienregulierung

Die Zeit der punktuellen Gesetzesanpassung ist vorbei, stattdessen steht ein systemischer Umbau des Chemikalienrechts bevor. Unternehmen sollten sich informieren, um auf daraus resultierende neue Pflichten und kürzere Fristen rechtzeitig reagieren zu können.

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Big metal barrels containing hazardous chemicals from laboratori

  • Es steht ein systemischer Umbau des europäischen Chemikalienrechts bevor.
  • Stoffbewertungen werden gebündelt, sodass mehr generisch reguliert und weniger nach Risiko differenziert wird.
  • Auch EU-Haftungstatbestände werden angepasst.

Die EU befindet sich mitten in der Umsetzung ihrer „Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit“. Was sich in Brüssel als politische Agenda vollzieht, wird in den kommenden Jahren tiefgreifende Auswirkungen auf die Produktion, Produktentwicklung und Marktstrategie von Chemieunternehmen haben. Die Zeit der punktuellen Gesetzesanpassung ist vorbei, spätestens mit dem Anfang Juli veröffentlichten Aktionsplan für die Chemische Industrie. Parallel dazu sollen branchenspezifische „Omnibus“-Regelungen die Wettbewerbsfähigkeit und das Innovationspotenzial durch Vereinfachungen stärken. Es steht ein systemischer Umbau des Chemikalienrechts bevor – mit neuen Pflichten und umfassenden Folgen für Produktdesign, Herstellprozesse und das regulatorische Risikomanagement. Im Folgenden werden die Folgen zentraler Reformprojekte beleuchtet.

CLP-Revision: Neue Gefahrenklassen verändern die Risikolandschaft

Die CLP-Verordnung wurde durch eine Revision und delegierte Rechtsakte erheblich verändert. Erstmals wurden die CLP-Gefahrenklassen erweitert. Zudem erlaubt ein erweiterter Vorsorgeansatz Einstufungen auch bei wissenschaftlicher Unsicherheit. In der Folge werden mehr Stoffe, Gemische und damit auch Erzeugnisse sowie Produkte kennzeichnungspflichtig sein und die Anforde-rungen an die Kommunikation in der Lieferkette und gegenüber Behörden erhöhen.
Auch Verpackungen müssen an die novellierte CLP-Verordnung angepasst werden. Wer Stoffe, Gemische oder Erzeugnisse außerhalb der EU importiert oder exportiert, muss mit Abweichungen zu außereuropäischen Märkten rechnen und diesen entsprechend systemisch und operativ begegnen. Mittlerweile sieht ein Omnibus-Vorschlag jedoch vor, die Änderungen der CLP-Verordnung abzuschwächen.

REACH compliant registration evaluation authorisation and restri

Reach-Revision: Generische Regulierung ersetzt Risikodifferenzierung

Die fortschreitende Überarbeitung der Reach-Verordnung (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) treibt einen Paradigmenwechsel voran, der anlässlich des letzten Caracal-Meetings zurück auf die Agenda gelangte. Hinter der Prämisse, die chemikalienrechtliche Regulatorik zu „vereinfachen“, verbirgt sich eine umfassende Pauschalisierung mit einschneidenden Konsequenzen.

Zum einen ist beabsichtigt, die Regulierung auf einem sogenannten „generischen Risikomanagement“ aufzubauen, sodass unter anderem besonders besorgniserregende Stoffe allein aufgrund der abstrakten Gefährlichkeit reguliert werden – aber unabhängig vom spezifischen Expositionskontext und der Eintrittswahrscheinlichkeit von Risiken. Beschränkungs- und Zulassungsvorhaben sollen außerdem nicht mehr nur einzelne Stoffe, sondern ganze Stoffgruppen betreffen können. Flankiert wird dieses Vorgehen durch das Essential-Use-Konzept: Die Verwendung gefährlicher Chemikalien ist nur noch erlaubt, wenn dies für die Gesundheit, Sicherheit oder Gesellschaft notwendig und keine akzeptable Alternative verfügbar ist. Unternehmen müssten dann nachweisen, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, um den Stoff einzelfallbezogen und ausnahmsweise weiter verwenden zu dürfen.

Parallel dazu wird der Pflichtenkreis für zahlreiche Marktakteure erweitert: Insbesondere Hersteller erwartet ein höherer Registrierungsaufwand. Entlang der Lieferkette dürften sich umfassende(re) Informations- und Dokumentationspflichten auswirken, bei denen gerade die Verzahnung mit anderen Rechtsakten herausfordernd ist, auch mit Blick auf die Informationen gegenüber Verbrauchern etwa in Digitalen Produktpässen.

Osoa-Ansatz: Eine Bewertung – viele Folgen

Mit dem „One Substance – One Assessment“-Ansatz sollen Stoffbewertungen gebündelt werden, sodass sie nicht nur für einzelne Rechtsakte, sondern im Gesamtkontext sämtlicher (auch produktspezifischer) Anforderungen durchgeführt werden. Die Harmonisierung erhöht zwar die Geschwindigkeit und Kohärenz der Regulierung, sie reduziert jedoch die Einflussmöglichkeiten der Industrie. Hersteller müssen vollständige, konsistente Daten bereitstellen und sich aktiv an Konsultationen beteiligen. In Zukunft wird eine Stoffbewertung unmittelbar mehrere Rechtsbereiche gleichzeitig betreffen.

REACH - Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals.
Die Reach-Verordnung soll zukünftig auf einem sogenannten „generischen Risikomanagement“ aufbauen.

PFAS-Beschränkung: Der Testlauf für eine gruppenbasierte Regulierung

Die geplante EU-weite Beschränkung von PFAS stellt die größte Stoffgruppenregulierung in der Geschichte von Reach dar. Mehrere Tausend fluorierte Substanzen sollen erfasst werden – darunter viele, die für Produktionsprozesse und Produkte unverzichtbar sind.
Der gruppenbasierte Ansatz, der in der Reach-Revision geplant ist, wird hier faktisch vorweggenommen. Statt differenzierter Einzel-stoffbewertungen greift die pauschale Regulierung auf Basis struktureller Ähnlichkeit. Damit geraten auch solche PFAS unter Druck, deren stoffspezifische Gefährdung zumindest zweifelhaft ist.
Voraussichtlich ab Anfang 2026 wird die finale Beteiligungsmöglichkeit eröffnet. Wer die Bewertungsergebnisse des Ausschusses für sozioökonomische Analyse kommentieren und unternehmens- oder sektorrelevante Eingaben vornehmen möchte, muss frühzeitig beginnen, Daten zu Anwendungen, Substitution(sbarrieren) und (vor allem) wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu erheben. Ohne gut dokumentierte Faktenbasis wird sich dies nicht bewerkstelligen lassen, gleichzeitig droht der Ausschluss wichtiger Stoffe vom Markt – mit erheblichen Folgen für Produktionsprozesse und Kundenbeziehungen.

Sign the agreement The Concept of Legal Procedure and Litigation
Frühes Handeln kann betroffenen Marktteilnehmern Handlungsspielräume sichern.

Umweltstrafrechts-Richtlinie: Unternehmensverantwortung neu definiert

Mit der überarbeiteten Umweltstrafrechts-Richtlinie vereinheitlicht und verschärft die EU Haftungstatbestände für Umweltverstöße. Mitgliedstaaten müssen ihr nationales (Straf- und Ordnungswidrigkeiten)recht bis zum 21. Mai 2026 anpassen.
Für Chemieproduzenten bedeutet das: Deutlich mehr Verstöße werden künftig deutlich empfindlicher geahndet – mit potenziell er-heblichen Bußgeldern, bis zu 5 % des weltweiten Jahresumsatzes oder mindestens 40 Mio. Euro sowie vorübergehenden oder dauerhaf-ten Verboten der Ausübung von Geschäftstätigkeiten.
Mehr denn je müssen Unternehmen nachweisen können, dass sie wirksame organisatorische und technische Maßnahmen ergriffen haben, um Umweltverstöße zu vermeiden. Das erfordert einen systemischen Ansatz und umfasst eine effiziente Überwachung, risiko-vermeidende Maßnahmen und deren vollständige Dokumentation. Denn nicht nur vorsätzliches, sondern auch fahrlässiges Handeln ist sanktionsbewehrt. Jetzt ist der Zeitpunkt, bestehende Compliance-Systeme zu prüfen und Lücken zu schließen.

Fazit: Regulierungsdruck trifft Markt und Management

Die Chemikalienregulierung der EU wird vorausschauender, vorsorgender – und deutlich anspruchsvoller. Wer seine Stoffe, Produkte und Prozesse nicht rechtzeitig anpasst, riskiert die Marktfähigkeit seiner Produkte, Schadensersatzforderungen und haftungsrechtliche Konsequenzen. Das Businessrisiko verschiebt sich – und mit ihm die Entscheidungsgrundlagen. Frühes und strategisches Handeln kann betroffenen Marktteilnehmern Handlungsspielräume sichern und dazu beitragen, die Regulierung zu beherrschen und auch künftig rechtssicher zu agieren. Gleichzeitig ergeben sich aus der umfangreichen Agenda des Aktionsplans und den Vorschlägen zu dessen Umsetzung erneut Unsicherheiten in Bezug auf die Tragweite möglicher weiterer Änderungen an zentralen Rechtsakten.