Was macht eine Chemikalie riskant?

Gefahrstoffe: Wenn Routine zum Risiko wird

Die Katastrophe von Beirut im Jahr 2020 zeigt exemplarisch: Die gefährlichsten Stoffe sind oft die vertrautesten. Alltagschemikalien wie Ammoniumnitrat sind zwar nicht die giftigsten oder explosivsten, aber dennoch oft die riskantesten Stoffe.

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Symbolbild: Chemikalienbehälter mit verschiedenen Gefahrensymbolen

Ammoniak, Chlor, Schwefelsäure oder Benzol sind unersetzliche Basischemikalien, aber sie bilden zugleich den Grund zahlloser Sicherheitskonzepte. Allein die gewaltigen Mengen, mit denen diese Stoffe weltweit umgesetzt werden, machen Unglücke statistisch praktisch unausweichlich.

Im August 2020 explodierten in einem Lagerhaus am Hafen von Beirut mehr als 2.000 Tonnen Ammoniumnitrat. Die Druckwelle zerstörte halbe Stadtviertel, 200 Menschen starben. Was die Tragödie so erschütternd machte: Der Stoff, der sie auslöste, war kein exotisches Hochrisikomaterial, sondern ein alltägliches Düngemittel. Das Gefahrenpotenzial ist seit über hundert Jahren bekannt.

Chemische Verfahren beruhen auf kontrollierten Reaktionen, und Kontrolle heißt: Temperatur, Druck, Konzentration, Zeit. Schon kleine Abweichungen können hier den Unterschied zwischen Routine und Katastrophe ausmachen. Ammoniumnitrat ist hierfür ein Paradebeispiel. In reiner Form stabil, wird es gefährlich, wenn Verunreinigungen oder Hitze die thermische Zersetzung anstoßen – ein Prozess, der unter ungünstigen Bedingungen in Sekundenbruchteilen eskaliert.

Durch eine solche kleine Abweichung, eine einzige Verfahrensänderung, kam es bereits 1921 durch Ammoniumnitrat zur größten Chemiekatastrophe in Deutschland. Am BASF-Standort Oppau bei Ludwigshafen hat rund ein Jahr vor der Katastrophe die Sprühtrocknung von Ammonsulfatsalpeter das vorherige Kristallisationsverfahren abgelöst. Doch das so erhaltene Produkt war feiner und trockener als zuvor, und obendrein entmischten sich die enthaltenen Salze offenbar leichter. So lag anstelle des inerten Nitrat-Sulfat-Mischsalzes vermutlich in einzelnen Bereichen nahezu reines Nitrat vor. Als Arbeiter im Werk die gipsartig verbackenen Bestände im Lager mit einer Dynamit-Sprengung auflockern wollten – ein hundertfach zuvor gefahrlos durchgeführtes Verfahren – brachten sie damit 70 bis 80 Tonnen Ammonsulfonsalpeter zur Explosion. Die Katastrophe tötete mehr als 500 Menschen, verletzte rund 2.000, und zerstörte die halbe Ortschaft Oppau.

Akute Risiken: Wenn Reaktivität außer Kontrolle gerät

Andere berüchtigte Massenprodukte und Rohstoffe der Chemie sind die Halogene Fluor und Chlor. Das weltweit in Kunststoffproduktion, Wasseraufbereitung und unzähligen chemischen Synthesen eingesetzte Chlor und seine Derivate werden bei Leckagen schnell zur tödlichen Gefahr. Elementares Fluor gehört zu den reaktivsten Stoffen überhaupt: ein gelbgrünes Gas, das fast jedes Material oxidativ angreift und sich bereits bei Raumtemperatur selbst entzünden kann – oft ohne sichtbare Flamme. Sein Gefährdungspotenzial entsteht weniger durch akute Toxizität als durch extreme Reaktivität. Deshalb kommen in Fluor-Anlagen ausschließlich hochspezialisierte Werkstoffe wie Monel, Nickellegierungen oder PTFE zum Einsatz. Selbst kleinste Mengen Wasser oder organische Verunreinigungen können heftige Reaktionen auslösen, weshalb Fluorierungsprozesse streng trocken, inert begleitet und vollständig gekapselt gefahren werden.

Risk = Hazard × Exposure

In der modernen Risikoabschätzung gilt die Faustregel: Risiko entsteht erst, wenn eine gefährliche Eigenschaft (Hazard) auf eine tatsächliche Einwirkung (Exposition) trifft.

  • Hazard (Gefährdungspotenzial): Die inhärente Eigenschaft eines Stoffes, Schaden verursachen zu können – z. B. Toxizität, Explosivität oder Korrosivität.
  • Exposure (Exposition): Das Ausmaß, in dem Mensch oder Umwelt dem Stoff tatsächlich ausgesetzt sind – Konzentration, Dauer, Häufigkeit.
  • Risk (Risiko): Die tatsächliche Wahrscheinlichkeit einer Schädigung unter den realen Bedingungen im Prozess oder Umfeld.

Ein Stoff kann zwar extrem gefährlich sein, aber ohne Exposition entsteht kein Risiko. Umgekehrt kann selbst ein vermeintlich harmloser Stoff zum Problem werden, wenn die Exposition hoch genug ist.

Fluorwasserstoff (HF) hingegen ist zwar chemisch „milder“ als elementares Fluor, aber in seiner Gefährlichkeit tückischer. Das Gas – und auch die wässrige Lösung Flusssäure – dringt durch die Haut und entfaltet seine toxische Wirkung im Körperinneren. Dort bindet es Calcium-Ionen und stört lebenswichtige Stoffwechselprozesse, was zu schmerzhaften, oft verzögert spürbaren Verätzungen bis hin zu systemischen Vergiftungen führen kann. Für Einsatzbereiche wie Glasätzung, Halbleiterproduktion oder die Alkylierung in Raffinerien bedeutet das maximale Präzision im Anlagenlayout, spezielle Schutzausrüstung, klare Alarm- und Rettungsketten sowie die obligatorische Bereitstellung von Calcium-Gluconat als Erste-Hilfe-Maßnahme.

Während Fluor also vor allem ein reaktives Risiko darstellt und Fluorwasserstoff ein toxikologisch-perfides, zeigen beide Stoffe gemeinsam, wie entscheidend Materialwahl, Anlagenintegrität und exakter Betrieb in der Fluorchemie sind. Kaum ein Bereich der Verfahrenstechnik verdeutlicht so klar, dass Sicherheitskonzepte nicht nur Barrieren und Sensoren sind, sondern tief im Design der Prozesse beginnen müssen. Etwa bei Fragen nach Werkstoffen, Temperaturen und anderen Betriebsparametern.

Hier zeigt sich die Bedeutung moderner Prozessleittechnik: Redundante Sensorik, präventiver und konstruktiver Explosionsschutz sowie automatisierte Abschaltungen sind längst Standard. Gleichzeitig sind sie trotz aller technischen Fortschritte nicht unfehlbar. In Summe gilt: Akute chemische Risiken lassen sich technisch beherrschen – aber nie vollständig eliminieren. Entscheidend ist die Kombination aus Anlagenkonzept, Schulung, Wartung und Sicherheitskultur.

Schleichende Gefahren: Wenn Chemie bleibt, wo sie nicht soll

Während akute Gefahren meist laut und sichtbar sind, wirken andere leise. Chronische Effekte bauen sich langsam auf und sind teilweise erst nach Jahrzehnten spürbar. Zu dieser Kategorie gehören Wirkstoffe wie DDT, PCB, Dioxine oder die heute viel diskutierten PFAS. Risiken durch diese Stoffe sind viel schwerer zu bewerten, da sie weniger greifbar sind. Diese Chemikalien sind nicht explosiv, nicht brandgefährlich, nicht ätzend oder akut tödlich. Dennoch sind sie durch ihre extreme Stabilität problematisch. Sie werden in der Umwelt kaum abgebaut, reichern sich in Böden, Gewässern und Lebewesen an und entfalten dort schleichend toxische oder hormonelle Wirkungen.

DDT steht sinnbildlich für diese „langsame Gefahr“. Ursprünglich gefeiert als Wundermittel gegen Malaria-verbreitende Mücken, wurde es erst Jahrzehnte später zum Symbol für globale Umweltbelastung. Ähnlich polychlorierte Biphenyle (PCB), einst geschätzte Isolier- und Hydraulikflüssigkeiten, die heute als Altlast in Transformatoren, Gebäuden und Sedimenten stecken.

Eine moderne Entsprechung sind die per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS). Ihre chemische Struktur mit Kohlenstoff-Fluor-Bindungen, einer der stabilsten chemischen Bindungen überhaupt, macht sie hitze-, wasser- und fettabweisend und chemisch fast völlig inert. Damit sind sie ideal für Beschichtungen, Dichtungen, Löschschäume und ähnliches geeignet. Doch genau diese Stabilität sorgt dafür, dass sie praktisch ewig in der Umwelt verbleiben. Da einige Vertreter dieser Stoffgruppe als krebserregend nachgewiesen sind, ist mit ihrem Umgang zu Recht Vorsicht geboten. Ein pauschales Verbot aller PFAS könnte jedoch zu schwerwiegenden Versorgungslücken führen: Für viele Anwendungszwecke steht kein gleichwertiger Ersatz zur Verfügung.

Von „Was darf passieren?“ zu „Was darf bleiben?“

Das spiegelt sich auch in der Regulierung wider: REACH, CLP und die EU-Initiative „Safe and Sustainable by Design“ verknüpfen klassische Arbeitssicherheit mit Umwelt- und Gesundheitszielen. Dabei geht es nicht nur um die Frage „Wie sicher ist der Betrieb?“ sondern mittlerweile auch: „Wie nachhaltig sind der Stoff und seine Produktionskette?“ Wer heute Verfahren plant, Stoffe auswählt oder Prozesse automatisiert, steht damit nicht nur in der Tradition der Ingenieurkunst, sondern auch in einer ethischen Verantwortung.

Für Verfahrenstechniker ergeben sich daraus neue Fragestellungen: Wie lassen sich solche Substanzen abfangen, abbauen oder substituieren? Klassische Sicherheitskonzepte helfen hier wenig; gefragt sind Umweltverfahrenstechnik, Abwasserbehandlung, Rückgewinnungsprozesse und Materialsubstitution. Es geht nicht mehr nur noch um das Verhindern von Leckagen oder Explosionen. Wichtiges Ziel ist außerdem, dass die Chemie von heute nicht das Problem von morgen wird.

Dabei unterstützen mehr und mehr digitale Werkzeuge das Risikomanagement. KI-gestützte Prozessüberwachung, Simulationen und Predictive Maintenance helfen, Muster zu erkennen, die früher nur Erfahrung verraten konnte. Tatsächlich haben die meisten Chemieunfälle weniger mit Technikversagen als mit Organisations- oder Kommunikationsfehlern zu tun. Und die riskantesten Chemikalien sind nicht jene in geheimen Laboren oder militärischen Depots, sondern die alltäglichen, die wir so gut zu kennen glauben, dass wir ihre Risiken übersehen.