Um die Aussage bewerten zu können, bedarf es zunächst einer Umrechnung: Gehandelt wird Erdgas nach Energieinhalt. Der Brennwert von russischem Erdgas schwankt rund 2 % um 11 kWh pro Kubikmeter. Mitte Februar kostete eine Megawattstunde (1.000 kWh) in Europa knapp 80 Euro. Medwedews Preisvorstellung würden also eine Preissteigerung auf 182.000 Euro pro MWh bedeuten. Schnell wurde klar: Im ursprünglichen Tweet steckte ein kapitaler Fehler. Gemeint waren 2.000 USD für 1.000 Kubikmeter, woraus ein Gaspreis von 182 Euro/MWh resultieren würde.
LNG-Tanker werden Preiseffekt dämpfen
Ob das realistisch ist? Als der Preis für Erdgas im Spätherbst in Europa über die Marke von 100 USD/MWh geklettert war, führte dies auf den Weltmeeren zu einem interessanten Phänomen: Flüssiggas-Tankschiffe (LNG) wurden von Ihrer Route nach Asien in Richtung europäischer Häfen umgeleitet, weil der Markt für die LNG-Produzenten in den USA und im mittleren Osten plötzlich lukrativer war, als der asiatische. Denn normalerweise zahlen Kunden in Südkorea, Japan und China deutlich mehr für LNG.
Dieser Effekt würde auch dann dämpfend wirken, wenn die Preise in Europa deutlich anziehen. Dazu kommt der jahreszeitliche Effekt: Zwischen April und Oktober sinkt der Gasbedarf in Europa gegenüber den Wintermonaten um 70 %, wodurch die Spotpreise im kommenden Halbjahr eher sinken dürften. Schon jetzt sorgt das vergleichsweise milde Februar-Wetter dafür, dass die historisch niedrigen Füllstände in den deutschen Kavernen inzwischen langsamer sinken. In diesem Beitrag hatten wir jüngst die Gründe für hohe Gaspreise analysiert.
Russland hat viel zu verlieren
Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft hat jüngst nachgerechnet: Demnach würde ein Handelsstopp mit russischem Gas vor allem Russland selbst schaden und könnte die russische Wirtschaftsleistung um 3 % drücken. Bei rund 200 Mrd. Kubikmetern, die von Gazprom in 2019 nach Europa geliefert wurden (davon 55 Mrd. Kubikmeter an deutsche Abnehmer) würde das beim aktuellen Börsenpreis einen Umsatzausfall von 176 Mrd. Euro bedeuten.
Zuletzt hatte die deutsche Bundesregierung vermeldet, dass man in der Lage sei, Flüssiggas in ausreichenden Mengen anzukaufen, um eventuelle Lücken auszugleichen. Auf russisches Pipelinegas komplett verzichten, will man derzeit offenbar nicht. Die Frage von TV-Journalistin Sandra Maischberger, ob die Regierung beabsichtigt, auch Nord Stream 1 auf die Sanktionsliste zu setzen, beantwortete Finanzminister Christian Lindner in einer Sendung am 24.02. unter Verweis auf deutsche Interessen mit „nein“. Nord Stream liefert jährlich rund 55 Mrd. m3 Erdgas nach Europa.
Dennoch bleibt die Energiefrage entscheidend und muss spätestens bis zum Beginn der Heizperiode 2022/23 beantwortet werden: Wie können die leeren Speicher aufgefüllt werden? Langfristig könnte und sollte die aktuelle Situation Wind- und Solarenergie wieder voranbringen. „Der Ausbau von Wind- und Solarenergie muss jetzt entschlossen vorangetrieben werden, um von russischem Gas loszukommen“, sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck. In unserem fortlaufend aktualisierten Ticker informieren wir Sie über die Folgen des Russland-Ukraine-Konflikts für die Industrie.