Wie viel Zukunft steckt in sechs gigantischen Cracköfen? Die Antwort darauf entsteht derzeit im Hafen von Antwerpen. Mit Project One realisiert Ineos derzeit gemeinsam mit internationalen Anlagenbau-Unternehmen eines der ehrgeizigsten Chemieprojekte der europäischen Geschichte.
Gebaut in Thailand wurden zwei der Spaltöfen im Frühjahr 2025 in Antwerpen angeliefert.(Bild: Ineos)
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Mit 4 Mrd. Euro Volumen ist Project One von Ineos das größte Chemie-Investment Europas seit 25 Jahren.
Technologischer Benchmark: modularer Bau, Ultra-Low-NOx-Brenner, bis zu 60 % Wasserstoffbefeuerung ab Start und Vorbereitung für CCS und Elektrifizierung.
Das Projekt ist ein Testfall, ob Großinvestitionen unter verschärften Klimaauflagen in Europa noch gelingen.
Antwerpen im April 2025: Nahezu lautlos gleitet ein 60 m hoher und 6.000 t schwerer Koloss auf Hunderten von Rädern eines „Self-Propelled Modular Transporter“ dahin. Millimetergenau wird das 32 m breite Modul an seinem Bestimmungsort eingeparkt. Dort soll der Spaltofen gemeinsam mit fünf weiteren Öfen in den nächsten drei Jahrzehnten riesige Mengen an Ethan in das Monomer Ethylen verwandeln, dem Grundbaustein für eine Vielzahl an Kunststoffen und chemischen Produkten. Die Module haben eine lange Reise hinter sich: Gebaut in Thailand umrundeten zwei der Öfen im Frühjahr 2025 an Bord des chinesischen Schwerlastschiffs Hua Hai Long sogar das Kap der Guten Hoffnung.
Die imposanten Öfen des Steamcrackers sind ein industrieller Meilenstein mit Symbolkraft: Europas größtes Chemieprojekt seit Jahrzehnten wird Realität. Rund vier Milliarden Euro investiert der Petrochemie-Riese Ineos in das „Project One“: Einen Ethan-Cracker, der jährlich 1,45 Mio. t Ethylen aus US-amerikanischem Schiefergas produzieren soll – unterstützt von belgischer Politik und EU-Zielen für Klimaneutralität. Eingesetzt wird der Basiskunststoff u. a. in Windrädern, Wasserrohren, E-Auto-Komponenten und Verpackungen. Doch Project One ist mehr als eine Produktionsanlage: Es ist der Versuch, Europas Chemieindustrie aus der Krise in die Zukunft zu führen.
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(Bild: Redaktion)
Transformation der Petrochemie: Vortrag von Shell Rheinland
Auf dem diesjährigen Engineering Summit gibt Jan-Peter Groot Wassink, Standortleiter von Shell Rheinland, spannende Einblicke in die Transformation der Petrochemie. Am Beispiel des Chemie- und Raffineriestandorts Rheinland zeigt er, wie ein traditionsreicher Produktionskomplex den Wandel hin zu nachhaltigeren Prozessen, alternativen Rohstoffen und zukunftsfähigen Wertschöpfungsketten gestaltet.
Ein Muss für alle, die verstehen wollen, wie Technik, Innovation und Klimaziele in der Industrie zusammenspielen.
Ein Hoffnungsträger für Europas Industrie
Seit über 20 Jahren hat es in Europa kein derartiges „Grüne-Wiese“-Projekt in der Petrochemie mehr gegeben. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen in Belgien und darüber hinaus: Project One soll dem Chemie-Cluster Antwerpen einen Innovationsschub verleihen und der europäischen Chemieindustrie insgesamt neues Leben einhauchen. Branchenbeobachter sprechen vom wichtigsten Chemie-Investment in Europa seit einer Generation.
In einer Zeit, in der Energiepreise, Regulierung und globale Konkurrenz europäischen Chemieunternehmen zusetzen und andere Chemiekonzerne, darunter DOW in Ostdeutschland und Total Energies in Antwerpen, stilllegen, sendet Project One ein Signal: Großinvestitionen in nachhaltige Grundstoffproduktion sind in Europa möglich. Die Anlage soll über 450 Hightech-Arbeitsplätze schaffen, 2.000 weitere indirekt sichern und den Chemie-Cluster Antwerpen stärken. Gleichzeitig reduziert der Cracker dank modernster Brenner, modularem Design und Energieeffizienz den CO₂-Ausstoß pro Tonne Ethylen um mehr als 50 % gegenüber den besten bestehenden Anlagen.
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Project One hat für die europäische Chemie große Signalwirkung. Im Bild: Ineos-Chef Sir Jim Ratcliffe und der belgische Prime Minister Bart De Wever.(Bild: Ineos)
Das vielleicht wichtigste Verkaufsargument von Project One ist seine ökologische Performance. Der neue Ethan-Cracker wird laut Ineos den niedrigsten CO₂-Fußabdruck aller vergleichbaren Anlagen in Europa haben. Konkret soll jede Tonne produzierte Chemikalie nur etwa ein Drittel der Emissionen eines durchschnittlichen europäischen Crackers verursachen – und weniger als halb so viel wie die der derzeit effizientesten Konkurrenzanlagen. Erreichen will man dies durch ein Bündel an Maßnahmen:
Sauberer Rohstoff: Anders als klassische Steamcracker, die Naphtha (Erdölprodukte) spalten, verarbeitet Project One überwiegend Ethan, gewonnen aus Erdgas. Ethan besitzt einen höheren Wasserstoffanteil, was beim Cracken mehr wasserstoffreiche Brennstoffe und weniger CO₂ erzeugt.
Hocheffiziente Öfen: Ultra-Low-NOx-Brenner und Wärmerückgewinnungssysteme sollen den Brennstoffverbrauch drastisch reduzieren. Die Öfen werden zudem gleich für Wasserstoff als Brennstoff ausgelegt: Von Tag 1 an kann der Cracker bis zu 60 % seines Energiebedarfs durch Wasserstoff decken. Dieser stammt teils als Nebenprodukt aus dem Prozess selbst und könnte in Zukunft vollständig „grün“ zugekauft werden, sobald genügend klimafreundlicher Wasserstoff verfügbar ist.
Innovatives Anlagendesign: Project One wird modular gebaut. Anstatt jede Anlage vor Ort zu errichten, werden komplette Module – von der Ofensektion bis zu ganzen Prozessskids – in spezialisierten Werften in Thailand, Abu Dhabi und den Philippinen vorgefertigt. Dieses Vorgehen spart Zeit und Kosten und ermöglicht höchste Qualität unter kontrollierten Bedingungen. Außerdem bietet es Flexibilität: In Zukunft könnten einzelne Module relativ einfach nachgerüstet oder getauscht werden, ohne die ganze Anlage umzubauen. Schon jetzt wurde Platz für eine mögliche Carbon-Capture-Anlage vorgesehen, um anfallendes CO₂ abtrennen und lagern zu können, sobald diese Technologie gereift ist.
Anlagenbau: ein europäisches Gemeinschaftswerk
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Das Megaprojekt wird von einem internationalen Netzwerk an Anlagenbauern realisiert: Technip Energies liefert das Herzstück: die emissionsarme Crackertechnologie. Die spanische Tecnicas Reunidas verantwortet Engineering, Procurement und Construction Management (EPCM) und die britisch-belgische Wood Group koordiniert als PMC das Gesamtprojekt. TGE Gas Engineering, baut gemeinsam mit JV Stadsbader/MBG und Martifer den mit einem Fassungsvermögen von 197.000 m³ größten Ethan-Tank Europas.
(Bild: Redaktion)
Neben dem Ethan-Cracker beinhaltet Project One auch eine Propan-Dehydrierungsanlage (PDH-Unit) für die Herstellung von rund 750.000 t Propylen pro Jahr – geplant vom südkoreanischen Anlagenbauer SK E&C.
Die vorgefertigten Module wurden an asiatischen Standorten (Thailand, Abu Dhabi, Philippinen) produziert. Mit Schwerlastschiffen und Spezialtransportern wie SPMTs gelangen sie nun punktgenau zur Montage in Antwerpen; Ende 2026 sollen die Anlagen schließlich in Betrieb gehen.
Die 60 m hohen Spaltöfen wurden von Technip Energies gebaut und als Module auf die Baustelle geliefert.(Bild: Ineos)
Politische Rahmenbedingungen: Wandel mit Druck
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Seit Projektbeginn 2019 hat sich Europas Industriepolitik verändert. Die Energiekrise 2022, verschärfte Klimaziele und strengere Genehmigungen stellten das Projekt auf die Probe. Die Umweltgenehmigung wurde 2023 vorübergehend entzogen, u. a. wegen Stickoxidbelastung im benachbarten Schutzgebiet. Erst Anfang 2024 kam das grüne Licht unter Auflagen: Project One muss spätestens 2036 klimaneutral laufen.
Kritiker bezweifeln die Klimatauglichkeit fossiler Rohstoffe und verweisen auf Plastikmüll sowie Frackinggas-Importe. Ineos hält dagegen: Der Cracker sei auf Recycling, Wasserstoff und CCS vorbereitet.Der Konzern argumentiert, dass neue Anlagen wie Project One alte, emissionsintensive Chemiewerke in Europa ersetzen werden mit dem europäischen Green Deal, der klimafreundliche Industrieprozesse fordert. Nicht zuletzt unterstreicht Ineos, man habe bereits große Abnahmeverträge für Ökostrom (Offshore-Windparks) geschlossen, um den Strombedarf des Crackers grün zu decken.
Beim elektrischen Steamcracken wird die für das Spalten von Ethan oder Naphtha erforderliche Prozesswärme nicht durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe, sondern durch elektrische Heizelemente erzeugt. Wird dieser Strom aus erneuerbaren Quellen bezogen, können die direkten CO₂-Emissionen des Crackprozesses auf nahezu null reduziert werden.
Aktuelle Pilotprojekte:
BASF / Sabic / Linde – Bau einer Demonstrationsanlage in Ludwigshafen mit bis zu 6 MW elektrischer Heizleistung.
Dow / Shell – Pilotanlage in Terneuzen (NL) für elektrisches Cracken im industriellen Maßstab.
Neste / Borealis / Covestro – Forschungskonsortium für elektrifizierte Hochtemperaturreaktoren in Finnland.
Ineos bereitet Project One auf eine Nachrüstung mit elektrischen Heizeinheiten vor. Voraussetzung: wirtschaftlich verfügbarer Grünstrom und industrielle Speicherlösungen.
Fazit: Ganz Europa schaut gespannt nach Antwerpen, wo gerade ein Chemieriese der nächsten Generation aus dem Boden wächst – im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichem Kalkül und ökologischem Aufbruch. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Ineos’ Wette auf Europas Industrie belohnt wird.