VCI Hauptgeschäftsführer Dr. Wolfgang Große-Entrup

Auf der heutigen VCI-Pressekonferenz bekräftigte Hauptgeschäftsführer Dr. Wolfgang Große-Entrup, dass die Chemieindustrie hinter den scharfen Sanktionen der Politik steht. (Bild: VCI / Screenshot CHEMIE TECHNIK)

Angesichts der dramatischen Entwicklungen in der Ukraine und die massiv gestiegenen Energiepreise hat die Chemieindustrie in Deutschland ihre bisherige Wachstumsprognose kassiert. "54 % unserer Mitgliedsunternehmen rechnen damit, dass die Produktion und der Umsatz im laufenden Jahr zurückgehen wird", zitierte Dr. Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Chemieverbands VCI, dazu aus einer aktuellen Umfrage: "Die Hoffnung der chemisch-pharmazeutischen Industrie auf einen positiven Wirtschaftsverlauf in diesem Jahr hat mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein jähes Ende gefunden. Die Erwartung der Branche von Anfang des Jahres für die Geschäfts­aussichten 2022 ist innerhalb weniger Wochen gekippt." Im Dezember hatte der Verband für 2022 ein Produktionsplus von 2 % und ein Umsatzwachstum von 5 % auf 231 Mrd. Euro für möglich gehalten.

Aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Lage kann der Verband zum Ersten Mal in seiner Geschichte im Frühjahr des Jahres keine Prognose abgeben. Hohe Preise für Öl und Erdgas engen laut VCI den finanziellen Spielraum der Unternehmen stark ein. 70 % der Unternehmen berichten über gravierende Probleme für ihr Geschäft. 85 % geben an, dass sie steigende Produktions- und Beschaffungskosten entweder gar nicht oder nur zum Teil weitergeben können. In diesem Beitrag zeigen wir, wie abhängig Deutschland von russischem Gas bislang ist.

"Der Krieg löst Folgen für die Wirtschaft in Europa aus", so Große-Entrup: "Diese Schockwellen erreichen auch die chemisch-pharmazeutische Industrie als eine der energie- und rohstoffintensivste Branche in diesem Land." „Wir brauchen Gas als Rohstoff. Wenn wir das nicht bekommen, können wir nicht produzieren“, verdeutlichte VCI Chef-Volkswirt Dr. Henrik Meincke: „Wir rechnen mit deutlich stärkeren Auswirkungen, als die, die von anderen Wirtschaftsverbänden gesehen werden.“

Chemie- und Pharmaindustrie 2021 in Zahlen

Trotz Pandemie und anderer Widrigkeiten erzielte die chemisch-pharmazeutische Industrie eine erfolgreiche und beachtliche Bilanz im Gesamtjahr 2021:

  • Die Produktion stieg im Vergleich zum Vorjahr um 5,3 Prozent. Ohne Pharma belief sich das Mengenwachstum auf 5,0 Prozent. Nahezu alle Sparten bis auf das Segment Körperpflege und Waschmittel (-1,7 Prozent) profitierten von der Entwicklung. Ein besonderes Plus mit einem Zuwachs von 16,3 Prozent bei den Absatzmengen erzielte die Produktgruppe der Polymere, die zum Beispiel in der Automobil- und Verpackungsindustrie oder der Bauwirtschaft und für Sportartikel benötigt werden.
  • Der Umsatz legte aufgrund des kontinuierlichen Anstiegs der Erzeugerpreise (+9,3 Prozent) im Jahresverlauf um 17,9 Prozent auf 225 Milliarden Euro zu. Das Auslandsgeschäft entwickelte sich dynamisch (+17 Prozent) und steuerte mit 140 Milliarden Euro fast zwei Drittel (62 Prozent) zum Gesamtergebnis bei.
  • Die Zahl der Beschäftigten in den Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie stieg leicht (+0,5 Prozent) auf jetzt 466.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Tiefe Einschnitte für den Fall eines Energie-Importstopps aus Russland befürchtet

Der VCI-Hauptgeschäftsführer warnte vor den massiven Folgen eines Importstopps von russischem Erdgas für die chemisch-pharmazeutische Industrie, die aber nicht auf sie beschränkt bleiben würden. „Tiefe Einschnitte in das Produktionsniveau der Branche wären nicht nur bei großen energieintensiven Unternehmen zu erwarten, sondern wären auch im Mittelstand und wohl über alle Sparten hinweg unvermeidlich. Über die Wertschöpfungsketten würde sich der Effekt auf die gesamte Industrie in Deutschland fortpflanzen“, betonte Große Entrup.  Nahezu alle Branchen, so der VCI, wie etwa Landwirtschaft, Ernährung, Automobil, Kosmetik und Hygiene, Bauwesen, Verpackung, Pharma oder Elektronik wären dann von einer Unterbrechung ihrer Lieferketten betroffen."

Mit einer schweren und mehrjährigen Rezession mit einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen muss gerechnet werden. Und anders als in der Finanz- und Coronakrise würde sich bei einer Industriekrise Deutschland nicht relativ schnell wieder erholen. Dann steht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Landes auf dem Spiel.“ Die chemisch-pharmazeutische Industrie setzt rund 2,8 Millionen Tonnen Erdgas als Rohstoff (27 Prozent des Gesamtverbrauchs) und 99,3 Terawattstunden Erdgas (73 Prozent) für die Erzeugung von Dampf und Strom im Jahr ein. In diesem Beitrag analysieren wir, wie dramatisch die Folgen eines Erdgas-Lieferstopps wären.

Der Verband hält es unter den geänderten energie- und geopolitischen Rahmenbedingungen für dringend geboten, dass Berlin und Brüssel eine Dringlichkeitsanalyse ihrer laufenden Gesetzesvorhaben vornehmen und in drei Kategorien priorisieren. Große Entrup: „Ein einfaches ‘Weiter so, wie geplant‘ ist unverantwortlich und industriepolitisch extrem gefährlich.“ Alle zeitnahen Lösungen, die Versorgungs­sicherheit und Bezahlbarkeit von Energie unterstützen und so die Wirtschaft und Arbeitsplätze stabilisieren, sollten aus Sicht des VCI absoluten Vorrang haben – wie etwa die zeitnahe Abschaffung der EEG-Umlage, eine Reduzierung der Energiesteuer auf das EU-Minimum oder ein vorübergehendes Aussetzen des Ausstiegs aus der Kohleverstromung. Parallel müsse der Ausbau erneuerbarer Energien und der nötigen Infrastruktur mit aller Kraft – auch gegen Widerstände – vorangetrieben werden.

Politische Projekte in Brüssel und Berlin sollten neu priorisiert werden

Zur Kategorie „Aufschieben“ zählen für den VCI zum Beispiel das Projekt der EU-Chemikalienstrategie mit dem umfangreichen Regulierungspaket der Novellierung der REACH-Verordnung oder das nationale wie europäische Lieferkettengesetz. Völlig zurückgestellt werden könnte aus Sicht des VCI das Brüsseler Projekt CO2-Grenzausgleich (CBAM): „Die Wirksamkeit dieses Vorhabens für den Klimaschutz ist stark umstritten und eine WTO-konforme Ausgestaltung steht in den Sternen. Es droht ein Bürokratiemonster, das neue Handelshemmnisse aufbaut. Ein solches politisches Ungetüm ist für die Zeit des Wiederbelebens der Wirtschaft nach der Krise absolut fehl am Platz“, betonte Große Entrup. Erfolg versprechender für mehr globalen Klimaschutz sei dagegen der Plan der Bundesregierung, internationale Partner für einen „Club der Willigen“ zu gewinnen.

In unserem Ticker-Beitrag informieren wir Sie fortlaufend über die Konsequenzen des Russland-Konflikts für die Chemieindustrie und den Anlagenbau.

Um das Land besser aufzustellen bei der Resilienz der Rohstoff- und Energieversorgung, für den Prozess der Transformation und die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes, habe die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren eine überragende Bedeutung, so der VCI.

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