
Ein Stop der russischen Erdgaslieferungen hätte gravierende Auswirkungen für die deutsche Industrie. Bild: 63ru78 - stock.adobe.com
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind die Energiemärkte im Aufruhr: Auf ein Allzeit-Hoch von über 300 Euro schoss der TTF-Preis für eine Megawattstunde Erdgas am 7. März kurzfristig. Mehr als das 15-fache als 12 Monate zuvor. Und weil die dramatische Entwicklung vor allem auch ein regionales, europäisches Phänomen ist, sind die Folgen insbesondere für die hiesige Industrie gravierend. Denn diese wird die Kosten auf dem Weltmarkt nicht weiterreichen können. Viele Industrieunternehmen arbeiten derzeit noch mit Gasverträgen, die sie vor mehreren Monaten zu günstigeren Konditionen abgeschlossen haben - wenn diese auslaufen, stimmt die bisherige Kalkulation nicht mehr.
Auch deshalb dürfte die jüngste Stellungnahme der in der Politik einflussreichen Nationalen Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, in der Industrie auf wenig Zustimmung stoßen: Diese kommt zur Erkenntnis, dass „auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre.“ In diesem Beitrag zeigen wir, wie abhängig Deutschland von russischem Gas bislang ist.
Die Faktenlage
Erdgas hat in Deutschland einen Anteil am Primärenergieverbrauch von über 25 Prozent und wird überwiegend für die Bereitstellung von Prozesswärme sowie zur Beheizung von Wohngebäuden eingesetzt. Die Wissenschaftler haben ermittelt, dass 2020 in Deutschland 210 TWh für Prozesswärme und 253 TWh für private Wärmeversorgung eingesetzt wurden, weitere 110 TWh für die Beheizung von Industrie- und Geschäftsgebäuden. Davon stammten knapp 300 TWh aus Russland. Im Falle eines nicht-kompensierbaren Ausfalls von Gaslieferungen würden bevorzugt private Haushalte versorgt und die Belieferung von Industriebetrieben eingeschränkt. So sieht es der Leitfaden „Krisenvorsorge Gas“ vor. Hier erfahren Sie wo in Europa LNG-Importterminals stehen und wo solche geplant sind.
Engineering Summit 2022 - Folgen des Russland-Konflikts für den Anlagenbau

Wie sich der Russland-Konflikt kurz- und langfristig auf den europäischen Anlagenbau auswirken wird, ist auch Thema des kommenden Engineering Summit, der vom 20. bis 21. Juli 2022 in Darmstadt stattfinden wird. Unter dem Motto „Welcome to the new realities in plant engineering“ werden Führungskräfte aus dem europäischen Anlagenbau die aktuellen Entwicklungen der Branche diskutieren.
Russland war in den vergangenen Jahren einer der Haupt-Auftraggeber des deutschen Großanlagenbaus. Dieses Geschäft wird sich aufgrund der Sanktionen infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine verändern. Gleichzeitig wird die beschleunigte Transformation des Energiesektors in Europa zu neuen Chancen und Projekten führen. Im Summit Talk am 21. Juli werden wir das Thema mit führenden Köpfen des Anlagenbaus ausloten. Mehr Informationen unter www.engineering-summit.de
Dieses Szenario könnte bei einem Ausfall russischer Lieferungen im nächsten Winter drohen, sollte es nicht gelingen, die Gasspeicher über die kommenden Sommermonate aufzufüllen. Diese haben eine Gesamtkapazität von 275 TWh und sind zur Zeit (Anfang März 2022) zu 27 % gefüllt. Dass dies bei einem Lieferstopp alternativ über Flüssiggas aus anderen Ländern kompensiert werden kann, ist aktuell alles andere als sicher. Der Grund dafür sind knappe Transport-Kapazitäten: Die aktuellen LNG-Importterminals in Europa haben eine theoretische Umschlagskapazität von 1.715 TWh – etwas weniger, als die aktuell in die EU aus Russland importierte Erdgasmenge (1.768 TWh). Doch für eine vollständige Nutzung bzw. Kompensation fehlen die Transportkapazitäten.
Der Markt kann es nicht richten – die Politik ist gefordert
Erschwerend hinzu kommt, dass den privaten Betreibern der Gasspeicher in Deutschland aktuell ein hohes wirtschaftliches Risiko droht, wenn diese ihre Kavernen mit teurem Erdgas aus LNG-Importen auffüllen: Der russische Versorger Gazprom wäre jederzeit in der Lage, den Markt mit billigem Gas zu fluten und damit „den europäischen Gasimporteuren einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden zufügen“, so die Forscher der Leopoldina in ihrer Ad-hoc-Stellungnahme vom 8. März.
„Dieses Dilemma könnte die EU überwinden, wenn sie kurzfristig eine gemeinschaftliche Strategie entwickelt, um die Importe für Flüssiggas zu erhöhen sowie die Nachfrage nach Erdgas zu reduzieren und somit die Speicher so weit wie möglich vor dem Winter zu befüllen“, so die Wissenschaftler. Und das dazu vorgeschlagene Maßnahmenpaket dürfte für den grünen Teil der Ampel-Koalition eine schwer verdauliche Kröte darstellen: Strom soll demnach möglichst schnell nicht mehr aus Gaskraftwerken, sondern aus Braunkohle kommen, um die Gasvorräte zu schonen. 2020 wurden für die Stromversorgung in Deutschland 174 TWh Erdgas eingesetzt. Diese Kapazität ließe sich kurzfristig durch heimische Kohle ersetzen. Weil der europäische Emissionshandel ETS greift, würde der Rückgriff auf Kohle laut Leopoldina nicht zu Lasten des eingeschlagenen Transformationspfads hin zur Klimaneutralität gehen. Doch eines ist klar: Die Maßnahmen haben ihren Preis.
Energieintensive Produktion wird unwirtschaftlich
Relativ emotionslos sehen die Wissenschaftler auch Gas-Einsparungen in der Industrie: "Für Entspannung wird auch die Tatsache sorgen, dass energieintenisive Produktionsprozesse hierzulande aufgrund des hohen Gaspreises unwirtschaftlich werden und die Produktion in einigen Industriesektoren heruntergefahren werden wird." Zudem scheint es laut Leopoldina sehr wahrscheinlich, dass der europäische Bedarf an LNG das globale Angebot verknappen wird und zu „langanhaltenden Preiserhöhungen“ führen wird.
Und genau hier liegt das Problem für die Industrie: Unternehmen, die in Europa produzieren und auf dem Weltmarkt bestehen müssen, würden ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren - vor allem dann, wenn sich zusätzlich regionale Preisunterschiede beispielsweise zwischen den USA und Europa bzw. Asien und Europa manifestieren würden. Bereits im Herbst 2021 hatten energieintensive Aluminium-Hersteller ihre Produktion aus diesem Grund gedrosselt und europäische Chemiekonzerne wie BASF, SKW und Yara aufgrund der hohen Gaspreise ihre Düngemittelproduktion zurückgefahren (wir berichteten).
Und in der Chemie droht noch weiteres Ungemach: An den ausgedehnten Standorten (Chemieparks) arbeiten die Unternehmen häufig in Stoff-Verbünden. Drosselt ein Hersteller einer Grundchemikalie wie zum Beispiel Ammoniak seine Produktion oder stellt diese sogar ein, fehlt anderen Betrieben am Standort der Basis-Rohstoff. In einem Handelsblatt-Artikel vom 10.03.22 wird beispielsweise Christof Günther, Geschäftsführer des Chemieparkbetreibers Infraleuna zitiert: "Wenn sich das Preisniveau nicht ermäßigt, sind Produktionsdrosselungen und gegebenenfalls auch Abstellungen unausweichlich."
Doch die hohen Preise werden nicht nur in der Wirtschaft zu Verwerfungen führen – auch die gesellschaftlichen Folgen muss die Politik im Blick behalten und für Entlastung sorgen. Wie dies geschehen kann, ist aktuell umstritten. Über die Auswirkungen der EU-Sanktionen gegen Russland informieren wir Sie hier.
Langfristig raten die Wissenschaftler zu einem massiven Zubau von Windkraft: Ein Plus von knapp 40 % der bisher installierten Erzeugungskapazität wäre allein dafür notwendig, um den Verzicht auf russisches Gas für die Stromerzeugung zu kompensieren. Auf kurze Sicht raten die Forscher zu Einsparungen: „Ab sofort sind in den Sommermonaten mit vergleichsweise reichhaltig vorhandenem Gasangebot sämtliche Effizienzmaßnahmen zu ergreifen, die das Befüllen der Speicher befördern“, heißt es in der Stellungnahme: „Die aktuelle Situation macht es erforderlich, den Umbau des Energiesystems noch energischer als bisher voranzutreiben“, resümiert die Leopoldina.
Umbau des Energiesystems energisch vorantreiben
Wie dies im Detail erfolgen könnte, hat die Internationale Energieagentur IEA Anfang März in einem 10-Punkte-Plan (10-Point Plan to Reduce the European Union’s Reliance on Russian Natural Gas) aufgezeigt. „Niemand macht sich mehr Illusionen. Dass Russland seine Erdgasressourcen als wirtschaftliche und politische Waffe einsetzt, zeigt, dass Europa schnell handeln muss, um auf die erhebliche Unsicherheit der russischen Gaslieferungen im nächsten Winter vorbereitet zu sein", sagte IEA-Exekutivdirektor Fatih Birol. „Der 10-Punkte-Plan der IEA bietet praktische Schritte, um Europas Abhängigkeit von russischen Gasimporten innerhalb eines Jahres um mehr als ein Drittel zu verringern und gleichzeitig den Übergang zu sauberer Energie auf sichere und erschwingliche Weise zu unterstützen. Europa muss die dominante Rolle Russlands auf seinen Energiemärkten rasch reduzieren und die Alternativen so schnell wie möglich ausbauen."
Diese 10 Maßnahmen schlägt die IEA vor:
- Keine neuen Gaslieferverträge mit Russland unterzeichnen. [Auswirkung: Ermöglicht eine größere Diversifizierung der Versorgung in diesem Jahr und darüber hinaus.]
- Ersetzen der russischen Lieferungen durch Gas aus alternativen Quellen [Auswirkung: Erhöhung des nicht-russischen Gasangebots um rund 30 Milliarden Kubikmeter innerhalb eines Jahres]
- Einführung von Mindestspeicherverpflichtungen für Gas [Auswirkung: Erhöht die Widerstandsfähigkeit des Gassystems bis zum nächsten Winter].
- Beschleunigung des Ausbaus neuer Wind- und Solarprojekte [Auswirkung: Verringerung des Gasverbrauchs um 6 Milliarden Kubikmeter innerhalb eines Jahres].
- Maximierung der Stromerzeugung aus Bioenergie und Kernkraft [Auswirkung: Verringerung des Gasverbrauchs um 13 Milliarden Kubikmeter innerhalb eines Jahres].
- Kurzfristige steuerliche Maßnahmen für unerwartete Gewinne, um schwache Stromverbraucher vor hohen Preisen zu schützen [Auswirkung: Senkung der Energierechnungen, selbst wenn die Gaspreise hoch bleiben].
- Beschleunigung des Austauschs von Gaskesseln durch Wärmepumpen [Auswirkung: Verringerung des Gasverbrauchs um weitere 2 Milliarden Kubikmeter innerhalb eines Jahres]
- Beschleunigung der Verbesserung der Energieeffizienz in Gebäuden und in der Industrie [Auswirkung: Verringerung des Gasverbrauchs um fast 2 Milliarden Kubikmeter innerhalb eines Jahres].
- Förderung einer vorübergehenden Thermostatreduzierung um 1 °C durch die Verbraucher [Auswirkung: Verringerung des Gasverbrauchs um etwa 10 Milliarden Kubikmeter innerhalb eines Jahres].
- Verstärkte Anstrengungen zur Diversifizierung und Dekarbonisierung der Flexibilitätsquellen des Stromsystems [Auswirkung: Lockerung der engen Verbindung zwischen der Gasversorgung und der Stromversorgungssicherheit in Europa]
Fazit: Auf Europa und Deutschland kommen im Hinblick auf die Energieversorgung turbulente Zeiten zu. Doch bei allen kurzfristigen Verwerfungen - der russische Überfall auf die Ukraine könnte den von der EU bereits zuvor geplanten Umbau der europäischen Energieversorgung massiv beschleunigen. In der Zwischenzeit müssen Lösungen gefunden werden, um die Wettbewerbsfähigkeit und Existenz der Industrie zu sichern.
Alle aktuellen Entwicklungen zu den Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf die Industrie lesen Sie in unserem Newsticker zum Thema.
Bilderstrecke: Das sind die größten ausländischen Firmen in Russland

Auf Platz 10 in diesem Ranking landet das einst schwedische, mittlerweile aber niederländische Möbelhaus Ikea. Das Unternehmen ist seit dem Jahre 2000 in Russland tätig und machte dort 2020 einen Umsatz von 2,92 Milliarden Euro. (Bild: André Grohe/Ikea)

Der südkoreanische Elektronikkonzern Samsung Electronics ist bereits seit 1991 in Russland vertreten. In 2020 machte Samsung dort einen Umsatz in Höhe von 2,93 Milliarden Euro und landet damit auf dem neunten Platz. (Bild: saiko3p/adobe.stock.com)

Platz 8 im Ranking geht an den japanischen Autobauer Toyota Motor. 2020 machte das Unternehmen 3,14 Milliarden Euro Umsatz in Russland, wo es seit 2002 tätig ist. (Bild: Toyota)

Den siebten Platz der größten ausländischen Firmen in Russland kann sich der Elektronik-Gigant und Samsung-Rivale Apple sichern. Von den zehn im Ranking aufgeführten Unternehmen kam Apple als letztes nach Russland, nämlich erst im Jahre 2011. 2020 machte der Konzern dort 3,17 Milliarden Euro Umsatz. (Bild: Apple)

Die Groupe Auchan (Platz 6) ist eine französische Warenhauskette, die seit 2002 auch in Russland agiert. 2020 betrug der dortige Umsatz des Unternehmens 3,26 Milliarden Euro. (Bild: WDnet Studio/adobe.stock.com)

Auf Platz 5 landet die Groupe Renault, der zweite Autohersteller im Ranking. Das Unternehmen ist seit 1998 in Russland vertreten und machte dort i2020 einen Umsatz von 3,69 Milliarden Euro. (Bild: Renault)

Ein Jahr nach Renault, also 1999, kam auch das Unternehmen Japan Tobacco International (JTI) nach Russland. Anders als es der Firmenname vermuten lassen würde hat JTI seinen Sitz in der Schweiz. In Russland machte der Tabakkonzern 2020 einen Umsatz in Höhe von 3,7 Milliarden Euro. (Bild: beeboys/adobe.stock.com)

Der dritte Autobauer und zugleich auf dem dritten Platz im Ranking ist die Volkswagen Group. Das Unternehmen ist seit 2003 in Russland tätig und konnte dort 2020 einen Umsatz in Höhe von 3,8 Milliarden Euro verzeichnen. (Bild: Volkswagen)

Den zweiten Platz im Forbes-Ranking kann sich der französische Heimwerker- und Gartenhändler Leroy Merlin ergattern. Das Unternehmen agiert seit 2004 auch in Russland und machte dort in 2020 einen Umsatz von 4,13 Milliarden Euro. (Bild: Alexandr Blinov/adobe.stock.com)

Das größte ausländische Unternehmen in Russland und damit der Spitzenreiter in diesem Ranking ist Philip Morris International, ein amerikanischer Hersteller von Tabakprodukten. Bereits seit 1992 ist der Konzern auch in Russland tätig. 2020 betrug der Umsatz von Philip Morris in Russland 4,3 Milliarden Euro. (Bild: Vitezslav Vylicil/adobe.stock.com)
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