KI und Autonomie als Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit
Interview mit Sebastian Mahler, Covestro und Namur
Seit einem Jahr ist Sebastian Mahler im Vorstand der Namur. Im Interview erklärt der Leiter der Prozessleittechnik von Covestro, warum die Namur in wirtschaftlich schwierigen Zeiten als strategischer Kompass dient, welche Schwerpunkte der neue Vorstand setzt und wieso autonome Anlagen und KI der Schlüssel für die Zukunft der Prozessindustrie sind.
„Autonomie bedeutet ja gerade, dass die KI selbstständig Entscheidungen trifft.“Sebastian Mahler, VP Head of Process Control Technology, Covestro(Bild: Covestro)
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Zur Person
Sebastian Mahler, VP Head of Process Control Technology im Globalen Engineering von Covestro, verantwortet die Bereiche PCT Projects, Automation, Elektrotechnik, PAT, Funktionale Sicherheit und Instrumentierung. Der studierte Maschinenbauingenieur ist seit 2006 bei Covestro und zuvor Bayer in verschiedenen Führungspositionen tätig. 2024 wurde er in den Vorstand der Namur gewählt.
CHEMIE TECHNIK: Herr Mahler, Sie sind seit November letzten Jahres im Vorstand der Namur. Wie fällt Ihre persönliche Zwischenbilanz nach dem ersten Jahr aus? Sebastian Mahler: Ich bin sehr herzlich in der Namur-Familie aufgenommen worden. Es ist ein exzellentes Netzwerk mit hoher Fachkompetenz und leidenschaftlichen Experten. Für mich persönlich dient die Namur als strategischer Kompass, der bei der Bewertung und Priorisierung von industriellen Trends sehr wertvoll ist. Sie ist mehr als nur ein Expertenverein – sie ist eine wichtige Plattform für Entscheider, die die digitale Transformation lenken. Das letzte Jahr war jedoch auch ein Härtetest: In einem schwierigen wirtschaftlichen und geopolitischen Umfeld hat die Namur echte Nehmerqualitäten bewiesen. Viele der Mitgliedsunternehmen sind stark mit internen Transformationsprozessen und Kosteneinspar-Programmen beschäftigt. Doch gerade in diesen Zeiten ist der Mehrwert der Namur besonders wichtig, da wir als Konstante Orientierung bieten und Expertenwissen teilen. Zur realistischen Selbsteinschätzung gehört aber auch, dass die Geschwindigkeit bei der Implementierung neuer Technologien aufgrund der wirtschaftlichen Lage noch Potenzial nach oben hat. Technologien müssen heute direkt messbare Wertbeiträge mit sehr kurzen Amortisationszeiten liefern, schwierige Voraussetzungen für Pilotprojekte.
CHEMIE TECHNIK: Welche neuen Schwerpunkte setzt der Vorstand? Sebastian Mahler: Wir streben keine Revolution an, sondern eine Evolution auf der wunderbaren Basis, die unsere Vorgänger geschaffen haben. Klar ist aber, dass wir den Fokus angesichts der wirtschaftlichen Lage verschieben müssen. Wir müssen den Wertbeitrag, den die Automatisierung leisten kann, noch konsequenter in den Vordergrund stellen. Die letzten Jahre wurden viele wertvolle Grundlagen erarbeitet und jetzt geht es darum, die reifen Früchte zu ernten und die Benefits zu heben. Dafür können wir als Namur den Austausch praktischer Erfahrungen zwischen den Firmen fördern, um die Umsetzungsgeschwindigkeit zu steigern. Denn wenn jeder nochmal aufs Neue seine eigenen Erfahrungen im Feld machen muss, dann werden wir als Branche zu langsam sein. Kommunikation ist ein Schwerpunktthema – wir wollen den Mehrwert der Namur klarer vermitteln, die „Marke“ stärken und so Nachwuchskräfte für unsere Arbeit begeistern. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Thema Security, wo wir eine eigene Taskforce gegründet haben. Denn hier gibt es sowohl angesichts der Bedrohungslage als auch aufgrund der neuen Regulatorik, sei es CRA oder NIS 2, eine Unsicherheit bei Anwendern und Herstellern. Unser Ziel ist es, den konstruktiven Dialog mit den Herstellern und Gesetzgebern zu intensivieren.
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CHEMIE TECHNIK: Sie sprachen von „reife Früchte ernten“. Können Sie das konkretisieren? Sebastian Mahler: Ein gutes Beispiel ist Ethernet-APL, also der Advanced Physical Layer. Die Technologie ist bereit und bietet klare Vorteile, wie wir in der erfolgreichen Namur-Taskforce gezeigt haben. Die in diesem Jahr veröffentlichte APL-Wirtschaftlichkeitsstudie, die Covestro gemeinsam mit Bayer, Lanxess und Currenta bei der TH Köln beauftragt hat, zeigt, dass APL auch hinsichtlich der Investitionskosten attraktiv sein kann. In der industriellen Praxis sehen wir aber noch keine breite Implementierung, da viele Unternehmen erst eigene Erfahrungen sammeln wollen. Hier kann die Namur einen echten Mehrwert bieten, indem wir Implementierungserfahrungen gemeinschaftlich austauschen. Das ermöglicht es den Unternehmen, klarere und schnellere Investitionsentscheidungen – also zum Beispiel pro APL – zu treffen. Voraussetzung für eine großflächige Implementierung ist allerdings ein klares Commitment auf Herstellerseite für ein entsprechendes Produktportfolio – hier brauchen wir weiterhin volles Engagement bei der Produktentwicklung.
CHEMIE TECHNIK: Auf der diesjährigen Hauptsitzung steht das Zielbild der autonomen Anlage im Zentrum. Was macht dieses Ziel so attraktiv und auch notwendig? Sebastian Mahler: Effizienz ist heute unser entscheidender Wettbewerbsfaktor, und die autonome Anlage kann hier einen entscheidenden Beitrag leisten. Gerade in einer Hochkostenregion wie Europa. Wir können hier unsere Standortvorteile wie hochqualifizierte Mitarbeitende, Forschungskooperationen mit exzellenten Hochschulen und ein starkes Herstellerökosystem ausspielen. Das Potenzial von autonomen Anlagen ist groß: Sie verbessern die Produktionsqualität, erhöhen die Anlagenverfügbarkeit und steigern die Prozessstabilität, was einen wichtigen Beitrag zur Senkung der Produktionskosten leistet. Notwendig wird dies durch den akuten wirtschaftlichen Handlungsdruck, aber auch durch unsere Nachhaltigkeitsziele. Eine präzisere Prozessführung optimiert den Ressourcen- und Energieeinsatz. Zudem ist die autonome Anlage eine Antwort auf den zunehmenden Fachkräftemangel. Für uns ist die Automatisierung und Digitalisierung die Strategie, um Profitabilität, demografischen Wandel und Nachhaltigkeit ganzheitlich zu ermöglichen.
In einem Polyesterbetrieb in Dormagen unterstützt KI die Mitarbeiter – und steuert eine Produktionslinie inzwischen sogar komplett autonom.(Bild: Covestro)
CHEMIE TECHNIK: Sie haben bei Covestro mit einer autonomen Polyesteranlage bereits ein Leuchtturmprojekt realisiert und letztes Jahr auf der Namur-Hauptsitzung vorgestellt. Welche Erfahrungen haben Sie seit dem Start gesammelt? Sebastian Mahler: Das Projekt ist mittlerweile im erfolgreichen Dauerbetrieb und die Autonomie ist zum betrieblichen Alltag geworden. Die Produktionsstraße läuft autonom von der Auftragsannahme bis zur Logistik. Wir sehen messbare wirtschaftliche Vorteile durch Kapazitätssteigerungen und signifikante Effizienzgewinne durch die KI-Optimierung. Die Mitarbeitenden reagieren sehr positiv, da ihr Fokus nun auf höherwertigen Tätigkeiten liegt, statt auf Routineaufgaben. Das zeigt: Die KI ersetzt nicht den Menschen, sondern fokussiert die limitierte menschliche Arbeitskraft auf komplexere Aufgaben. Diese Anlage ist unser Leuchtturmbetrieb, und die Erkenntnisse fließen direkt in unsere digitale Transformationsstrategie und die Ausweitung der KI-Implementierung in anderen Betrieben ein.
CHEMIE TECHNIK: Sie rollen die Technologie also auf andere Anlagen aus. Wie sieht dabei die übergeordnete KI-Strategie von Covestro aus? Sebastian Mahler: KI ist eine zentrale Säule unserer Unternehmensstrategie. Wir sehen sie als Mittel zur Überwindung menschlicher Limitationen bei Kapazität, Geschwindigkeit und Komplexität. Wir verfolgen eine Kombination aus Top-down- und Bottom-up-Ansatz. Das heißt, wir haben klare strategische Leitplanken, befähigen aber gleichzeitig Hunderte von Mitarbeitenden in unserer AI Academy, selbst Anwendungsfälle in ihren Bereichen zu identifizieren und umzusetzen. Langfristprognosen bei der exponentiellen Entwicklung von KI sind nahezu unmöglich, daher positionieren wir uns so, dass wir den Wandel bestmöglich mitgestalten können. Konkret fokussieren wir drei Bereiche: KI-Assistenten für alle Mitarbeitenden, KI-Überwachung zur Anomalieerkennung und KI-Optimierung in den Prozessanlagen, die für optimale Betriebsbedingungen und Prozessparameter sorgen.
CHEMIE TECHNIK: Welche Rolle wird der Mensch in einer immer autonomeren Produktionswelt spielen und welche Kompetenzen werden für Ingenieurinnen und Ingenieure in Zukunft entscheidend sein? Sebastian Mahler: Das Zielbild ist eine Synergie zwischen Mensch und Maschine. Autonomie bedeutet ja gerade, dass die KI selbstständig Entscheidungen trifft. Das ist bereits Realität, wenn auch bisher in Leuchtturmprojekten. Ich sehe hier einen unaufhaltsamen Trend, den wir aktiv vorantreiben, aber auch gut begleiten müssen. Für die Ingenieurinnen und Ingenieure von morgen wird ein interdisziplinäres Verständnis immer wichtiger – also breites Wissen über die Schnittstellen von Automatisierung, IT und Verfahrenstechnik. Gefragt sind systemisches Denken, Kollaborationsfähigkeit und Adaptionsfähigkeit durch kontinuierliches Lernen. Führungskräfte benötigen zudem Transformationskompetenz, strategisches Denken und EQ, also emotionale Intelligenz, um die Menschen in den Mittelpunkt des Wandels zu stellen.
Die Mitarbeitenden mit ihrer Expertise sind es, die uns den Weg in die autonome Zukunft ebnen. Genau diese Herausforderung, die eine riesige Möglichkeit zur Wertschöpfung ist, macht die digitale Transformation für mich so unglaublich spannend.