Dr. Felix Hanisch, Bayer, Vorstandsvorsitzender der Namur.

"Wir verwandeln Technologien in Anwendungen, um einen nachhaltigen Wert für unsere Geschäftsmodelle zu erzeugen."Dr. Felix Hanisch, Bayer, ist Vorstandsvorsitzender der Namur. (Bild: Redaktion)

  • Prozessautomation liefert aus Sicht der Namur Antworten auf die Problemfelder Fachkräftemangel, Energiekrise und Nachhaltigkeit.
  • Der Datenaustausch zwischen verschiedenen Unternehmen der Prozessindustrie (Process-X) soll neue Nutzanwendungen ermöglichen.
  • Gemeinsam mit dem Herstellerverband ZVEI will die Namur ein Gesamtbild für die Prozessautomation entwickeln.

Parallel zum Parteitag der Grünen zeigten sich auch die Tekkies der Namur grün: Nicht nur das Thema „Nachhaltigkeit“ zog sich als inhaltlicher roter Faden durch die beiden Konferenztage des Anwendertreffens in Neuss, auch der Sponsor präsentierte sich inhaltlich und optisch grün: Gemeinsam mit Schneider Electric hatte sich der Anwenderverein Namur für das Treffen der Prozessautomatisierer im November das Thema „Open Automation and Digitalization for Sus­tainability and Efficiency“ gewählt. Und wie auch beim Treffen der Grünen in Karlsruhe gab es in Neuss Kröten zu schlucken: Werden wir angesichts des demografischen Wandels künftig in Chemieanlagen noch die Mindest-Schichtbesetzungen hinkriegen? „Eher nicht“, schätzt Namur-Vorstand Tobias Schlichtmann, BASF. Werden wir in zehn Jahren noch Prozessleitsysteme haben? „Lieber nicht!“ meint Namur-Vorstand Dr. Felix Hanisch, Bayer.

Die beiden Meinungen werfen zwei Schlaglichter auf die aktuell drängenden Fragen für Betreiber von Prozessanlagen – aber es gibt noch weitere: Wie kann es diesen gelingen, angesichts der Aspekte Demografie und Fachkräftemangel, Energiekrise und Nachhaltigkeitsdruck weiterhin profitabel zu produzieren? Und: Wie kann das in Regionen wie Deutschland und Europa gelingen, in denen Energie spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine teuer ist und qualifizierte Arbeitskräfte rar werden?

Digitalisierung über Unternehmensgrenzen hinweg

Für die Prozessautomatisierer liegt die Antwort auf der Hand: Digitalisierung und Automatisierung sollen es richten. Die Namur malte dazu gemeinsam mit ihrem Sitzungssponsor Schneider Electric ein schlüssiges Gesamtbild, in dem die Automatisierung einen deutlich erweiterten Scope erhält: IoT-basierte Digitalisierung soll künftig nicht mehr nur anlagenspezifisch realisiert werden, sondern über Betriebs-, Unternehmens- und Sektorengrenzen hinweg. Und damit die Entscheider an den Unternehmensspitzen die neue Bedeutung der Prozessautomation auch tatsächlich verstehen, sollen Anwendungsbeispiele – neudeutsch „use cases“ – diese verdeutlichen. „Wir verwandeln Technologien in Anwendungen, um einen nachhaltigen Wert für unsere Geschäftsmodelle zu erzeugen“, brachte Felix Hanisch das Selbstverständis der Automatisierer auf den Punkt und unterstrich, dass auch die klassischen Aufgaben – nämlich Anlagen sicher, zuverlässig und effizient zu betreiben – weiterhin zentral bleiben.

Dr. Barbara Frei verantwortet als Executive Vice President das globale Industriegeschäft von Schneider Electric.
"Automatisierung schafft die Grundlagen, um nicht nur die Energiekrise zu bewältigen, sondern gleichzeitig auch die Klimakrise."
Dr. Barbara Frei verantwortet als Executive Vice President das globale Industriegeschäft von Schneider Electric. (Bild: Redaktion)

Caspar Herzberg, CEO der Software-Schmiede Aveva, die Teil des Schneider-Konzerns ist, hatte dazu gleich die nächste Kröte in petto: „Um Nachhaltigkeit, Profitabilität und Energieeffizienz zu steigern, müssen wir vor allem Daten zusammenbringen und analysieren. Doch die digitale Transformation scheitert bislang in 70 Prozent der Unternehmen, weil es nicht gelingt, die Silos aufzubrechen.“ Optimismus verbreitete dagegen Dr. Barbara Frei, die als Executive Vice President das globale Industriegeschäft von Schneider Electric verantwortet: „Die Technologien sind da, aber man muss über die Unternehmens- und Sektorengrenzen hinweg zusammenarbeiten.“ Frei ist überzeugt: „Automatisierung schafft die Grundlagen, um nicht nur die Energiekrise zu bewältigen, sondern gleichzeitig auch die Klimakrise.“

In der Vision „Automatisierung 2027“ beschreibt die Namur, wie die neuen Technologien über das Bindeglied „Verwaltungsschale“ zusammenwirken
In der Vision „Automatisierung 2027“ beschreibt die Namur, wie die neuen Technologien über das Bindeglied „Verwaltungsschale“ zusammenwirken. (Bild: Redaktion)

Process-X: neuer Datenmarktplatz für neue Anwendungen

Dieser Vision folgen auch die in der Namur organisierten Anwender – nicht nur auf der Feld- und Prozessleitebene in den Anlagen, sondern auch darüber hinaus: Die Branche hat die zur Hannover Messe 2023 vorgestellte Idee einer herstellerneutralen Datenplattform („Manufacturing X“) aufgegriffen und plant ein „Process-X“-Konsortium, das die Voraussetzungen für den Datenaustausch zwischen verschiedenen Unternehmen der Prozessindustrie schaffen soll. Konkrete Nutzanwendungen könnten beispielsweise ein Marktplatz für bislang ungenutzte Abwärme an Industriestandorten, eine datengetriebene Vorhersage des Dampfbedarfs in Anlagen oder automatische Updates für die „As-Built-Dokumentation“ sein, die künftig nicht nur eine automatische SIL-Berechnung von Sicherheitseinrichtungen ermöglichen könnte, sondern auch eine automatisierte Kalkulation des aktuellen Carbon-Footprints einer Produktion. Letzteres ist insbesondere deshalb wichtig, weil die Betreiber von Prozessanlagen nicht nur im Rahmen der europäischen CSRD-Richtlinie immer häufiger zu einer Nachhaltigkeits-Berichterstattung gezwungen sind, sondern auch deren Kunden für Produkte Angaben zu CO2-Emissionen erwarten müssen (Scope-2- und -3-Ziele).

Dass dies nicht nur immer mehr Verwaltungsaufwand bedeutet, sondern auch Nutzen schafft, ist die Überzeugung von Jessica Bethune, Vice President Industrial and Process Automation bei Schneider Electric: „Ein von Nachhaltigkeit geprägtes Mindset kann gerade in Krisenzeiten große Vorteile in Sachen Unternehmensresilienz bringen.“ Schlüssel dafür sei es, Produktions-, Gebäude- und Energiedaten zusammenzubringen und verschiedene Abhängigkeiten systemweit sichtbar zu machen.

Und hier verlassen wir schließlich wieder die strategische Flughöhe und nähern uns den Technik-Themen. Denn das erweiterte Gesamtbild der Prozessautomation muss auch aus der Feldebene mit Daten gefüttert werden. Und das soll künftig durchaus anders geschehen als bisher: auf der einen Seite mit offenen Automatisierungskonzepten. Bei diesen – so der Wunsch von Anwendern wie Felix Hanisch – sollen monolithische Prozessleitsysteme keine Rolle mehr spielen, sondern könnten, so die Vision von Schneider Electric, Hard- und Software voneinander entkoppelt werden, um Software-Objekte unabhängig von der Hardware wiederverwerten zu können. Beispielsweise Steuerrezepturen einer Anlage, die bisher für die neue Hardware in der Regel neu programmiert werden müssen. Schneider verfolgt dazu den Ansatz der IEC-Norm 61499 und folgt mit der neuen Interessensgruppe Universalautomation.org dem Muster anderer Hersteller, die für neue Technologien Nutzerorganisationen gründen oder unterstützen. Wie diese mit dem Ansatz der Open Process Automation Foundation zusammengeht, steht auf einem anderen Blatt.

Michael Pelz ist Namur-Vorstand und Automation & Digitization Manager bei Heubach
„Nur über Technologie oder über einzelne Anwendungsfälle zu reden, reicht nicht mehr. Wir müssen die Use Cases zu einem Gesamtbild verknüpfen." Michael Pelz ist Namur-Vorstand und Automation & Digitization Manager bei Heubach (Bild: Redaktion)

Vom Nerd-Thema zum Gesamtbild

Andererseits sollen in der schönen erweiterten Welt der Prozessautomation all die Akronyme ihre Wirksamkeit entfalten, die von den Tekkies seit Jahren diskutiert und entwickelt werden: APL, MTP, NOA, OPAF, OPC UA usw. Die Namur-Vorstände Michael Pelz, Heubach, und Dr. Igor Stolz, Evonik, stellten gemeinsam mit Andreas Schüller, Yncoris, die Vorstellung der Namur vor, wie ein modernes Automatisierungskonzept damit aussehen wird und welchen Nutzen dieses schaffen kann. Ein Beispiel zeigte Andreas Schüller anhand der As-built-Dokumentation beim Austausch defekter Geräte: Bislang müssen die Ingenieure beim Gerätetausch zahlreiche Informationen aus verschiedenen (Papier-)Quellen händisch einsammeln und im CAE-System dokumentieren, um beispielsweise den digitalen Zwilling einer Anlage aktuell zu halten. Mit der Namur Open Architecture (NOA) und dem Datenformat PA-DIM ist es dagegen möglich, den Großteil dieser Arbeiten zu automatisieren.

Igor Stolz zeigte, wie die Modulautomation (MTP) dazu genutzt werden kann, die Effizienz im Engineering drastisch zu steigern – beispielsweise dann, wenn in einer Anlage eine Package Unit installiert wird. Im klassischen Fall wird das vorhandene Engineering des Lieferanten verworfen und die Steuerung der Einheit im Leitsystem der Gesamtanlage neu geplant. Mit MTP wird dieser Aufwand überflüssig.

„Nur über Technologie oder über einzelne Anwendungsfälle zu reden, reicht nicht mehr. Wir müssen die Use Cases zu einem Gesamtbild verknüpfen“, ist Michael Pelz überzeugt. Gemeinsam mit dem Herstellerverband ZVEI will die Namur dieses Gesamtbild entwickeln. Wichtig sind dazu einheitliche Schnittstellen für die Assets. Im Sinne der Industrie 4.0 ist dies die sogenannte Verwaltungsschale, die als digitaler „Vertreter“ eines physischen oder virtuellen Objekts dazu dient, umfassende Informationen und Daten über das Objekt bereitzustellen. Die Verwaltungsschale fungiert im Zukunftsbild „Automation 2027“ der Namur als Bindeglied zwischen den oben genannten Technologien wie NOA, APL, MTP und anderen und hilft zu vermeiden, dass für einzelne Anwendungen individuelle Insellösungen geschaffen werden müssen.

Dr. Kai Dadhe ist Vice President Digital Process Technologies bei Evonik
„KI kann heute noch keine Anlagen steuern und wird dies wahrscheinlich auch in Zukunft nicht können."
Dr. Kai Dadhe ist Vice President Digital Process Technologies bei Evonik (Bild: Redaktion)

Steuert künstliche Intelligenz künftig die Anlagen?

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von ChatGPT durfte natürlich auch das Thema künstliche Intelligenz auf dem diesjährigen Namur-Treffen nicht fehlen. Und in mehreren Vorträgen wurde deutlich, dass sich die Prozessautomatisierer schon lange mit den Möglichkeiten von KI beschäftigen. Dr. Kai Dadhe, Evonik, und Prof. Dr. Sebastian Engell, TU Dortmund, suchten im Forschungsprojekt KEEN Antworten auf die Frage: Wird KI künftig unsere Anlagen steuern? Vor allem die Idee, ob die Auswertung historischer Prozessdaten per KI dazu genutzt werden kann, um Prozesse zu optimieren, stand dabei im Vordergrund. Denn bislang müssen mit großem Aufwand mathematische Modelle erstellt werden, in denen die physikalischen und chemischen Zusammenhänge und die Abhängigkeit von Prozessvariablen möglichst exakt nachgebildet sind (rigorose Modellierung). Das Ergebnis: KI kann in Prozessdaten zwar Korrelationen erkennen, aber keine verfahrenstechnischen Zusammenhänge. „KI kann heute noch keine Anlagen steuern und wird dies wahrscheinlich auch in Zukunft nicht können“, so Kai Dadhe: „Aber wir wollen KI dazu nutzen, um uns bei einem optimalen Anlagenbetrieb zu unterstützen.“

Fazit: Auf der Namur-Hauptsitzung 2023 hat der Anwenderverein die von ihm unterstützten Technologien zu einem Gesamtbild verknüpft, das die drängenden Ziele einer nachhaltigen Industrie mit zunehmend autonomen Produktionsanlagen unterstützt. Obwohl die grundlegenden Aufgaben eines sicheren und wirtschaftlichen Anlagenbetriebs bleiben, steigen damit Anspruch und  Flughöhe der Prozessautomatisierer. Entscheidend wird sein, ob sich diese in ihren Unternehmen beim Management mit ihrer Vision Gehör verschaffen können – oder ob es gelingen wird, diese ebenfalls nach Neuss einzuladen. Denn auch das Motto der kommenden Veranstaltung, die von Emerson unterstützt werden wird, verspricht einen ganzheitlichen Blick auf die Digitalisierung: „Boundless Automation for Ecosystems in Action.“

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