- Die Prozessindustrie setzt auf autonome Anlagen, KI-gestützte Prozesssteuerung und softwaredefinierte Automatisierung, um Effizienz, Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
- Initiativen wie Process-X zeigen, wie sicherer Datenaustausch und kollaborative Plattformen die Digitalisierung der Branche vorantreiben können, erfordern jedoch ein neues Denken im Umgang mit Daten.
- Die Zukunft der Automatisierung liegt in selbstaktualisierenden Systemen und einem „Secure-by-Design“-Ansatz, der für technische Resilienz und Cybersicherheit sorgt.
Manchmal brauchen Visionen etwas länger, bis sie Wirklichkeit werden. „One man and a dog“ ist so eine: Bereits in den 1970er Jahren beschrieben Ingenieure der britischen Postverwaltung damit ihre Vorstellung von der Automatisierung ihrer Sortieranlagen: In hochautomatisierten Fabriken soll der Mensch nur noch wenig Einfluss haben - er ist dann nur noch dazu da, einen Hund zu füttern, der wiederum dafür sorgt, dass der Mensch die Maschinen nicht stört. Auf dem Anwendertreffen der Prozessautomatisierer (Namur-Hauptsitzung) im November war man sogar schon einen Schritt weiter: Auch der Hund ist inzwischen ein Roboter und läuft weitgehend autonom durch Chemiebetriebe und versorgt sich selbst an der Steckdose. Doch der Reihe nach:
Dr. Gunther Kegel, ZVEI-Präsident und Vorstandsvorsitzender von Pepperl+Fuchs, zeigte gleich zu Beginn die wichtigsten Herausforderungen für die Prozessautomation in den kommenden Jahrzehnten auf. Denn diese muss die Megatrendthemen Dekarbonisierung, Digitalisierung, De-Risking und Demografie flankieren, die strukturelle Veränderungen für die Industrie bedeuten. Und die Bedeutung ist kaum zu unterschätzen, denn Automatisierung ist nicht nur der Schlüssel um den Energieverbrauch von Anlagen zu senken, sondern schafft auch die Basis für einen Datenraum, der neue datenbasierte Geschäftsmodelle begünstigt - doch dazu später mehr. „Die zunehmende Komplexität der Prozesse erfordert neue Ansätze für das Risikomanagement und die Fachkräftesicherung“, betonte Kegel. Während es beim De-Risking vor allem um robuste und belastbare Systeme gehe, stehe die Industrie vor einem grundlegenden demografischen Wandel mit der Herausforderung eines dramatischen Fachkräftemangels. KI könnte hier ein Teil der Lösung sein, indem sie Routineaufgaben übernimmt und den Menschen entlastet.
Datensilos ade
Wie dies gelingen kann, zeigte der Automatisierungsanbieter Emerson, Sponsor der diesjährigen NAMUR-Hauptversammlung. Ziel der von Emerson vorgestellten „Boundless Automation“ ist eine Automatisierungslandschaft ohne Datensilos, ermöglicht durch offene Standards, Vernetzung und neue Technologien. Peter Zornio, CTO von Emerson, erläuterte, wie sich moderne Technologien wie Ethernet-APL, Edge Computing und Cloud-Anwendungen in einer einheitlichen Datenstruktur verbinden lassen. „Diese Architektur ermöglicht es Unternehmen, Daten sicher und effizient zu nutzen und Prozesse dynamisch zu optimieren“, erklärte Zornio und unterstrich die Bedeutung von künstlicher Intelligenz: „In der Automatisierung wurde KI schon eingesetzt, bevor sie populär wurde. Aber die neuen multimodalen Modelle bieten eine noch nie dagewesene Möglichkeit, Prozesse mit Daten aus verschiedenen Quellen zu optimieren“.
„Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sind komplexer und vernetzter als je zuvor. Es geht darum, Daten aus unterschiedlichen Bereichen zu nutzen und zu integrieren, um Betriebssicherheit, Nachhaltigkeit und Zuverlässigkeit zu gewährleisten“, ergänzte Roel van Doren, Group President Global Sales bei Emerson. Mit seiner Vision einer softwaregesteuerten Automatisierung verfolgt der Anbieter einen radikalen Wandel der Automatisierungsinfrastruktur hin zu einer schlanken Topologie, die aus drei Schichten besteht: Cloud, Edge und Field. Zukünftig sollen mehr Automatisierungsfunktionen und -anwendungen in die Edge verlagert werden, wo auch die Steuerung stattfindet. Die Grundlage dafür bildet eine softwaredefinierte Infrastruktur, die auf Betriebsführungssoftware basiert und dezentral betrieben wird. Ein neuer Edge-Knoten von Emerson ermöglicht die automatische Duplizierung von Daten aus dem DeltaV-Leitsystem und sorgt für eine sichere Kommunikation über Namur Open Architecture NOA. Mit Lösungen wie dem zukünftigen CHARM-basierten DeltaV APL, einem flexiblen Hochgeschwindigkeitsschalter, und der neuen drahtlosen IIoT-Sensorplattform „Synchros“ treibt Emerson die Integration moderner Technologien voran. Und weil Automatisierungssysteme mit zunehmender Vernetzung anfälliger für Cyberangriffe werden, verfolgt Emerson statt klassischer Perimeterschutzmechanismen einen neuen Secure-by-Design-Ansatz.
Dessen Bedeutung betonte auch Raphael Fritz, BASF, in seinem Plenarvortrag. „Sicherheit darf kein nachträglicher Gedanke sein, sondern muss von Anfang an in die Automatisierung integriert werden“, forderte Fritz ein neues Denken in Sachen Cyber Security. Als wesentliche Maßnahmen zur Minimierung der Angriffsfläche wurden Ansätze wie das Zero-Trust-Konzept und die Mikrosegmentierung vorgestellt. Deutlich wurde, dass die Betreiber beim Thema OT-Security immer stärker in die Pflicht genommen werden. Spätestens mit der Einführung des Cyber Resilience Act und der NIS2-Richtlinie, die in Deutschland im kommenden Jahr nationales Recht wird, sind verbindliche Standards für die IT-Sicherheit in der Prozessindustrie geschaffen worden. „Die Integration von Sicherheitsmaßnahmen ist keine Option mehr - sie ist Pflicht“, resümierte Fritz.
Namur-Vorstand: Schlichtman folgt auf Hanisch
Mit großem Applaus verabschiedete die Namur-Community ihren Vorstandsvorsitzenden Felix Hanisch. Der Leiter des Bayer-Werks in Muttenz (Schweiz) trat nach acht Jahren an der Spitze nicht mehr zur Wahl an. Als Zeichen der Anerkennung für sein Engagement wurde Hanisch von Michael Pelz mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet. „Wir werden dich vermissen!“, betonte Pelz. Sein Nachfolger wird Tobias Schlichtmann von BASF, der die Arbeit im Sinne der strategischen Weiterentwicklung der NAMUR fortführen will. Auch der Vorstand selbst wurde neu aufgestellt: Igor Stolz (Evonik) und Frank van den Boomen (Covestro) scheiden aus ihren Ämtern aus. Für sie rücken Niels Kiupel (Evonik) und Sebastian Mahler (Covestro) nach. Zum Führungsteam gehören zudem Michael Pelz (Heubach), Carlos Hedler (Bayer) und René Neijts (Dow).
Übergang zu autonomen Anlagen
Auf der Namur-Hauptsitzung 2024 wurde deutlich, dass der Begriff „Autonomie“ in der chemischen Industrie inzwischen eine neue Dimension erreicht hat. Autonome Anlagen gehen über automatisierte Systeme hinaus, indem sie auf Basis von KI eigenständige Entscheidungen treffen und Prozesse dynamisch anpassen. Von der Optimierung der Energieeffizienz bis zur vorausschauenden Wartung - die Vision einer weitgehend selbststeuernden Chemieanlage nimmt Gestalt an.
Ein Jahr, nachdem Dr. Kai Dadhe, Evonik, und Prof. Sebastian Engell, TU Dortmund, in Neuss die Ergebnisse der KI-Studie KEEN vorstellten, hat die Realität die Forschung offenbar überholt. Ein Fazit von KEEN war, dass KI zwar Korrelationen in Prozessdaten erkennen kann, aber keine verfahrenstechnischen Zusammenhänge. „KI kann heute noch keine Anlagen steuern und wird es wohl auch in Zukunft nicht können“, so Dadhe im Herbst 2023. Dass es offenbar doch geht, hat Covestro nun mit einem eindrucksvollen Beispiel gezeigt. In einem Pilotprojekt in Dormagen betreibt eine KI eine Batch-Anlage zur Polyesterproduktion völlig autonom. Der Schlüssel zum Erfolg war die Kombination aus moderner Sensorik, maschinellem Lernen und vor allem einem engagierten Team, das die digitale Transformation vorantrieb, zeigte Werksleiterin Dr. Sabine Pegel in einem mitreißenden Plenarvortrag auf. „Wir haben alles, was wir brauchen, um solche Projekte umzusetzen. Es ist an der Zeit, unsere Mitarbeiter von der Leine zu lassen“, so Sabine Pegel: „Die KI ist wie ein Student - wir müssen sie trainieren, damit sie zum Professor wird. Aber wenn sie erst einmal läuft, liefert sie uns Lösungen und Einsichten, die wir vorher nicht für möglich gehalten hätten. Für Marleen Stieler, BASF, ist Autonomie längst kein „nice to have“ mehr: „Autonomie ist kein „schöner wohnen“. Wir brauchen sie, um zu gewinnen“, stellte Stieler klar.
KI und Datenräume treiben die Transformation
Das Beispiel zeigt, dass der Einsatz von KI in chemischen Produktionsanlagen zu einem echten Gamechanger werden kann. Während herkömmliche Automatisierungstechnologien die Prozesse bereits effizienter gemacht haben, hebt KI sie auf eine neue Ebene. Sie ermöglicht nicht nur eine tiefere Analyse von Prozessdaten, sondern auch die Ableitung von Maßnahmen in Echtzeit. Dadurch werden nicht nur menschliche Fehler reduziert, sondern auch die Ressourcennutzung optimiert.
Ein zentrales Thema der Namur-Hauptsitzung war die Frage, wie KI in bestehende Infrastrukturen integriert werden kann. Insbesondere der Einsatz intelligenter Feldgeräte, die dank moderner Technologien wie Ethernet-APL große Datenmengen übertragen können, wurde als wesentlich hervorgehoben. Diese Geräte ermöglichen nicht nur die Verknüpfung von Sicherheits- und Steuerungsaufgaben, sondern schaffen auch die Grundlage für eine flexible und skalierbare Prozesssteuerung.
Die Digitalisierung macht aber längst nicht an den Betriebs- und Unternehmensgrenzen halt. Datenräume wie „Process X“ könnten in Zukunft eine zentrale Rolle bei der Digitalisierung der Prozessindustrie spielen. Denn als Plattform für den sicheren und standardisierten Datenaustausch zwischen Unternehmen könnten sie die Basis für eine unternehmensübergreifende Anlagenoptimierung werden. Auf der Namur-Hauptsitzung demonstrierten dies Felix Buss, Bayer, Udo Enste, LeiKon, und Björn Höper, LTSoft, anhand einer Dampfanlage, die durch die Integration von Process X" deutlich effizienter betrieben werden konnte. Durch den standortübergreifenden Austausch von Energieverbrauchs- und Bedarfsdaten konnten nicht nur Kosten eingespart, sondern auch CO2-Emissionen reduziert werden: „Wir müssen lernen, Daten zu teilen, um das Potenzial der Digitalisierung voll auszuschöpfen“, betonte Felix Buss. Dies erfordere jedoch ein Umdenken in der Industrie, insbesondere im Hinblick auf Sicherheitsbedenken und den Schutz geistigen Eigentums.
Autonome Automatisierungssysteme für autonome Anlagen?
Einen immer drängender werdenden Aspekt zeigten Christian Mücksch (BASF) und Andreas Neustadt (Lanxess) in ihrem Plenarvortrag auf: Bestehende Automatisierungssysteme sind häufig statisch und benötigen umfangreiche Wartungsarbeiten, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Dies führt zu hohen Kosten und Risiken, insbesondere bei Produktionsunterbrechungen. Als Gegenkonzept präsentierteten sie die Vision der Evergreen Automation, eines Automatisierungssystems, das sich kontinuierlich und ohne Ausfallzeiten aktualisiert – quasi die autonome Automation.
Ein zentraler Gedanke der Evergreen Automation ist die Vision von Automatisierungssystemen, die sich kontinuierlich selbst aktualisieren können, ohne den laufenden Betrieb zu beeinträchtigen. Im Fokus stehen dabei Technologien, die Patches und Updates automatisiert einspielen, während kritische Funktionen betriebsbereit bleiben. Dies ermöglicht eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Systeme, die sich flexibel an neue Anforderungen anpassen lassen. Automatisierte Validierungen, eine kontinuierliche Härtung der Sicherheit und eine gesteigerte Resilienz der Systeme sind in dieser Vision weitere Evolutionsschritte. Entscheidend für den Erfolg dieses Konzepts ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Betreibern und Herstellern, die gemeinsam Innovationen fördern und gleichzeitig bestehende Investitionen schützen müssen.
Automation wird von Menschen getrieben
In den Vorträgen wurde deutlich, dass der Mensch trotz aller Fortschritte ein unverzichtbarer Teil der Automatisierung bleibt. Aber: Die Zusammenarbeit von KI und Mensch erfordert eine neue Denkweise. Auf der Namur-Hauptversammlung wurde mehrfach betont, wie wichtig es ist, die Mitarbeiter in den digitalen Wandel einzubinden. Weiterbildungsprogramme und eine offene Kommunikation können helfen, Ängste abzubauen und Akzeptanz für neue Technologien zu schaffen. Dies wurde auch im Workshop „Die Rolle der KI im robotergestützten Anlagenbetrieb“ deutlich. Denn die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination von KI und Robotik ergeben, sind enorm. Autonome Roboter könnten in Zukunft nicht nur Inspektionsaufgaben, sondern auch Wartungsarbeiten übernehmen und so den Arbeitsalltag deutlich erleichtern.
Fazit: Blick in die Zukunft
Die diesjährige Namur-Hauptversammlung hat eindrucksvoll gezeigt, wie nahe die chemische Industrie der Vision autonomer Anlagen bereits gekommen ist. Gleichzeitig wurde deutlich, welche Herausforderungen auf dem Weg dorthin noch zu bewältigen sind. Von der Verbesserung der Datensicherheit bis hin zur Schaffung eines offenen Mindsets in der Branche - die nächsten Jahre werden entscheidend sein, um die Potenziale der Digitalisierung voll auszuschöpfen. Mit der Kombination aus Technologie, Innovation und menschlichem Engagement verfügt die Prozessindustrie jedoch über alle Werkzeuge, um die Zukunft aktiv zu gestalten. „75 Jahre Namur haben gezeigt, was wir erreichen können – und was es braucht, damit die Effizienzwende gelingen kann“, verdeutlichte Tobias Schlichtmann in seinen Schlussworten.
Autonome Anlagen sind keine Vision mehr, sondern greifbare Realität. Die Namur hat einmal mehr bewiesen, dass sie ein zentraler Treiber dieser Entwicklung ist: Und dass Automatisierer in Zukunft nicht nur gebraucht werden, um Roboterhunde mit Daten zu füttern!