
In einem Polyesterbetrieb bei Covestro in Dormagen unterstützt KI die Mitarbeiter – und steuert eine Produktionslinie inzwischen sogar komplett autonom. (Bild: Covestro)
- Covestro betreibt in Dormagen erstmals eine vollautonome , KI-gesteuerte Produktionslinie.
- Erfolgsfaktoren sind die digitale Datenintegration und die Einbindung der Mitarbeitenden.
- Die Anlage steigert Effizienz, spart Energie und soll auf weitere Standorte und Prozesse ausgeweitet werden.
Seit Juni 2024 läuft in der Polyesteranlage in Dormagen eine Produktionslinie, die von der Auftragsannahme über die Produktionsplanung und Fertigung bis hin zur Logistik komplett von einer KI gesteuert wird.
Die Begeisterung stand Dr. Sabine Pegel, Betriebsleiterin bei Covestro in Dormagen, ins Gesicht geschrieben, als sie auf der Namur-Hauptversammlung im November 2024 ihr Projekt vorstellte: eine Produktionslinie, die von der Auftragsannahme über die Produktionsplanung und Fertigung bis hin zur Logistik komplett von einer künstlichen Intelligenz gesteuert wird. Keine Versuchsanlage, kein Laborexperiment - sondern eine real funktionierende Produktion im industriellen Maßstab. Noch vor einem Jahr galt eine vollständig autonome Produktionsanlage in der chemischen Industrie als ferne Utopie. Die im Vorjahr an gleicher Stelle vorgestellte KEEN-Studie (Künstlich-intelligenzunterstützte Entscheidungsfindung in der Prozessindustrie) kam zu dem Ergebnis: Eine Chemieanlage, die ohne menschliches Zutun läuft und sich selbst optimiert, ist zwar theoretisch denkbar, aber auf absehbare Zeit nicht realisierbar. Zu groß seien die Herausforderungen, zu komplex die Prozesse, zu unvorhersehbar die Störungen.

Doch knapp ein Jahr später hat Covestro das bis dahin Unmögliche geschafft. Seit Juni 2024 läuft der Polyesterbetrieb in Dormagen komplett autonom. Was Prof. Sebastian Engell, einer der Köpfe hinter KEEN, noch für unwahrscheinlich hielt, hatte seine Schülerin Sabine Pegel eindrucksvoll widerlegt.
Was wie Science Fiction klingt, ist das Ergebnis jahrelanger Entwicklungsarbeit - ein Meilenstein nicht nur für Covestro, sondern für die gesamte Branche. Und das Beste daran? Das System optimiert sich selbst, lernt ständig dazu und könnte bald auch an anderen Standorten zum Einsatz kommen. In Leverkusen zum Beispiel wird derzeit eine Isocyanat-Anlage digitalisiert. Doch wie genau funktioniert der KI-gesteuerte Betrieb? Welche Herausforderungen galt es zu meistern? Und was bedeutet das für die Zukunft der Chemieproduktion?
Der Weg zur autonomen Produktion führt über saubere Daten
Automatisierung ist in der chemischen Industrie nichts Neues. Seit Jahrzehnten helfen Prozessleitsysteme, Anlagen effizienter zu betreiben. Doch zwischen klassischer Automatisierung und echter Autonomie liegen Welten. Bislang war das Eingreifen des Menschen unerlässlich - sei es, um Parameter zu optimieren, Störungen zu beheben oder den Produktionsprozess zu feinjustieren.
Dieses Paradigma hat Covestro nun aufgebrochen. Der entscheidende Faktor: eine KI, die nicht nur Daten auswertet, sondern auf Basis dieser Informationen selbstständig Entscheidungen trifft. Möglich wird dies durch die Kombination verschiedener Technologien. Maschinelles Lernen erkennt Muster in Prozessdaten und optimiert Steuerungsparameter in Echtzeit. Tiefe neuronale Netze helfen bei der Qualitätssicherung, indem sie Anomalien frühzeitig erkennen. Prädiktive Algorithmen sagen Wartungsbedarf voraus, bevor Probleme überhaupt auftreten.
Zentraler Schauplatz dieser technologischen Revolution ist der DSD-Betrieb (Dormagen Specialties and Dispersions) von Covestro. Der Standort spielt eine Schlüsselrolle in der Digitalisierungs- und KI-Strategie des Unternehmens: Als hochautomatisierte und datengetriebene Produktionsstätte für Polyesterharze und Polyurethan-Rohstoffe bietet er ideale Voraussetzungen für die Implementierung selbstlernender Algorithmen und vernetzter Steuerungssysteme. Die Dormagener Produktionslinie ist ein Beispiel dafür, wie diese Technologien ineinandergreifen. Sensoren sammeln kontinuierlich Daten - von der Temperatur über den Druck bis zur Viskosität der Rohstoffe. Diese Informationen fließen in eine zentrale Plattform, wo sie analysiert, verarbeitet und in konkrete Steuerungsbefehle umgewandelt werden. Was früher ein Schichtleiter entscheiden musste, erledigt nun ein Algorithmus in Millisekunden.
"Unsere KI hilft uns, den Chemiebetrieb der Zukunft aufzubauen, indem sie große Datenmengen analysiert und kontinuierlich optimiert", sagt Sabine Pegel und ergänzt: "KI ist wie ein Student - sie muss trainiert werden, um sich vom Anfänger zum Experten zu entwickeln.

Die Technik hinter Covestros autonomer Anlage: Wie KI eine Produktionslinie steuert
Bevor eine Anlage autonom arbeiten kann, muss die technologische Basis geschaffen werden. In Dormagen wurde dafür eine datenzentrierte Produktionsumgebung aufgebaut. Alle relevanten Anlagenkomponenten - von Pumpen und Ventilen bis hin zu Messsystemen - sind vollständig digitalisiert und vernetzt. Die Herausforderung vieler Chemieanlagen liegt in der heterogenen IT-Landschaft. Verschiedene Systeme liefern Daten in unterschiedlichen Formaten und Zeitstempeln. Covestro hat daher eine einheitliche Datenstruktur geschaffen, in der Prozessdaten aus unterschiedlichen Quellen wie Prozessleitsystem (PLS), Manufacturing Execution System (MES) und Enterprise Resource Planning (ERP) zusammengeführt werden.
Auf der Feldebene ist die Anlage mit Sensoren ausgestattet, die kontinuierlich Daten zu Druck, Temperatur, Durchfluss oder Viskosität erfassen. Diese Daten werden in Echtzeit an eine Industrie 4.0-fähige IoT-Plattform gesendet, die sie für die KI auswertbar macht. Durch diese durchgängige Digitalisierung kann die KI auf eine vollständige und synchronisierte Datenbasis zugreifen - eine Grundvoraussetzung für autonome Entscheidungen.
Natürlich geschieht eine solche Revolution nicht über Nacht. Die Einführung der KI-gesteuerten Anlage war mit zahlreichen Hürden verbunden. Eine der größten Herausforderungen war die Datenqualität. In einem Produktionsumfeld, in dem die Anlagen oft Jahrzehnte alt sind und verschiedene IT-Systeme miteinander kommunizieren müssen, ist es nicht selbstverständlich, dass Daten in der notwendigen Genauigkeit und Synchronisation vorliegen. Covestro musste daher zunächst eine einheitliche Datenstruktur schaffen, die alle relevanten Informationen kontextualisiert und miteinander verknüpft.
Doch nicht nur die Technik, auch die Menschen mussten mitgenommen werden. Denn wenn eine KI plötzlich Entscheidungen trifft, die bisher in den Händen erfahrener Chemiker lagen, kann das für Verunsicherung sorgen. Die Lösung: Transparenz und Training. Die Mitarbeiter wurden von Anfang an in den Prozess eingebunden, konnten die KI mittrainieren und verstehen, wie sie funktioniert. Dr. Sabine Pegel betont, wie wichtig dieser Faktor war: „Die Akzeptanz im Team war entscheidend. Wir haben frühzeitig darauf gesetzt, die Kolleginnen und Kollegen aktiv einzubinden, ihre Expertise in die Entwicklung der KI einfließen zu lassen. Das hat dazu geführt, dass die Skepsis schnell in Begeisterung umgeschlagen ist – weil die Leute gesehen haben, dass die KI nicht gegen sie arbeitet, sondern mit ihnen“.
Künstliche Intelligenz: das Gehirn der Anlage
Die KI-gesteuerte Produktionslinie arbeitet mit einem hierarchischen Steuerungssystem: In der Prozesssteuerungsebene laufen die Regelalgorithmen, die Parameter (z.B. Temperatur, Druck, Durchfluss) in Echtzeit anpassen. In der Überwachungsebene erkennen KI-Modelle zur Fehlererkennung Abweichungen und schlagen Anpassungen vor. In der Optimierungsebene lernt die KI aus historischen Daten und Echtzeitwerten, um die ideale Fahrweise der Anlage kontinuierlich zu verbessern. Ein Beispiel verdeutlicht die Funktionsweise: Die KI erkennt, dass eine Charge bei leicht erhöhter Temperatur schneller reagiert, ohne dass die Produktqualität leidet. Das System passt die Temperatur für zukünftige Chargen an, um Zeit und Energie zu sparen. Gleichzeitig stellt die KI sicher, dass keine Nebenreaktionen auftreten und die Materialbelastung im optimalen Bereich bleibt. Früher wurden solche Optimierungen manuell durch Versuche und Analysen durchgeführt – heute geschieht dies vollautomatisch und in Echtzeit.
Die autonome Steuerung endet nicht mit der Produktion. Die Anlage ist mit anderen Unternehmensprozessen vernetzt, so dass sich die Produktion dynamisch an Nachfrage, Kapazitäten und Materialverfügbarkeit anpassen kann. So kann die KI Produktionsaufträge optimieren, indem sie beispielsweise Engpässe frühzeitig erkennt und alternative Zeitpläne vorschlägt. Auch die Qualitätssicherung ist vollständig in das System integriert: Jede Charge wird lückenlos dokumentiert, Abweichungen werden automatisch analysiert.
Mehr Effizienz, weniger Energie - die Vorteile der autonomen Anlage
Die Ergebnisse sprechen für sich. Die KI-gesteuerte Produktionslinie läuft nicht nur stabil, sie produziert auch effizienter als je zuvor. Die Produktionsausbeute konnte gesteigert, der Energieverbrauch gesenkt und die Fehlerquote drastisch reduziert werden. Störungen, die früher zu ungeplanten Stillständen führten, werden heute in Echtzeit erkannt und automatisch behoben.
Der Nutzen geht aber weit über die reine Produktionsoptimierung hinaus. Der Fachkräftemangel in der Industrie ist längst Realität - erfahrene Anlagenfahrer sind immer schwerer zu finden. Mit KI will Covestro sicherstellen, dass Know-how erhalten bleibt und Produktionsprozesse auch dann stabil laufen, wenn weniger Personal zur Verfügung steht. Markus Dugal, Leiter Process Technology bei Covestro, sieht darin eine der größten Chancen: „Wir sehen KI nicht als Ersatz für den Menschen, sondern als Unterstützung. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen sich auf komplexere, wertschöpfende Tätigkeiten konzentrieren können, während die KI Routineaufgaben übernimmt. Das ist der Weg in eine neue Ära der Produktionseffizienz.
Von Dormagen in die Welt
Der Erfolg der autonomen Produktionslinie in Dormagen ist für Covestro erst der Anfang. In Leverkusen wird derzeit eine Isocyanatanlage digitalisiert, langfristig soll das Konzept auf weitere Standorte ausgeweitet werden. Die Vision ist klar: eine Chemieproduktion, die sich komplett selbst steuert. Kein ständiges Nachjustieren, kein reaktives Eingreifen mehr - stattdessen eine KI, die kontinuierlich lernt, Prozesse optimiert und in Echtzeit auf Veränderungen reagiert.
Covestro denkt aber noch weiter. Perspektivisch sollen nicht nur einzelne Produktionslinien, sondern ganze Wertschöpfungsketten autonom arbeiten. Vom Rohstoffeinkauf über die Produktion bis hin zur Logistik könnte KI Prozesse steuern, Engpässe vorhersagen und Lieferketten optimieren. „Wir haben den Beweis erbracht, dass es funktioniert. Jetzt geht es darum, das Modell zu skalieren und weiterzuentwickeln“, sagt Pegel.