Zwei Hände halten viele Stapel mit Jetons, die mit H2 bedruckt sind

(Bild: KI-generiert mit OpenAI)

Jorgo Chatzimarkakis, CEO von Hydrogen Europe
„Europäische Unternehmen, die im chemischen Anlagenbau und in der chemischen Produktion tätig sind, werden wieder massiv Arbeitsplätze aufbauen.“ Jorgo Chatzimarkakis, CEO von Hydrogen Europe (Bild: Hydrogen Europe)

CT: Die öffentliche Wahrnehmung ist derzeit eher von Ernüchterung geprägt – viele sprechen von einer Stagnation im Wasserstoffsektor. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?
Jorgo Chatzimarkakis: Das ist eine Frage der Perspektive. Ich bin jetzt seit fast zehn Jahren in dieser Position und kann mich noch gut daran erinnern, wie klein dieser Sektor damals war. Der Krieg in der Ukraine hat dem Wasserstoff eine strategische Bedeutung verliehen, die wir so nicht erwartet hatten. In gewisser Weise entstand ein Hype, der die realen Umsetzungsmöglichkeiten überstieg. Aber wenn ich heute zurückschaue, bin ich zufrieden. Wir haben eine Branche aufgebaut, die es vorher praktisch nicht gab. Unser Verband hat heute über 600 Mitglieder, und konkrete Großprojekte wie in Ludwigshafen, Leuna und in den Niederlanden sind in der Umsetzungsphase. Und wir haben mit „Fit for 55“ ein großes Regelwerk. Darin liegt aber auch ein großes Problem: Es gibt viele Standards, die einen Markt, der noch gar nicht existiert, zu Tode zu regulieren drohen. Dennoch: Das Fundament ist gelegt, jetzt kommt es darauf an, es zu nutzen.

CT: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hebel, um den Durchbruch in Europa auszulösen?
Chatzimarkakis: Zwei Punkte werden – ich sage bewusst „werden“ und nicht „können“ – den entscheidenden Impuls geben. Erstens: klare Definitionen. Es kann nicht sein, dass wir über zwei Jahre auf eine Definition von „Low Carbon Hydrogen“ warten mussten. Für eine Industrie, die Investitionssicherheit braucht, ist das eine Katastrophe. Ähnliches gilt für „Green Hydrogen“. Die daraus resultierende Definition hat den Preis für grünen Wasserstoff faktisch verfünffacht. Das ist nicht nur volkswirtschaftlich kontraproduktiv, sondern setzt auch unsere Wettbewerbsfähigkeit massiv unter Druck. Wir erleben hier eine Diskrepanz zwischen politischem Willen und administrativer Umsetzung – der sogenannte „Maschinenraum“ der EU-Kommission agiert oft gegen die politischen Vorgaben. Diese strukturelle Dysfunktionalität ist ein ernsthaftes Problem.

CT-Fokusthema Wasserstoff

(Bild: Corona Borealis – stock.adobe.com)

In unserem Fokusthema informieren wir Sie zu allen Aspekten rund um das Trendthema Wasserstoff.

 

  • Einen Überblick über die ausgewählten Artikel zu einzelnen Fragestellungen – von der Herstellung über den Transport bis zum Einsatz von Wasserstoff – finden Sie hier.
  • Einen ersten Startpunkt ins Thema bildet unser Grundlagenartikel.

CT: Und der zweite Hebel?
Chatzimarkakis: Das sind die Leitmärkte – oder wie es im Englischen schöner heißt: regulatory sandboxes. Wir brauchen geschützte Räume, in denen innerhalb eines klar definierten regulatorischen Rahmens investiert, produziert und konsumiert werden kann. Das schafft Vertrauen und reduziert Risiken. Prädestinierte Kandidaten wären die Stahl- oder Düngemittelindustrie, aber auch Rechenzentren, die dringend saubere Energie brauchen. Wichtig ist, dass diese Leitmärkte von der Kommission initiiert werden, mit klaren Abnahmemodellen – etwa durch Ausschreibungen oder über die gemeinsame Agrarpolitik.

CT: Sehen Sie Zeichen in diese Richtung? Seit Ende 2024 ist ja die neue EU-Kommission im Amt.
Chatzimarkakis: Ganz klar. Die Kommission hat viele Verfahren auf den Prüfstand gestellt und erste Erleichterungen durch sogenannte Omnibusverfahren angekündigt. Aus dem europäischen Green Deal wird ein Clean Industrial Deal. Neu ist auch der systematische Blick auf den gesamten Lebenszyklus – Stichwort LCA. Damit gewinnen wir Transparenz zurück, aber auch Technologieoffenheit: Zum Beispiel, dass man jetzt bereit ist, auch Ansätze mit sauberen Molekülen anzuerkennen, was für die Chemie wichtig ist. Das zeigt: Die Richtung stimmt, aber der „Maschinenraum“ – also die Verwaltung unterhalb der Kommissare – muss endlich mitziehen.

CT: Auch in Berlin gibt es eine neue Führung. Welche Rolle wird Wasserstoff unter einer möglichen schwarz-roten Bundesregierung spielen?
Chatzimarkakis: Da bin ich optimistisch. Die CDU steht für Technologieoffenheit, die SPD für Arbeitsplatzsicherung. In beiden Fällen führt der Weg unweigerlich zum Wasserstoff – ob in der Stahlindustrie, im Maschinenbau, in der Chemie oder in der Automobilindustrie. Wenn wir unsere Klimaziele mit industrieller Substanz erreichen wollen, dann brauchen wir Wasserstoff, und zwar in allen Farben. Ich habe das Kapitel Wasserstoff im Zwischenbericht der Koalitionsverhandlungen gesehen: keine Widersprüche, keine eckigen Klammern. Das ist ein gutes Zeichen.

CT: Im Wahlkampf hatte sich Friedrich Merz noch kritisch zu Wasserstoffstahl geäußert ...
Chatzimarkakis: Ja, das war ein kurzer Ausrutscher. Der Gegenwind war so stark, dass er sich binnen 24 Stunden wieder eingefangen hat. Ich glaube, das war ein gutes und wichtiges Zeichen. Es zeigt: Wasserstoff ist in Deutschland kein ideologisches Thema, sondern in der Realität und in der Praxis angekommen – über alle Parteigrenzen hinweg.

CT: Wird die Wasserstoffwirtschaft auch vom angekündigten Investitionspaket profitieren?
Chatzimarkakis: Auf jeden Fall. Wasserstoff ist zum Beispiel in vielen verteidigungsrelevanten Bereichen längst Realität – bei
U-Booten, in der Raumfahrt, bei synthetischen Treibstoffen. Wir müssen Wasserstoff strategisch als Resilienzfaktor begreifen. Das gilt auch für die Infrastruktur. Wenn ich zum Beispiel Schienen erneuere, warum nehme ich dafür chinesischen Stahl? Da müsste man eigentlich in den Ausschreibungsbedingungen ganz klar festlegen, dass nur sauberer Stahl mit der Dekarbonisierungsrate XY genommen werden darf. Da muss dann nicht mehr überall explizit „Wasserstoff“ draufstehen – Wasserstoff ist in vielen Projekten implizit drin.

CT: In den USA erleben dagegen fossile Energien gerade eine Renaissance. Was bedeutet das für Europa?
Chatzimarkakis: Es zwingt uns dazu, den europäischen Binnenmarkt endlich ernst zu nehmen. Wenn die USA ideologisch zurückfallen, können wir Spitzenforscherinnen und -forscher abwerben – ein entsprechendes Programm ist in Vorbereitung. Und wir müssen unsere Stärken ausspielen: Europa hat viele Patente in der Wind- und Wasserstofftechnologie. Jetzt ist kluge Industriepolitik gefragt. Ein Beispiel: Statt Milliarden an Tesla mittels Superkredite zu zahlen, sollten wir das Geld in Autobauer investieren, die in Europa Fahrzeuge mit sauberem Stahl und sauberen Molekülen aus dem EU-Leitmarkt für Stahl herstellen.

CT: Daran arbeitet aber auch China mit Milliarden­investitionen in Wasserstoff. Droht Europa – wie bei Solarzellen oder der E-Mobilität – wieder die Technologieführerschaft zu verlieren?
Chatzimarkakis: Die Gefahr ist real. Wir haben es beim Elektroauto erlebt: Wir finanzieren den Hochlauf – etwa über Flottenregeln – und die chinesischen Hersteller profitieren. Beim Wasserstoff haben wir noch die Chance gegenzusteuern. Aber es ist fünf vor zwölf. Jetzt muss investiert werden, nicht erst in zehn Jahren. Der Wasserstoff darf nicht auch noch „ausverkauft“ werden. Er ist geostrategisch und industriepolitisch unsere letzte Chance, sonst müssten wir uns völlig neu erfinden. Das sage ich nicht nur als Industrievertreter, sondern auch als Vater von vier Töchtern. Es geht um die Zukunft unserer Industrie und um die Zukunft unserer Kinder.

CT: Gibt es konkrete Projekte, die Ihnen da Hoffnung machen?
Chatzimarkakis: Mein Lieblingsprojekt ist die in Karlsruhe entwickelte Plasmapyrolyse, die ich kürzlich bei einem Besuch der Firma Indeloop in Zagreb gesehen habe. Dort wird aus Plastikmüll oder biogenen Abfällen Wasserstoff und fester Kohlenstoff gewonnen. Der Kohlenstoff kann für Graphen oder für Grafit als Rohstoff für Batterien verwendet werden. Das ist Kreislaufwirtschaft im besten Sinne des Wortes. Der zuständige EU-Kommissar war auch da und absolut begeistert. Leider erkennt die EU-Taxonomie den dort erzeugten Wasserstoff nicht als nachhaltig an – ein Paradebeispiel für Fehlsteuerung im Maschinenraum. Aber wir arbeiten daran, das zu ändern.

CT: Geben Sie uns zum Abschluss ein Bild mit auf den Weg: Wie wird die europäische Wasserstoffwirtschaft im Jahr 2035 aus­sehen?
Chatzimarkakis: Wir werden ein funktionierendes Kernnetz mit Pipelines aus Nordafrika und Südeuropa sehen, ergänzt durch Korridore über den Balkan. Großprojekte wie in Leuna oder Salzgitter werden Realität.
Wir werden wieder Düngemittel und andere Chemikalien in Europa produzieren, Ammoniak wird ein geostrategisch wichtiger Faktor wie heute Erdgas. Hier werden wir uns stärker mit Partnerländern wie Indien, Ägypten oder Saudi-Arabien vernetzen. Im Mobilitätssektor werden Regionen wie Baden-Württemberg, die Lombardei oder Katalonien zeigen, wie man Lkw auf Wasserstoff umstellt – mit Brennstoffzellen, Flüssigwasserstoff oder H2-Verbrennung. Auch im Luftverkehr wird Wasserstoff eine Rolle spielen, trotz der Skepsis einzelner Airlines.
Und wir werden sehen: Die Reindustrialisierung Europas ist möglich – wenn wir jetzt konsequent handeln. Dann werden wir sehen, dass europäische Unternehmen, die im chemischen Anlagenbau und in der chemischen Produktion tätig sind, massiv Arbeitsplätze aufbauen. Denn Haber-Bosch und Fischer-Tropsch werden in Europa und weltweit wieder eine große Rolle spielen. Für den Industriestandort Europa gilt: Wasserstoff ist kein Add-on. Er ist das neue Betriebssystem für eine klimaneutrale und wettbewerbsfähige Industrie.

Zur Person

Jorgo Chatzimarkakis, geboren 1966 in Duisburg, ist CEO des europäischen Wasserstoffverbandes Hydrogen Europe, welcher die Interessen der Wasserstoffindustrie sowie ihrer Akteure auf EU-Ebene vertritt. Ziel: Wasserstoff als wesentlicher Teil für eine C02-neutrale Zukunft etablieren.  Teil sind mehr als 600 Mitglieder mit über 25 EU-Regionen und mehr als 30 nationale Verbände. Damit deckt der Verband die gesamte Wertschöpfungskette des europäischen Wasserstoff-Ökosystems ab. Von 2004 bis 2014 war Chatzimarkakis saarländischer Europaabgeordneter und hier unter anderem im Industrie- und Energieausschuss tätig.

Sie möchten gerne weiterlesen?