Das geistige Eigentum ist in Wissenschaft und Wirtschaft praktisch das wichtigste Kapital. Insbesondere Unternehmen der Chemie investieren stark in die Forschung, um Innovationen zu entwickeln. Damit sich diese auch finanziell auszahlen, sind Patente unentbehrlich. Für praktisch jeden Bereich der Technik besteht eine Vielzahl von Patenten, die unterschiedliche Arten von Erfindungen schützen. In der Chemie gehören dazu neben spezialisierten Produkten auch neue Prozesse, Verfahren und Anwendungen. Ein Unternehmen muss deshalb vor der Einführung neuer Produkte, dem Anbieten bekannter Erzeugnisse für neue Anwendungen oder der Aufnahme eines neuen Verfahrens prüfen, ob seine Entwicklungen in den Schutzbereich fremder Rechte fallen. Hat ein anderes Unternehmen genau diese vermeintliche Innovation bereits patentieren lassen, kann es bei Verletzung des Patentrechts teuer werden. Wichtig zu wissen: Eine Geschäftsführung, die ihrer Prüfpflicht nicht nachkommt, kann persönlich haftbar gemacht werden.
Gerade in der Chemie und Anlagentechnik werden Patente nicht nur für grundlegend neue Verfahren erteilt; die meisten Patente betreffen bloße Verbesserungen bestehender Verfahren, die durch Weiterentwicklung zum Beispiel effizienter oder umweltfreundlicher werden. Manchen Chemikern ist dabei nicht bewusst, dass bereits kleine Abänderungen lange ausgeübter Verfahren oder kleine Modifikationen bestehender Anlagen in den Schutzbereich fremder Rechte führen und von anderen patentiert sein können. Vergleichbares gilt für neue Verwendungen von an sich bekannten, bereits im Markt befindlichen Produkten. Auch kann der kombinierte Einsatz an sich bekannter Produkte Gegenstand eines fremden Patentrechts sein.
Risikomanagement wird wichtiger
Seitdem das Einheitliche Patentgericht (EPG) am 1. Juni 2023 seine Arbeit aufgenommen hat, muss sich die Chemiebranche auf eine Situation einstellen, in der Patente aggressiver durchgesetzt werden können. Um sich abzusichern und für den Markterfolg, ist es daher unverzichtbar, potenzielle patentrechtliche Risiken frühzeitig zu identifizieren.
Durch den Start des EPG haben sich die Zuständigkeiten innerhalb Europas verschoben. Das Einheitliche Patentgericht ermöglicht Unternehmen nun, ihre Patente in 17 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in nur einem Verfahren vor einem Gericht zentral durchzusetzen. Das EPG hat die ausschließliche Zuständigkeit für diese europäischen Patente mit einheitlicher Wirkung, auch Einheitspatente genannt, sowie für klassische europäische Patente, die nicht ausdrücklich von der Zuständigkeit des EPG ausgenommen wurden.
Das EPG bietet mit seinen Einheitspatenten einen breiten und einheitlichen Schutz, der für alle EPG-Mitgliedsstaaten gilt. Gleichzeitig kann aber auch jedes Unternehmen vor diesem neuen Gericht verklagt werden. Die Entscheidungen des Gerichts haben häufig größere Auswirkungen als die bisherigen Entscheidungen nationaler Gerichte. Damit besteht ein neues und zusätzliches Risiko, auf das Unternehmen mit ihrem Risikomanagement reagieren sollten.
Einstweilige Verfügungen vor dem EPG
Einstweilige Verfügungen sind seit langem für Klagende eine attraktive Möglichkeit des vorläufigen Rechtsschutzes, um mutmaßliche Verletzungshandlungen wie die oben beschriebenen bis zum Abschluss des Verfahrens vorläufig zu unterbinden. Das heißt, dass beispielsweise der Vertrieb vermeintlicher Neuentwicklungen sofort eingestellt werden muss, bis ein Urteil steht.
Vor dem 1. Juni 2023 waren Patentinhabende, die in Europa eine einstweilige Verfügung erwirken wollten, auf Einzelanträge vor nationalen Gerichten beschränkt. Die verschiedenen nationalen Gerichte haben in der Regel unterschiedliche Kriterien für den Erlass von einstweiligen Verfügungen angewandt. Daher war es in der Vergangenheit ein kostspieliges, planungsintensives und kompliziertes Unterfangen, mehrere einstweilige Verfügungen in verschiedenen Ländern zu erlangen.
Das EPG kann hingegen in den 17 europäischen Ländern vorläufige Rechtsbehelfe einschließlich einstweiliger Verfügungen gewähren. Gut für die Klagenden, die mit einem einzigen Antrag an das EPG ein wirkungsvolles und kostengünstiges Rechtsmittel zur Hand haben – riskant für die Beklagten, wenn sie nicht gut vorbereitet sind.
Im ersten Jahr seit seinem Bestehen wurde bereits eine Reihe von Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beim EPG eingereicht. Jüngste Entscheidungen regionaler Kammern des EPG zeigen, dass das System patentinhaber- beziehungsweise klägerfreundlich ist und die Kammern bereit sind, auch kurzfristig einstweilige Verfügungen zu erlassen.
10. Engineering Summit
Bereits zum zehnten Mal veranstalten die VDMA Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau und Hüthig Medien / CHEMIE TECHNIK den Engineering Summit. Vom 1. bis 2. Oktober 2024 treffen sich auf der branchenübergreifenden Kommunikationsplattform Führungskräfte aus allen Segmenten des Anlagenbaus sowie Betreiber und Zulieferer. Dort werden strategische Fragestellungen, Herausforderungen und Chancen des Anlagenbaus thematisiert. In diesem Jahr stehen die Aspekte Agilität in volatilen Zeiten, Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, Produktivität und Nachwuchsgewinnung auf dem Programm. Nähere Informationen und Tickets unter www.engineering-summit.de
Der Fall 10x Genomics gegen Nanostring
In der Lokalkammer des EPG in München wird derzeit der Rechtsstreit zwischen 10x Genomics und Nanostring ausgetragen. Dabei wurden zwei Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung für verschiedene europäische Patente derselben Patentfamilie gestellt. Diese beziehen sich auf Zusammensetzungen und Verfahren zum Nachweis von Analyten.
In einem Verfahren, das ein Teilpatent betraf, fand im September 2023 eine Anhörung statt. Nur zwei Wochen danach wurde die Entscheidung erlassen. Mit der einstweiligen Verfügung hat das EPG gezeigt, dass es bereit ist, komplexe technische und rechtliche Fragen zügig zu prüfen. Das EPG folgt dabei nicht der bisherigen Praxis (einiger) deutscher Gerichte, nach deren Ansicht ein Patent bereits eine Anfechtung seiner Gültigkeit überstanden haben muss, bevor eine einstweilige Verfügung erlassen werden kann. Für das EPG besteht für europäische Patente schon ab ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit. Damit erhöht sich das Risiko einer einstweiligen Verfügung auch aus solchen Patenten, die noch kein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren durchlaufen haben.
Der zweite Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der sich auf das Stamm-Patent bezog, wurde vom Gericht nach einer ähnlich eingehenden Prüfung abgelehnt. Als das Gericht den Antrag ablehnte, äußerte es Bedenken hinsichtlich der Verletzung und der Gültigkeit des fraglichen Patents sowie der offensichtlich fehlenden Dringlichkeit des Antrags.
Mit Anordnung vom 26. Februar 2024 hat wiederum das Berufungsgericht des EPG in Luxemburg die Entscheidung und Anordnungen der Lokalkammer München in Bezug auf das Teilpatent aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen wurde zurückgewiesen. Anders als die Vorinstanz war das Berufungsgericht nicht von der Gültigkeit des Patents überzeugt.
Auch wenn das EPG bei seiner Prüfung eines Verfügungsantrags zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand des Patents ausgeht, lohnt es sich somit auch im Verfügungsverfahren, den Rechtsbestand des Verfügungspatents anzugreifen.
Patentrechtliche Situation rechtzeitig abklären
Unter den richtigen Umständen können einstweilige Maßnahmen einschließlich einstweiliger Verfügungen sehr schnell – sogar am selben Tag – und ohne Anhörungsrecht des Antragsgegners erwirkt werden. Das EPG ist in der Lage, sich innerhalb eines kurzen Zeitrahmens bei Verfahren im Zusammenhang mit einstweiligen Maßnahmen mit materiellrechtlichen und technischen Fragen einschließlich der Gültigkeit von Patenten zu befassen.
Eine frühzeitige Abklärung der patentrechtlichen Situation ist daher unumgänglich. Wer als Unternehmerin oder Unternehmer eine Abmahnung erhalten hat und auf diese nicht oder nicht ausreichend reagiert, riskiert den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Es ist für innovative Chemieunternehmen notwendig, störende Patente zu identifizieren und Argumente für eine Nichtverletzung des Patents frühzeitig zu sammeln. Im engen Zeitrahmen einer drohenden einstweiligen Verfügung ist für Gutachten oder umfangreiche Recherchen meist nicht genügend Zeit.
Außerdem sollten Unternehmen vorsorglich ein Expertenteam zusammenstellen, das spezialisierte Patent- und Rechtsanwälte umfasst. Auch wenn Patentanwälte die technische Expertise haben, sind sie nicht zwingend beim EPG zugelassen. Ebenso gibt es unter den Rechtsanwältinnen und -anwälten nur wenige Spezialisten, die neben der Erfahrung in Patentverletzungsverfahren bereits Expertise im Verfahren vor dem EPG gesammelt haben.
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