Neben der Produktion von Desinfektionsmitteln und der Entwicklung von Impfstoffen fahren die Pharmazeuten mit existierenden Arzneimitteln schwere Geschütze auf.
Der Erreger Sars-Cov-2, Auslöser der Lungenkrankheit Covid-19, hat sich rasend schnell verbreitet und auf der ganzen Welt für Ausnahmezustände gesorgt. Medikamente gegen die Krankheit sind noch nicht erprobt, ein Impfstoff gegen das Virus liegt in der Zukunft, und die Versorgung mit grundlegender medizinischer Ausrüstung wie Schutzmasken, Beatmungsgeräten und Desinfektionsmitteln ist vielerorts ausgereizt und überfordert.
Mehr Desinfektionsmittel und Gesichtsmasken
Zu den ersten Notfallmaßnahmen, an denen sich Pharmakonzerne beteiligt haben, gehörten darum vor allem Sachspenden, besonders knapp waren schnell Desinfektionsmittel und Gesichtsmasken. Insbesondere Unternehmen, die diese Materialien herstellen oder die Möglichkeit dazu haben, stellten sie in größerer Menge zur Verfügung: Namhafte Konzerne wie Bayer, BASF, Henkel und Beiersdorf haben Krankenhäuser insbesondere in ihrer Umgebung mit große Mengen an Desinfektionsmittel beliefert.
Auch Firmen, die bislang nicht in diesem Bereich aktiv waren, stellen teilweise ihre Produktion um oder liefern Rohstoffe. So nutzt der Chemiekonzern Wacker den Alkohol Isopropanol – ein zentraler Bestandteil von Desinfektionsmitteln und verantwortlich für den “Krankenhausgeruch” – am Standort Nünchritz normalerweise zu Reinigungszwecken. 11.000 Liter dieses Ausgangsstoffes hat der Konzern zur Verfügung gestellt, um in Zusammenarbeit mit dem Spezialchemie-Hersteller Clariant an dessen Standort im Bayerischen Chemiedreieck Desinfektionsmittel zu mischen und abzufüllen. Clariant selbst steuerte zu diesem Zweck 40.000 Liter Bioethanol bei.
Corona-Krise in der deutschen Industrie in Bildern:
Um solche Anstrengungen zu koordinieren, hat der Verband der Chemischen Industrie in Deutschland die Plattform „Notversorgung Desinfektionsmittel“ eingerichtet: Sie soll bestehende Lieferketten unterstützen, Kontakte zwischen den Akteuren erleichtern und als zentrale Anlaufstelle für Informationen dienen. Produktion, Abfüllung, Konfektion und Verteilung fertiger Desinfektionsmittel oder einzelner Rohstoffkomponenten durch die Unternehmen sollen sich damit leichter aufeinander abstimmen lassen. Eine Qualitätssicherung soll zudem sicherstellen, dass die Desinfektionsmittel nur in die richtigen Hände kommen.
Schnelltests für Covid-19-Diagnose
Ebenfalls knapp sind Tests und Testeinrichtungen, um eine Infektion mit dem Virus nachzuweisen. Nicht jeder Infizierte zeigt Symptome, und nicht immer gehen die typischen Symptome auf Sars-Cov-2 zurück. Darum ist es wichtig, infizierte Patienten erkennen und behandeln zu können, und außerdem Infektionsketten nachzuvollziehen.
Zu diesem Zweck hat Bayer mehr als 40 Geräte zur Virusdiagnostik aus seiner eigenen Forschungsabteilung abgezogen und an Standorten in ganz Deutschland zur Verfügung gestellt, sowie zusätzliche Labore eingerichtet. Damit ist nach Aussagen des Unternehmens die Kapazität für diagnostische Tests um mehrere tausend Tests pro Tag gestiegen.
Da vor allem die Zeit eine Rolle spielt, haben mehrere Unternehmen ihre Aufmerksamkeit auf die Entwicklung von Schnelltests gelegt. Die Medizintechniksparte von Bosch will einen Test auf Basis der firmeneigenen Diagnostik-Plattform auf den Markt bringen, der eine Infektion mit Sars-Cov-2 innerhalb von zweieinhalb Stunden nachweisen kann. Ein von Roche entwickeltes Testsystem liefert Ergebnisse nach rund drei Stunden. Der Pharmakonzern Abbot hat einen Test angekündigt, der eine Infektion in nur fünf Minuten nachweisen soll.
Von Siemens Healthineers ist seit Anfang April ein molekulares Fast Track Diagnostics (FTD)-Testkit verfügbar, das bei der Diagnose einer Infektion durch das Sars-CoV-2-Virus unterstützt. Testkits werden bereits innerhalb der Europäischen Union für Forschungs-zwecke („Research Use Only“, RUO) ausgeliefert. Der Hersteller verfolgt zudem das Emergency Use Assessment and Listing (EUAL) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für den klinischen Einsatz und führt Ge-spräche mit der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) über die Freigabe des Tests unter Emergency Use Authorization (EUA). Während die kontrollierte Auslieferung des Assays für den Forschungseinsatz weitergeht, baut das Unternehmen gleichzeitig seine Produktionskapazitäten aus.
Gemeinsame Anstrengung für Medikamente
Während diese Sofortmaßnahmen in erster Linie Symptome bekämpfen und die Ausbreitung des Virus verlangsamen sollen, richten sich andere Anstrengungen gegen die Krankheit selbst: die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen. Der Faktor Zeit spielt dabei eine große Rolle, denn insbesondere die Erprobung und Zulassung von Wirk- und Impfstoffen dauert erfahrungsgemäß – aus gutem Grund – sehr lange. Jedes Medikament muss vor dem Einsatz gründlich in klinischen Studien auf Wirksamkeit und Verträglichkeit getestet werden, bevor Zulassungsbehörden wie die europäische EFSA und die US-amerikanische FDA es freigeben.
Angesichts der Dringlichkeit in der Corona-Krise wollen die Behörden diesen sonst zeitaufwendigen Prozess beschleunigen und vereinfachen. Genehmigungen für entsprechende Studien sowie Zulassungsanträge werden mit besonderer Priorität bevorzugt abgearbeitet. Auch das Antragsverfahren ist vereinfacht, so dass Firmen Eilanträge stellen und Details nachreichen können, anstatt einen vollständigen, in der Regel äußerst umfangreichen Antrag einreichen zu müssen. Bereits in diesem Stadium bahnen sich Kooperationen an: So hat beispielsweise der Pharmariese Pfizer angeboten, seine Erfahrungen im Zulassungsprozess mit anderen Firmen, insbesondere kleinen Unternehmen zu teilen. Forschungsmethoden will der Konzern außerdem auf “open source”-Basis zur Verfügung stellen.
Eine massive Kooperation stellt das Konsortium
Covid-19 Therapeutics Accelerator dar. In diesem Zusammenschluss von über 15 Firmen wollen die beteiligten Pharmakonzerne als Ausgangspunkt für umfassende Forschung ihre molekularen Bibliotheken an möglichen Wirkstoffen freigeben, um die Suche nach wirksamen Kandidaten für Medikamente zu beschleunigen. Zu den Teilnehmern gehören unter anderem die Branchengiganten Novartis, Pfizer, Sanofi, J&J, Merck, MSD und Boehringer Ingelheim. Initiiert haben die gemeinsamen Bestrebungen die Bill and Melinda Gates Foundation sowie Mastercard und Wellcome.
Schwere Geschütze auf Basis vorhandener Medikamente
Aufgrund der drängenden Zeitnot rückt neben der Neuentwicklung auch die Überprüfung von bekannten Medikamenten in den Fokus. Mehrere bei anderen
Viruserkrankungen etablierte Therapien kommen auch für die Behandlung von Covid-19 in Frage. Dabei fahren die Forscher und Entwickler teilweise schwere Geschütze auf. Zu den Kandidaten, die Sars-Cov-2 bekämpfen sollen, gehören auch Medikamente, die gegen Ebola und das Aidsvirus HIV entwickelt wurden. Hierzu gehört beispielsweise die Wirkstoffkombination Lopinavir/Ritonavir, die unter dem Handelsnamen Kaletra unter anderem als HIV-Medikament auf dem Markt ist. Der Pharmakonzern Mylan hat bereits angekündigt, auf seine exklusiven Vermarktungsrechte in den USA zu verzichten, falls sich dieses Medikament als wirksam gegen Covid-19 erweist. So soll der Weg für günstige Generika freigemacht und damit die generelle Versorgung unterstützt werden.
Ein anderer Hoffnungsträger ist das Malaria-Mittel Chloroquin und dessen Verwandter Hydroxychloroquin. Diese Medikamente sind eigentlich kaum noch in Gebrauch, in China gab es jedoch erste gute Erfahrungen zur Behandlung von Corona-Viren während der Sars-Epidemie 2003. Nach einer Anftrage der chinesischen Regierung fuhr Hersteller Bayer darum seine Produktion am letzten verbliebenen Produktionsstandort für Chloroquin in Pakistan wieder hoch. Für weitere Studien über die Wirksamkeit dieser Mittel stellte Novartis 20.000 Dosen Hydroxychloroquin zur Verfügung. 30 Millionen Tabletten des Medikaments spendet der Konzern außerdem an die USA, wo man derzeit besonders auf diesen Wirkstoff hofft.
Eine Milliarde für den Corona-Impfstoff
Neben der Forschung an Medikamenten für bereits Erkrankte läuft auch die Entwicklung einer langfristigen Lösung – einem Impfstoff – auf Hochtouren. Auch hierbei haben sich verschiedene Größen der Pharmaindus-trie zusammengetan, um ihre Kräfte zu bündeln. Unter anderem wollen Sanofi und das Biotech-Unternehmen Translate Bio zusammen einen Impfstoff auf RNA-Basis entwickeln. Bereits 2018 hatten die Firmen sich auf eine Zusammenarbeit bei diesem neuen Wirkmechanismus geeinigt, nun erhält das Projekt eine neue Dringlichkeit. Bis ein Impfstoff verfügbar ist, wird es jedoch noch Monate dauern. So hat beispielsweise Johnson&Johnson in Aussicht gestelllt, bis spätestens September 2020 mit klinischen Studien eines Kandidaten zu beginnen. Dafür will der Konzern bs zu eine Milliarde US-Dollar investieren.
Da bei Impfstoffen nicht nur Entwicklung und Zulassung Zeit kosten, sondern auch die Massenproduktion, spielen die Produktionskapazitäten eine wichtige Rolle. Selbst wenn sich ein Impfstoff als wirksam und sicher erwiesen hat, muss die Produktion auf geeigeten Anlagen und vor allem in ausreichender Menge möglich sein. Auch darauf bereiten sich die Firmen vor: Janssen hat angekündigt, einen Impfstoff auch schon während der Testphase in großen Mengen zu produzieren, um so früh wie möglich so viel wie möglich bereitstellen zu können. Das Risiko, nach negativen Studienergebnissen Massen eines nicht einsetzbaren Impfstoffkandidaten verwerfen zu müssen, nimmt der Konzern in Kauf. GSK will seine Produktionsanlagen für andere Impfstoffe vorübergehend auf die Herstellung eines Corona-Impfstoffes umwidmen, sobald dieser entwickelt ist.