Am 21. September 1921 hallt morgens um kurz nach halb acht ein gewaltiges Krachen über die Region um Ludwigshafen und Mannheim. Über dem Stickstoffwerk der Badischen Anilin- und Sodafabriken, der heutigen BASF, am Standort Oppau steigt eine Feuersäule in den Himmel. Die Explosion zerstört die Hälfte der benachbarten Ortschaft Oppau, rund 1.000 Häuser, und beschädigt die verbleibende Hälfte schwer. In Worms, 15 km nördlich, lässt die Explosion die Buntglas-Fenster des Doms zersplittern. Noch in Heidelberg, rund 25 km östlich, deckt die Druckwelle Häuser ab, drückt Scheiben ein und hebt eine Straßenbahn aus den Schienen. Menschen bis Frankfurt spüren die Erschütterung, noch bis Zürich kann man sie hören. Turmuhren in der Umgebung bleiben durch die Druckwelle um 7:32 Uhr stehen.
Dynamit und Ammoniumnitrat
Heute liegt der Ort Oppau gegenüber von Tor 12 des riesigen BASF-Werksgeländes Ludwigshafen. zum Zeitpunkt des Explosionsunglücks ist der Standort jedoch noch relativ jung: Das zur Stickstoff-Fixierung eingesetzte Haber-Bosch-Verfahren ist erst seit 1908 patentiert, der Bau des Werkes begann 1911. Ab 1913 produziert die BASF hier nicht nur Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff, sondern nutzt das Ammoniak zur Herstellung von Ammoniumsalzen – erst als Alternative zum begrenzten Chilesalpeter, während der Blockade im Ersten Weltkrieg dann auch als Sprengstoff. Nach dem Krieg liefert der Standort wieder Dünger, sogenannten Ammonsulfatsalpeter, ein Mischsalz aus Ammoniumsulfat und Ammoniumnitrat. Doch an der Stelle der Düngemittelproduktion, dem Werksgebäude Op 110, befidnet sich nach der Explosion ein Krater von 165 mal 95 Metern und bis zu 18 Metern Tiefe. Offizielle Zahlen nennen 559 Tote und fast 2.000 Verletzte, nach Opferzahlen bis heute die schwerste Katastrophe in der Geschichte der deutschen Chemieindustrie.
Die Ursache der Explosion klingt aus heutiger Sicht nahezu unglaublich: Ammonsulfatsalpeter fiel bei der Produktion stark verdichtet an, als eine kompakte, Gips-ähnliche Masse. Vor dem Transport mussten Arbeiter das Produkt darum mit Spitzhacken aufbrechen und geradezu abbauen, was auf dem beengten Raum im Gebäude schwer und umständlich war. Aus diesem Grund wurden die verdichteten Ammoniumsalze durch Sprengungen mit kleinen Dynamitladungen aufgelockert. Was zunächst irrsinnig klingt, war tatsächlich ein tausendfach etabliertes Verfahren. Ein Mischsalz mit einem Nitratanteil unter 60 % galt als nicht zündfähig, das in Oppau produzierte 50/50-Gemisch sollte demnach unbedenklich in der Handhabung sein. Mehr als 20.000 in der Vergangenheit erfolgreiche Sprengungen am Standort schienen das zu bestätigen.
Neues Verfahren führt zur Katastrophe
Allerdings hatte sich knapp ein Jahr zuvor das Produktionsverfahren geändert – ausgerechnet, um die Handhabung des Ammoniumsulfatnitrats zu vereinfachen. Anstatt das Salz kristallisieren zu lassen, wurde die Lösung nun fein versprüht und getrocknet. Im Gebäude Op 110, dem Ort der Explosion, war zwei Tage vor der Katastrophe eine Serie von Tests zu Ende gegangen, um das Verfahren zu verfeinern. Die auslösenden Sprengungen waren Teil der Arbeiten, rund 4.500 t Ammonsulfatsalpeter aus dem Gebäude abzutragen.
Das dort erhaltene Produkt war feiner, lockerer und vor allem trockener als mit dem vorherigen Kristallisationsverfahren. Unglücklicherweise sind eine kleinere Partikelgröße, geringere Dichte und weniger Restfeuchte auch alles Faktoren, die die Explosionsfähigkeit steigern. Außerdem besteht beim Sprühverfahren ein größeres Risiko, dass die Ammoniumsalze sich entmischen. Unbemerkt war es so vermutlich dazu gekommen, dass das gelagerte Düngemittel in einigen Bereichen einen wesentlich höheren Anteil an Ammoniumnitrat enthielten und stellenweise sogar fast reines Nitrat vorlag. Die Sprengung zur Lockerung ließ geschätzte 70 bis 80 t des Ammonsulfatsalpeter explodieren. Diese Explosion lockerte, verteilte und erhitzte zusätzliches Material, so dass wenige Sekunden später weitere rund 400 t detonierten. Die Explosion des Oppauer Stickstoffwerks ist damit auch ein bitteres Lehrstück für die Bedeutung reproduzierbarer Prozessbedingungen und die möglichen Auswirkungen geänderter Verfahrensschritte.
Carl Bosch, damals Vorstandsvorsitzender des BASF-Vorgängerunternehmens, stoppte die Produktion von Ammonsulfatsalpeter noch am Tag der Katastrophe. Zwar gelang der provisorische Wiederaufbau des zerstörten Werkes in nur elf Wochen, und schon Anfang Dezember nahm das Werk den Betrieb und die Herstellung anderer Chemikalien wieder auf. Doch bis das Unternehmen wieder Ammonsulfatsalpeter produzierte, dauerte es fast zwei Jahrzehnte. Erst 1940 ging ein neues Verfahren in Betrieb. Ammoniumnitrat ist auch hundert Jahre später noch eine der Chemikalien mit größtem Gefahrenpotential, wie verheerende Explosionen 2001 in Toulouse 2001, 2015 in Tianjin 2015 und 2020 in Beirut gezeigt haben.