Zwischen Tradition und Trends

Fünf Stellschrauben für die Zukunft der Chemiebranche

Hohe Energiepreise, Unterbrechungen der Lieferkette und stärkere Konkurrenz fordern die europäische Chemiebranche aktuell. Hier kommen fünf Prognosen, welche Entwicklungen die Industrie künftig prägen – von Automatisierung bis zur Kreislaufwirtschaft.

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Petroleum refinery park for green industry, Eco power sustainable energy, Environmental friendly
Petroleum refinery plant with green tree park for green industry, Eco power sustainable energy, Environmental friendly low carbon footprint.

  • Energiepreise zwingen Industrie zu Standortentscheidungen.
  • Veränderungen der Regularien und der Verbrauchernachfrage könnten zur besseren Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Chemiesektors beitragen.
  • Streben nach Kreislaufwirtschaft hängt auch von der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ab.

Die Entwicklung der Chemiebranche in den kommenden Monaten und Jahren vorherzusagen, fühlt sich in etwa so an, wie die Auswirkungen des Zusammenpralls zweier Welten prognostizieren zu wollen. Denn die geografischen Blöcke bewegen sich in fast allen Bereichen – von finanziellen Ergebnissen über Emissionen bis hin zu Regulierungen – in unterschiedliche Richtungen.

In den letzten drei Jahren sah sich die europäische Chemieindustrie mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, von Unterbrechungen der Lieferkette über höhere Arbeitskosten und Energiepreise bis hin zu stärkerer Konkurrenz aus China und schwacher Inlandsnachfrage. Das Jahr 2024 endete mit Adnocs 14,7-Mrd.-Euro-Deal zum Kauf des deutschen Chemiekonzerns Covestro – ein Deal, der weitere Versuche kapitalstarker Ölkonzerne einläuten könnte, die durch eine Investition in Petrochemie ihr Geschäft absichern wollen. Der Deal ist eine Erinnerung daran, dass europäische Firmen zunehmend das Ziel von Akquisitionen sein könnten – und nicht die Käufer.

Die Frage ist, ob sich dieser Trend fortsetzt oder ob sich das Blatt wendet und sich Investitionen in Technologien, Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft auszahlen. Hier kommen fünf Prognosen.

1. Hoffen auf Wettbewerbsfähigkeit durch Leistungssteigerung

Ein Hauptgrund für die Probleme der europäischen Chemiebranche sind die hohen Energiekosten. Im ersten Halbjahr 2024 waren die europäischen Erdgaspreise beispielsweise fast viermal höher als in den USA und verschafften Europa damit einen Wettbewerbsnachteil.

Die Situation bestand bereits vor der russischen Invasion in der Ukraine und lässt sich auf den Zwang der europäischen Länder zurückführen, Energie importieren zu müssen. Der Wettbewerbsnachteil hat sich jedoch seit 2022 verschärft, da US-Firmen auf reichlich vorhandenes Schiefergas zurückgreifen können, während sich EU-Firmen im Vergleich zum Vorkrisenniveau immer noch mit 70 % höheren Gaspreisen konfrontiert sehen. Besonders betroffen sind Sektoren mit hohem Energieverbrauch, wie die Petrochemie, die Düngemittelindustrie und die Polyurethanindustrie.

Dieser Trend zieht mehrere Konsequenzen nach sich. Große Konzerne werden eine Rationalisierung ihrer Anlagen anstreben, Werke in Europa schließen und Investitionen in andere Regionen umleiten. Europäische Standorte unterliegen einem höheren Leistungsdruck und setzen auf Automatisierung, Daten und digitale Technologien, um ihre Arbeits- und Energiekosten zu senken. Und schließlich wächst der Druck zur Energiewende, da Produzenten auf Elektrifizierung und die stärkere Nutzung erneuerbarer Energien drängen.

2. In intelligente, hochautomatisierte Werke investieren

Dieses Spannungsfeld zwingt Chemieunternehmen dazu, Wege zu finden, um Arbeitskosten zu senken, Ausfallzeiten zu reduzieren und zweistellige Produktivitätssteigerungen erzielen zu können. Die Einführung von drei Technologien nimmt deutlich zu: digitale Zwillinge, KI und vorausschauende Wartung.

Perstorp, ein schwedischer Hersteller von Spezialchemikalien, konnte durch das Einführen digitaler Zwillinge als Eckpfeiler des Informationsmanagements seine Anlagen zuverlässiger machen und deren Leistung verbessern. Damit reduziert der Hersteller ungeplante Ausfälle und erhöht die Betriebssicherheit.

Digitale Zwillinge sind auch Teil eines umfassenderen Trends, um Informationen zu zentralisieren. Zudem wächst das Vertrauen in KI, indem validierte Daten erfasst, konsolidiert und kontextualisiert werden. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zu digitalen Zwillingen ergab, dass acht von zehn Befragten der Meinung sind, dass KI die Relevanz von digitalen Zwillingen für eine Organisationen steigert.

Insgesamt wird das Einführen von KI in Zukunft deutlich zunehmen. In der Petrochemie geben beispielsweise 30 % der Beschäftigten an, dass sie KI bereits im Berufsalltag einsetzen. Besonders verbreitete Anwendungsbereiche sind die Automatisierung von Arbeitsabläufen und die Zusammenarbeit am Arbeitsplatz. 24 % der Fachkräfte berichten, dass ihr Unternehmen KI auch für Inspektionen und Sicherheitsverbesserungen einsetzt. Dadurch wird der Bedarf an physischen Feldeinsätzen reduziert und das Vertrauen in die Entscheidungsfindung gestärkt.

Mit diesen Fähigkeiten können Unternehmen ihre Arbeitskosten senken. Durch Remote-Steuerung und zentralisierte Kontrollräume können Fachkräfte bereits jetzt mehrere Standorte gleichzeitig überwachen und so dem Arbeitskräftemangel entgegenwirken. Darüber hinaus beschleunigen Partnerschaften mit Technologieunternehmen und Start-ups das Einführen neuer Lösungen.

3. Wechsel zu umweltfreundlichen Chemie-Initiativen

Könnten Veränderungen der regulatorischen Landschaft und der Verbrauchernachfrage dazu beitragen, dass der europäische Chemiesektor seine Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangt? Die EU betrachtet Nachhaltigkeitsbestrebungen seit langem mehr als potenziellen Treiber der Wettbewerbsfähigkeit statt als Hindernis.

Ein Beispiel für diesen Ansatz ist die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (Corporate Sustainability Reporting Directive, CSRD), deren Geltungsbereich sich am 1. Januar 2025 erweitert hat. Die Richtlinie verpflichtet Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden, detaillierte Daten über das Verwenden von Chemikalien, einschließlich besorgniserregender Stoffe (SoC) und besonders besorgniserregender Stoffe (SVHC), offenzulegen. Unternehmen müssen zudem über Abfälle und Emissionen sowie über ihre Bemühungen zum Reduzieren und Verzicht auf schädliche Substanzen Bericht erstatten. Diese Entwicklung wird das Einführen von Plattformen wie Enterprise-Asset-Management-Software (EAM) vorantreiben, die Unternehmen beim Messen von Emissionen und dem Verbessern des Energieverbrauchs unterstützen.

Es bleibt die Frage, ob die Regulierungsoffensive der EU ihre Wettbewerbsfähigkeit langfristig stärken oder Regionen wie dem Nahen Osten zugutekommen wird, die auf weniger strenge Vorschriften setzen. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint es unwahrscheinlich, dass andere Schlüsselmärkte dem Beispiel Europas folgen werden. Insbesondere die USA scheinen die staatliche Regulierung von Emissionen und Schadstoffen zu reduzieren, statt zu erhöhen. Allerdings könnte die globale mediale Aufmerksamkeit für Themen wie PFAS oder „Ewigkeits-Chemikalien“ einen verbrauchergetriebenen Vorstoß für strengere Vorschriften und Sanktionen auslösen.

Plastic raw material in granules against the background of Chemi
Der Trend zur Kreislaufwirtschaft stützt sich auf Durchbrüche im chemischen Recycling.

4. Kreislaufwirtschaft könnte Abfall in Gewinn verwandeln

Sicher könnten sich aktuelle Entwicklungen in anderen Schlüsselmärkten auf die Nachhaltigkeit der gesamten Branche auswirken, derzeitige Bestrebungen an Zirkularität scheinen davon jedoch unberührt zu bleiben. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass Konzerne wie Mercedes-Benz oder Technip Energies wegweisende Initiativen oder Meilensteine vorstellen, die Abfall in Energie umwandeln.

Der Trend zur Kreislaufwirtschaft stützt sich auf Durchbrüche im chemischen Recycling. So ermöglichen Technologien wie die Pyrolyse, hochwertige Rohstoffe aus Kunststoffabfällen zurückzugewinnen. Jüngste Fortschritte erlauben, eine größere Vielzahl von Abfällen und Rückständen zu nutzen, darunter nicht recycelbare und schwer zu verwertende Materialien wie Reifen, kontaminierte Kunststoffe oder gebrauchtes Speiseöl.

Verglichen mit anderen Strategien, die den ökologischen Fußabdruck der Industrie reduzieren sollen, liegt die Attraktivität der Kreislaufwirtschaft auf der Hand. Chemieproduzenten profitieren wirtschaftlich davon, indem sie beispielsweise weniger abhängig von fossilen Brennstoffen sind. Gleichzeitig sehen Regierungen darin eine potenziell kostengünstige Möglichkeit, heikle Umweltprobleme zu lösen, wie den Umgang mit nicht recycelbaren Agrar- und Lebensmittelabfällen.

Die Auswirkungen dieses Trends zeigen sich in verschiedenen Facetten. Viele Industrieunternehmen werden ihre Anlagen von braun auf grün umstellen – ein Trend, den kürzlich beispielsweise Shell in Moerdijk demonstriert hat. Regierungen fördern den Wandel durch Kennzeichnungssysteme, Subventionen und Vorschriften zusätzlich. Und schließlich werden Unternehmen versuchen, Nachhaltigkeit durch transparente „grüne Prämien“ zu monetarisieren sowie ihre Preisstrategien an den Erwartungen der Verbraucher und den regulatorischen Anforderungen auszurichten.

Two successful smiling business man walking through big warehous
Seit Jahren hat die Chemieindustrie Schwierigkeiten, jüngere Arbeitskräfte anzuziehen.

5. 20 % der Belegschaft gehen in den Ruhestand

Das Streben nach Kreislaufwirtschaft bietet zwar eine Vision für nachhaltiges Wachstum, ihr Erfolg hängt jedoch von der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ab, neue Prozesse umzusetzen und aufrechterhalten zu können – eine wachsende Sorge angesichts der demografischen Entwicklung.

Seit Jahren hat die Chemieindustrie Schwierigkeiten, jüngere Arbeitskräfte anzuziehen. In Deutschland beispielsweise sind über 35 % der Beschäftigten in der Chemieindustrie über 50 Jahre alt, und bis 2030 werden fast 30 % in den Ruhestand gehen. Die Lage ist selbst in relativ jungen Regionen und Fachgebieten besorgniserregend: Weltweit ist jeder fünfte Arbeitnehmende in der Petrochemie über 55 Jahre alt.

Die Branche steht deshalb vor einer doppelten Herausforderung. Sie muss sich zum einen mit der zunehmenden digitalen Qualifikationslücke auseinandersetzen, indem sie massiv in Weiterbildungs- und Umschulungsprogramme investiert. Bisher hat die Alterung der Branche zu einem verstärkten Wettbewerb um gefragte Profile geführt. 11 % der Arbeitnehmenden in der Petrochemie geben an, im vergangenen Jahr mehr als 20-mal wegen neuer Stellenangebote kontaktiert worden zu sein. Unternehmen, die in der Lage sind, diese Profile intern auszubauen, erarbeiten sich einen klaren Wettbewerbsvorteil. Gleichzeitig muss die Branche Tools wie Learning-Experience-Plattformen (LXP) und Verfahrensmanagement-Plattformen anpassen, um Wissen zu digitalisieren und die Lernkurve für Neueinsteiger zu verkürzen.

Der Trend zeichnet sich zwar schon seit Langem ab, doch die Branche steht nun zunehmend unter Druck. Dies könnte aber gleichzeitig ihre größte Chance für einen Wandel sein. Die Chemiebranche in Europa geht mit reichlich Material für eine Neuausrichtung in die Zukunft, sei es auf der Suche nach Effizienz, Nachhaltigkeit oder neuen Talenten.

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