Vor allem aufgrund der weggebrochenen Russland-Projekte musste die Branche bei Chemieanlagen einen Auftragsrückgang von zuvor über 7 auf nun 2,5 Mrd. Euro hinnehmen. Im Lagebericht wird dieser Rückgang darauf zurückgeführt, dass das Vorjahr mit einem Auftragseingang von 7,3 Mrd. Euro von pandemiebedingten Nachholeffekten bei Groß- und Megaprojekten, insbesondere aus Russland, geprägt gewesen sei. 2,5 Mrd. Euro seien dagegen das durchschnittliche Niveau der Jahre 2015 bis 2020. Die Bestellungen aus dem Ausland beliefen sich auf 2,3 Mrd. Euro, im Inland wurden mit 235 Mio. Euro mehr Aufträge gewonnen, als noch im Jahr 2021 (158 Mio. Euro).
In den letzten Monaten sehen die Unternehmen des deutschen Chemieanlagenbaus dem Lagebericht zufolge eine verstärkte Projekttätigkeit in Deutschland und Großbritannien bei LNG-Projekten und der Planung und Errichtung von Elektrolyseuren zur Herstellung von grünem Wasserstoff. Zudem erwartet die Branche einen deutlichen Anstieg des Bedarfs an Spezialgasen für die Produktion von Halbleitern.
USA und Mittlerer Osten bieten Chancen
Wenig verwundern dürfte, dass der Großanlagenbau insgesamt sein ehemals starkes Russland-Geschäft auf absehbare Zeit komplett abgeschrieben hat. Dagegen setzt die Branche verstärkt auf den Nahen und Mittleren Osten – trifft dort allerdings auf eine starke Konkurrenz durch asiatische Anlagenbauer. Durch den amerikanischen Inflation Reduction Act erwartet der Chemieanlagenbau in den kommenden Jahren in den USA eine Vielzahl an Großprojekten. Bereits 2022 hätte sich in den Auftragszahlen der Mitgliedsunternehmen gezeigt, dass sich der Chemieanlagenbau-Markt in Richtung USA, den Mittleren Osten und nach Ostasien verschiebt. In Nordamerika konnte die Branche ihre Aufträge gegenüber 2021 mehr als verdoppeln. Spannend ist darunter ein Auftrag für eine World-Scale-Anlage zur Herstellung von blauem Ammoniak in den USA.
Generell plädiert die Branche dafür, die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid (Carbon Capturing and Storage, CCS) als Brückentechnologie zu nutzen, bis genügend Wind- und Solarstrom zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Dekarbonisierung der Chemie und generell der Wirtschaft zur Verfügung steht. Kommerzielle Risiken, die beim Bau von Prototypen auf Basis neuer Verfahren, beispielsweise für die Wasserstoffwirtschaft, vorhanden sind, stellen eine Hürde für Investitionsentscheidungen dar. Deshalb plädiert der Verband für staatliche Garantien und eine zeitlich begrenzte Anschubfinanzierung solcher Projekte.
Kurzfristige Herausforderungen, langfristige Chancen
Insgesamt vermutet die Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau vor dem Hintergrund einer sich weltweit abkühlenden Konjunktur sowie steigender Zinsen und neuer Kapitalmarktregeln wie der EU-Taxonomie oder ESG-Kriterien allerdings eine nachlassende Investitionsneigung und Projekttätigkeit. Positive Signale kommen dagegen von den Klimaschutz- und Konjunkturpaketen aus den USA und Europa.
Entspannung sieht die Branche bei den Preisen für Stahl, Aluminium und anderen Rohstoffen sowie den Frachtkosten. Allerdings erschwere die Knappheit bei Mikrochips, automatisierungstechnischen Komponenten sowie Kunststoffen und ein hoher Krankenstand in den Mitgliedsunternehmen das Geschäft. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Analyse der Lieferketten. Im neuen Lagebericht beschreibt der VDMA, dass zahlreiche Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau vermehrt zu Lieferanten aus Europa oder dem Inland wechseln, um die Resilienz ihrer Lieferketten zu steigern.
Auf mittlere bis lange Sicht rechnet der Verband jedoch mit einem positiven Umfeld für den Chemieanlagenbau: „Mit dem größten Investitionsprogramm, das die Welt je in so kurzer Zeit zu realisieren hatte, bieten sich den Mitgliedern der AGAB hervorragende Perspektiven am Weltmarkt“, so der VDMA. Dadurch steige die Verhandlungsmacht und würden Chemieanlagenbauer in die Lage versetzt, besonders unvorteilhafte Bedingungen in ihren Verträgen auszuschließen. „Eine Situation, wie es sie zuletzt im Boom der Jahre 2006 bis 2008 gab.“